Vor über 250 Millionen Jahren, am Übergang vom Perm- zum Trias-Zeitalter, ereignete sich das größte Artensterben der Erdgeschichte, in dessen Verlauf bis zu 90 Prozent der Erdvegetation ausgelöscht wurde. Dieses verstörende Naturereignis und seine Folgen stehen im Zentrum von „The Happiest Thought“. In Ihrem Essay „Am Horizont des Möglichen“ schreibt Bettina Steinbrügge über die erste Fulldome-Arbeit der Künstlerin Agnieszka Polska, die im Rahmen von „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“ am 13. August im Planetarium Hamburg Weltpremiere feiert.

„Stilles bescheidenes Leben gibt mehr Glück als erfolgreiches Streben, verbunden mit beständiger Unruhe.“
Albert Einstein

Einsteins „Glückseligkeitstheorie“ vermittelt eine tiefe Wahrheit. Festgehalten wurde sie 1922 für einen Pagen des Imperial Hotels in Tokio auf dem hauseigenen Briefpapier. Einstein war unterwegs auf einer Vortragsreise und wusste erst seit kurzem, dass er den Nobelpreis gewonnen hatte. Da er kein Trinkgeld für den Pagen bei sich trug, schrieb er seine Lebensweisheit auf und merkte dazu an, dass das Schriftstück eines Tages mehr wert sein könnte als ein Trinkgeld. Den Zahltag gönnte sich nach Zeitungsberichten nun der Neffe des einstigen Pagen, dem die Notiz inzwischen gehörte.

Angesichts von Agnieszka Polskas neuestem Werk im Hamburger Planetarium erschließt sich uns der Sinn von Einsteins Worten nur umso deutlicher. Unter der Kuppel sitzend, erleben wir eine immersive, audiovisuelle Bewegtbildinstallation, die ein wenig erscheint, als hätten wir wahllos an einer Zeitmaschine gedreht. Wir landen im Erdaltertum, in der Periode des Perm. Die Landschaften sind wunderschön, die Farben verblüffend. Zunächst völlig eingenommen und mitgerissen von all der Schönheit, die sich da vor uns ausbreitet, gewöhnen wir uns erst allmählich an die berückende Stimmung dieser Landschaften. Wie eine Hypnose führt uns die immersive Umgebung von einer Landschaft zur nächsten. Dasselbe lässt sich in gewissem Maße von allen Planetarien sagen, die von je her Tore zur Unendlichkeit der Sternenhimmel waren, indem sie einen Raum für das entgrenzte, gemeinschaftlich eintauchende Erleben der unendlichen Sternenhimmel erzeugten. So entfaltet auch Agnieszka Polskas Video in der Kuppel ein Moment, das uns über die Grenzen unserer Wahrnehmung hinaus und zur Unendlichkeit treibt.

In „The Happiest Thought“ geht es ums Schauen und um Poesie. Aber können wir dessen, was wir hier sehen und erleben, auch gewiss sein? Ein dicht geknüpftes Netz von Verweisen hilft uns beim Versuch, aus dem Gebotenen schlau zu werden. Ich erwähnte das wahllose Drehen an der Zeitmaschine, das uns in einen anderen Zeit-Raum versetzt, und genau das ist es, was hier geschieht. Ob wir uns dabei im freien Fall oder in der Schwebe befinden, ist eine Frage der Sichtweise. Gegenstände, oder eher Werkzeuge, schweben unmittelbar neben uns, und wir wissen nicht, ob wir uns in einem Gravitationsfeld befinden oder in einem Raumschiff durchs Weltall fliegen. Der Körper wird schwerer und schwerer. In den Sitz gedrückt, entdecken wir neue Landschaften. Die Welt des Perm breitet sich vor uns aus – als die Erde noch ein einziger, von einem riesigen Meer umgebener Kontinent war. Wir sehen die Schönheit dieser Welt, aber vollkommene Schönheit und Entsetzen liegen hier ganz dicht beieinander. Das Massenaussterben am Ende des Perm aufgrund von Klimaveränderungen war das schlimmste derartige Ereignis in der gesamten Erdgeschichte. Der Wissenschaftsjournalist Peter Brennan fasst ein Gespräch darüber mit einem Paläontologen der West Virginia University folgendermaßen zusammen: „Wir wissen, dass sich damals eine Art Apokalypse abgespielt hat. Die Erde erlitt eine Katastrophe, die nahezu alles Leben auf dem Planeten abtötete. Herrliche Korallenriffe aus Überresten seltsamer paläozoischer Geschöpfe, die eine Gesellschaft von Tentakeln, Trilobiten und Technicolor-bunten Fischen beherbergte, verwandelten sich in Massen bakteriellen Schleims. Nahezu sauerstofflose, rasch übersäuernde Meere breiteten sich über den Schelfen aus und vernichteten fast alles Leben im Ozean. Die Wälder des Planeten verschwanden beinahe vollständig für beinahe 10 Millionen Jahre. Als die Vegetation auf der Erde zerstört war, mäanderten auch die Flüsse nicht mehr in schmalen Betten, sondern ergossen sich in breiten, wahllos ineinander und auseinander laufenden, schmutzigen Strömen. Sogar die Insekten erlitten ein Massenaussterben – ihr einziges derartiges Unglück in der Erdgeschichte.“[1] Wissenschaftler vermuten inzwischen, dass das Verbrennen fossiler Ablagerungen eine Hauptursache dafür war.

