Olga Neuwirth ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten Komponist*innen unserer Zeit. Das Musikfest Berlin widmet ihr in diesem Jahr einen Schwerpunkt. Musik von Olga Neuwirth haben das BBC Symphony Orchestra, aus London unter der Leitung von Sakari Oramo, das Ensemble Modern, das in großer Besetzung anreist und die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker mit Susanna Mälkki am Pult in ihren Konzertprogrammen. Dirk Wieschollek gibt in seinem Essay nicht nur einen Einblick in die Bandbreite ihres Schaffens, sondern beschreibt Olga Neuwirth auch als eine Künstlerin, für die ein kritisches Weltverständnis nicht losgelöst von ihrem kompositorischen Schaffen erscheint.

 

Olga Neuwirth © Harald Kaufmann

 

Seit mehr als 30 Jahren bewegt sich Olga Neuwirths Schaffen höchst produktiv jenseits gängiger Rezeptions-Schubladen. Sucht man den roten Faden im fast unüberschaubar vielfältigen Werk der österreichischen Komponistin, ist dieser nicht in stilistischen Kategorien zu finden, sondern in einer grundsätzlichen Haltung zur Kunstform Musik: Abenteuerlust und Unangepasstheit (auch an die „Neue Musik“) haben Neuwirth zu einer der eigenständigsten und aufregendsten Vertreter*innen zeitgenössischer Komposition gemacht, die lange vor aktuellen Diskursen über Diesseitigkeit, Konzeptualismus und Transmedia den Begriff von Komposition fundamental erweitert hat. Ihre Inspirationsquellen sind universal: Unterschiedlichste Phänomene aus Kunst, Literatur und Musik, Geistesgeschichte, Naturwissenschaft und Alltagswirklichkeit transformiert Olga Neuwirth in eine Poesie des Schrägen und Abgründigen, die stets um den Menschen und seine existentiellen Befindlichkeiten, Widersprüche und Rätsel kreist. Das Problem der Identität ist ein Kardinalthema der kosmopolitischen Künstlerin und der damit verbundene Schrecken in den Kollisionen von Individuum und Gesellschaft gleich mit. Dabei sprengt Neuwirth lustvoll geläufige Genre-Grenzen und so finden sich neben konventionell notierten Kompositionen auch Performances, Installationen, Radio- und Theatermusiken, Texte, Fotografien, gar Trickfilme in ihrer Werkliste. Heutzutage stellt die Einbeziehung visueller Ebenen ins kompositorische Metier eine weitestgehend akzeptierte Selbstverständlichkeit dar. Das war nicht immer so. Während eine junge Komponist*innengeneration inzwischen digital aus dem Vollen schöpfen kann, musste sich Neuwirth die Akzeptanz medialer Erweiterungen zu Beginn der 1990er Jahre noch hart erkämpfen, um ihre vielfältigen Klangarchitekturen zu erzeugen, die für das Paradox einer Freiheit ohne Fundament plädieren. Eine Welt der „Fluid Form“, einer „Fluid Identity“, bevor diese Schlagworte en vogue wurden. Besonders eindrucksvoll hat sich Neuwirths hybride Ästhetik, eine „Art-in-between“, von Beginn an ein vielschichtiges und mehrdimensionales Spiel mit Wirklichkeiten, in ihren großen Musiktheaterarbeiten niedergeschlagen: „Bählamms Fest“ (1993/1997 – 99) und „Lost Highway“ (2002/03) nach dem gleichnamigen Film von David Lynch stellten beeindruckende Zeugnisse eines zeitgenössischen Musiktheaters dar, das optisch und akustisch in die Vollen griff, ohne vordergründige Effekte zu bedienen.

Olga Neuwirths gesamtes musikalisches und soziopolitisches Denken richtet sich gegen jede Form von Eindeutigkeit und damit war sie nicht nur ästhetisch ihrer Zeit voraus und hat dies oft mit entsprechenden Seitenhieben des Betriebes bezahlt. Ihr politisches Engagement, das sich unter anderem in Reden wie „Ich lasse mich nicht wegjodeln“ aus dem Jahr 2000 widerspiegelt, und insbesondere in Genderfragen kämpferische Haltung, hat zu einigen spektakulären Zerwürfnissen geführt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit der Komponistin mit Elfriede Jelinek (die sie bereits als 16-Jährige kennenlernte) ist auch eine Geschichte dubioser Rückzüge prominenter Auftraggeber. Die Rolle einer Frau,die es wagt, in einer männerdominierten Kompositionsszene ihre Meinung zu äußern, beschäftigte Neuwirth zwangsläufig früh zu einer Zeit, die noch viel unverblümter als heute von geschlechtlich motivierten Ressentiments geprägt war: „Meine Geschichte des Komponierens ist auch die Geschichte der ständigen Infragestellung des Komponierens einer Frau.“ Auch künstlerisch haben sich diese Fragen regelmäßig im Werk niedergeschlagen, besonders prägnant in der kompositorischen Neuinterpretation von Alban Bergs Lulu: Neuwirths „American Lulu“ (2006/2011) verlegte Bergs Vorlage ins New Orleans der 1950er und New York der 1970er Jahre und verband die Themen von Rassen- und Frauendiskriminierung als „Re-Komposition“, die reichlich Blues und Jazz ins Spiel brachte.