Die betörenden und wunderschönen Landschaften Polskas erweisen sich schlagartig als Fassade. Das Ökosystem der neuzeitlichen Gegenwart beruht auf einem übermäßigen Verbrauch fossiler Energie. Ebenso wie Kohlebrände das bisher größte Massenaussterben im Perm mit verursachten, könnte auch unsere heutige Verbrennung von Kohle, Öl und Gas zu Kohlenstoffdioxid das nächste Massenaussterben bewirken. Erneut befindet sich unser Planet an einem unsichtbaren Scheideweg, und uns fällt nichts Besseres ein, als uns über wärmere Sommer und mildere Winter zu freuen und zu hoffen, dass am Ende alles schon nicht so schlimm sein wird.

Doch das ist mit Sicherheit nicht das Ende der Geschichte. Noch fürchten wir uns nicht, weil wir von einem relativ warmen, flachen Meer umgeben sind, in dem es vor Leben wimmelt. Die Musik zu dieser Szene verbreitet ein Gefühl von Behaglichkeit, und der Körper ergibt sich ihr. Im Lied heißt es: „Komm, ich rufe deinen Namen. Ich rufe deinen Namen […]. Komm, sonst verirre ich mich noch auf dem Meer. Komm, ich rufe deinen Namen […].“ Dabei werden wir mitunter von einem Gefühl großer Leichtigkeit ergriffen, und schon in der folgenden Szene genießen wir die Schönheit, die uns einhüllt, umso mehr. Die Natur wird größer und größer. Es ist, als könnten wir darin umherwandern, Flüssigkeiten und Pflanzen, Libellen und Amphibien in Augenschein nehmen. All die Schönheit rundherum kann einem die eine oder andere Träne entlocken.

Als bildende Künstlerin nutzt Agnieszka Polska computergenerierte Bilder und digitale Medien, um über die Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft nachzudenken. Sie versucht, den ethischen Zwiespalt unserer Zeit in halluzinatorischen Filmen und Installationen darzulegen. Dieser Gesamteindruck von ihrem Werk bestätigt sich auch in „The Happiest Thought“ – einer Betrachtung der Unfähigkeit unserer politischen Welt, Lösungen für unsere größten Bedrohungen zu finden, die das Ende der Menschheit bedeuten könnten, und zugleich Erörterung von Möglichkeiten, die uns tatsächlich gegeben sind, mit ihnen fertigzuwerden. Polska folgt darin dem Denken von Franco „Bifo“ Berardi. Der italienische Philosoph ist überzeugt, dass die Politik aus strukturellen und systemischen Gründen in das Zeitalter ihrer Ohnmacht eingetreten ist. Wir sind gefangen zwischen Weltkrieg und Weltfinanz, Identität und Kapital, und allem Anschein nach unfähig, den erforderlichen radikalen Wandel herbeizuführen. Finden wir überhaupt noch einen Weg, unsere Vorstellung aus dem Griff der gegenwärtigen Weltordnung zu befreien? Berardi glaubt an einen Horizont des Möglichen, und Agnieszka Polska neigt dazu, ihm zuzustimmen.

In seinem Buch „Breathing“ begreift Berardi die Poesie als ein Hinausschießen über das Feld der abgezirkelten Bedeutungen und Vorgriff auf „eine künftige, dem gegenwärtigen Chaos eingeschriebene Harmonie.[2] Ebendiese Art von Poesie zeigt sich in Polskas Video als Assimilation an die Atmosphäre, in der wir uns aufhalten. Ist es Verletzlichkeit, die in Berardis Denken und Polskas Kunst zum Ausdruck kommt? Das große Rätsel bleibt, ob und wie die Menschheit ihre eigene Handlungsunfähigkeit infolge einer beharrlichen, auf historischer Unkenntnis gründenden Leugnungshaltung überwinden kann. Wie der Autor, Verleger und Redakteur Kevin Kelly sagt: „Wir machen uns romantische Vorstellungen von der Vergangenheit, die auf keinerlei Belegen gründen. Manche dieser rührenden Geschichtsbetrachtungen sind nicht ganz unwahr. Nur sind sie nicht mehr als ausgesuchte, rare, privilegierte Scheibchen von Geschichte, die die tatsächlichen Lebensumstände der meisten Menschen über die meiste Zeit an den meisten Orten dieser Geschichte nicht berücksichtigen, während eine ernsthafte welthistorische Forschung gerade letztere zutage fördern würde.“[3] Wir sind in einen Kreislauf von Verzweiflung und Chaos eingetreten, denn wir stehen vor dem Ende der Welt und Gesellschaft, wie wir sie bisher kannten. Nach Berardi hat das einen zunehmend chaotischen Atemrhythmus zur Folge und äußert sich in um sich greifenden Erstickungsgefühlen. Wie gehen wir mit dem Chaos um – da wir doch wissen, dass diejenigen, die gegen das Chaos kämpfen, unterliegen werden, weil sich das Chaos aus Kriegen nährt? Wie gehen wir mit dem Ersticken um? Erstaunlich ist, wie präzise Polska in ihren immersiven Bildern ein Geschehen erzeugt, an dem wir zugleich ersticken und Gefallen finden.

Das Bild zittert. Wellen kräuseln sich langsam über der Kuppel, lassen meditativ das immer Gleiche und doch stets Andere in einem Rhythmus erscheinen und verschwinden, der uns jede Furcht nimmt – in einem Bewusstseinsstrom, der an Albert Einsteins „Glückseligkeitstheorie“ ebenso erinnert wie an die Vorstellungen, im Fluss zu sein, weniger zu arbeiten, den rein imaginären, mit unseren alltäglichen Ansprüchen verstrickten Zwängen zu widerstehen. Polska entwickelt eine neue Sprache, die Paradoxa unserer Zeit vermitteln kann und uns klar macht, wie sehr wir in alles, was geschieht, verstrickt sind. Am Ende des Videos erscheint etwas, das zuerst wie ein Gesicht wirkt. Doch es ist ein negativer Raum, ein Loch in der Dämmerung. Er verweist zurück auf eine Grundfrage der Künstlerin: Was bedeutet ein Massenaussterben in einer Welt, in der wir alle sterben müssen?

[1] Peter Brennan, „Burning Fossil Fuels Almost Ended All Life on Earth – A Road Trip Through the Geological Ruins of our Planet’s Worst Mass Extinction“, in: The Atlantic, Online Edition, July 11th 2017, https:// www.theatlantic.com/ science/archive/2017/07/ a-road-trip-to-the-endof- the-world/532914/, aufgerufen am 16.6.19.
[2] Franco Berardi, „Breathing“, Semiotext(e) 26, New York 2019.
[3] Kevin Kelly, „Progress and the Randomized Time Machine“, https:// kk.org/thetechnium/ progress-and-the-randomized- time-machine/, aufgerufen am 16.6.19.

Mit neuen Arbeiten von Agnieszka Polska, Metahaven und Robert Lippok & Lucas Gutierrez sowie Live-Konzerten von Richard Reed Parry (Hamburg), Dasha Rush und Robert Lippok & Lucas Gutierrez (Berlin) geht die 2018 eröffnete Reihe „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“ in ihr zweites Jahr. Der neue Werkzyklus feiert am 13. August 2019 seine Weltpremiere in Kooperation mit dem Internationalen Sommerfestival Kampnagel im Planetarium Hamburg. Ab dem 5. September 2019 sind die neuen Arbeiten im Rahmen der Berlin Art Week im Mobile Dome auf dem Mariannenplatz in Berlin zu sehen.