Eine ganz besondere Rolle im interdisziplinären Oeuvre der Komponistin spielt seit jeher die Auseinandersetzung mit dem Medium Film. Dies betrifft nicht nur Partituren für Dokumentarfilme und Spielfilme zwischen Stummfilm und Horror-Movie („Ich seh, ich seh“ von Veronika Franz und Severin Fiala, 2014), sondern auch experimentelle Eigenproduktionen. Dass Neuwirth 1986 zunächst Malerei und Film in San Francisco studierte, bevor sie sich endgültig aufs Komponieren verlegte, ist bezeichnend. Vielfach wurden filmische Techniken wie Montage, Close-ups und Morphing auch ins Komponieren übertragen, ganz zu schweigen von der integralen Verwendung von Videos und komplexer Elektronik in unzähligen ihrer Werke. Das überschwängliche Zitieren von Versatzstücken kommt auch vom Film, nämlich vom Underground-Filmer Jack Smith, mit dessen Werk sich Neuwirth während ihrer Studienzeit in San Francisco beschäftigte. Das Banale und das Sublime durchdringen sich seither in ihrem Werk in ständigen Transformationen gegenseitig.

Olga Neuwirth gilt als Pionierin intermedialen Komponierens, dennoch bewegte sich ihre Musik immer wieder auch höchst fruchtbar im Spannungsfeld der Tradition, um in der Vermischung und Metamorphose unterschiedlichster musikalischer Wirklichkeiten neue, vielfältige Hörräume zu schaffen. Seit den frühen 1990er Jahren oft mit den Mitteln von 3D-Audio, das in ihrem als „akustische Denkmalpflege“ tituliertem Werk „Le Encantadas“ (2014/15) für 6 im Raum verteilte Ensembles und Elektronik kulminierte. Das Phänomen der Erinnerung im Medium musikalischer Vergangenheit ist ein zentrales Thema der Komponistin. Neuwirths hintergründiges Spiel mit vielfältigen Allusionen und Illusionen bereits existierender Musik steht auch im Blickpunkt derjenigen Werke, die das Ensemble Modern, das BBC Symphony Orchestra und die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker beim Musikfest Berlin präsentieren werden:„ locus…doublure…solus“ (2001) für Klavier und Ensemble wirbelt, angeregt von Raymond Roussels „Locus Solus“, in sieben Sätzen Idiome und Mechanismen abendländischer Klavierliteratur zu alptraumartiger Virtuosität durcheinander und konfrontiert den Solisten mit seinem mikrotonalen Pendant auf einem Sampler-Keyboard. Eine ganz persönliche Liebeserklärung an die Trompete und ihre Verheißungen (ursprünglich wollte Olga Neuwirth Jazztrompeterin werden) ist „…miramondo multiplo…“ (2006),
ein Konzert für Trompete und Orchester, das in fünf „Arien“ eine imaginäre Vergangenheit bereist. Im kaleidoskopartigen Labyrinth der echten und falschen Zitate gibt sich Miles Davis ebenso die Ehre wie Händel, Mahler und Strawinky. Johann Sebastian Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 4 ist der Dreh- und Angelpunkt von „Aello – ballet mécanomorphe“ (2017). Die Besetzung ist bemerkenswert: Flöte solo, zwei gedämpfte Trompeten, Streicher, Synthesizer und Schreibmaschine. Auf den mechanischen Aspekt Bach’scher Musik abhebend (Colette: „Manchmal klingt Bach wie eine göttliche Nähmaschine“), vernetzt Neuwirth die geschäftigen Schreibmaschinenrhythmen mit der ekstatischen Motorik der Instrumentalisten zu einem energetischen Barock-Dialog.

Mit Spannung erwartet wird die Uraufführung von Neuwirths neuem Musiktheater „ORLANDO“ an der Wiener Staatsoper (8. Dezember 2019). Virginia Woolfs exzeptioneller Roman, der sich mit schillernder Phantasie „gegen das Einzwängen in die Laufrichtung eines einzigen Geschlechtes“ (Neuwirth) wendet, ist eine literarische Steilvorlage für die Komponistin und es könnte ein Opus summum ihrer großen Themen und immensen Ausdrucksmöglichkeiten werden: „Von Kindheit an hat mich einfach alles interessiert, Kunst, Politik, Wissenschaft, die Psychologie des Menschen. Von der wunderbaren Vielfalt des Lebens, den kleinen und großen Dingen in der Welt lasse ich mich gleichermaßen inspirieren. Das spiegelt „ORLANDO“ wider: „Denn die Essenz dieser fiktiven Biografie ist die Liebe zum Seltsamen, Paradoxen, zur Groteske, zur Kunstfertigkeit, Überhöhung und Übertreibung, um eine neue Morphologie der Erzählung zu schaffen.

Folgende Kompositionen von Olga Neuwirth können Sie beim Musikfest Berlin hören: Am 4. September um 20:00 in der Philharmonie „locus…doublure…solus“ (2001) für Klavier und Ensemble  mit dem Ensemble Modern und Hermann Kretzschmar als Solisten; am 5. September um 20:00 in der Philharmonie „…miramondo multiplo…“ (2006) für Trompete und Orchester  durch das BBC Symphony Orchestra  unter der Leitung von Sakari Oramo mit dem Trompeter Hakan Hardenberger  und am 18. September um 20:00 im Kammermusiksaal „Aello – ballet mécanomorphe“ (2016/17)für Flöte solo, 2 gedämpfte Trompeten, Streicherensemble, Synthesizer und Schreibmaschine.

Vor dem Konzert am 4. September findet um 18:00 in der Volksbühne Berlin, im Roten Salon im Rahmen der Reihe Perspektivwechsel ein Gespräch zwischen Olga Neuwirth und dem Regisseur  Thorleifur Örn Arnarsson statt, präsentiert von field notes und Berliner Festspiele / Musikfest Berlin.