Seit den Tagen der Theatertreffen-Festivalzeitung, die später zum Theatertreffen-Blog wurde, hat der Theaterkritiker, Kulturjournalist und Wissenschaftler Dirk Pilz die Journalismusförderung der Berliner Festspiele begleitet. Nun ist er verstorben. Ein Nachruf.

Dirk Pilz © Thomas Aurin

Andererseits. Mit diesem Wort beginnt eine der schönsten unter den zahllosen großartigen Theaterkritiken von Dirk Pilz. Geschrieben hat er sie vor fast genau zehn Jahren, im Dezember 2008, für nachtkritik.de, jenes längst meinungsbildende Theaterportal, das er damals gerade erst mitgegründet hatte. Andererseits. Ein seltsamer Anfang, dieser angekündigte Einwand auf einen noch gar nicht vorgetragenen Gedanken. Und Einwände sollten noch viele folgen in diesem Text, der Jürgen Goschs „Die Möwe“-Inszenierung am Deutschen Theater galt, einem Abend, den die meisten von Dirks Kolleg*innen bereits mit der Premiere zum Klassiker erklärten. Der letzte dieser Einwände, das letzte „Andererseits“, hat mich schon damals beim Lesen verstört, schien er sich doch geradewegs gegen den eigenen Text zu wenden. Denn Dirks Kritik endet mit einem abrupten Sturz ins Persönliche, einer fast brutalen Volte gegen den fein gewobenen Argumentationsfaden. Die letzten Sätze lauten: „Als dann zum Schlussapplaus Jürgen Gosch auf die Bühne kommt, huldigen ihm auch die Schauspieler. Wir alle wissen, dass er krank ist. Sterbenskrank. Vor dieser Tatsache sieht jede Kritik notwendig kleinkrämerisch, albern und herzlos aus. Denn sie rührt an den ureigensten Ängsten aller, auch meiner.“

Oft musste ich später an diesen Text und sein Ende denken, als ich drei Jahre lang, immer im Mai, mit Dirk und einer kleinen, jungen Runde talentierter Autor*innen im fensterlosen Kabuff hoch oben unter dem Dach des Haus der Berliner Festspiele saß. „Kritik bedeutet, sich begründet angreifbar zu machen“, hatte Dirk dann gerade einmal mehr gesagt, genauso, wie er es auch den vielen vorangegangenen Stipendiat*innen des Theatertreffen-Blogs und zuvor der Festivalzeitung eingeschärft haben musste. Sich angreifbar machen. Für Dirk hieß das, einen Gedanken luzide und selbstbewusst zu vertreten, immer im Bewusstsein darum, dass er potenziell relativ bliebe, dass es irgendwo da draußen eine Möglichkeit geben könnte, die Dinge aus ähnlich guten Gründen ganz anders zu sehen. Sein Misstrauen gegenüber den eigenen Vorurteilen und Geschmäcklereien, der eingehegten Bequemlichkeit saturierten Denkens, war grenzenlos. „Nicht ungedacht lassen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann“ – diesen Auftrag Friedrich Nietzsches zitierte Dirk oft. Gelegentlich, wie in jener Kritik über die „Möwe“, gehörte dazu auch, dass ein Einwand des Herzens die Stringenz des Gedachten durchkreuzen durfte. So wurden aus klugen Texten besondere.

Wer so denkt und fühlt, dem mussten die Eitelkeiten und Zynismen, zu denen der Journalismusbetrieb auch seine begabtesten Vertreter*innen fehlerzieht, zwangsläufig fremd bleiben. Nie hätte Dirk es nötig gehabt, seinen meist vieltausendseitigen Lesevorsprung mit einer Pose der Überlegenheit zu verbinden. Was zählte, waren das bessere Argument, die vielversprechendere Idee, die noch genauere Beobachtung. Es war auch diese, aller Arroganz entledigte Zugewandtheit, die seine vielen Schüler*innen, ob im Studiengang „Kulturjournalismus“ an der Berliner Universität der Künste oder während seiner Mentorate beim Theatertreffen-Blog, nachhaltig berührte. „Du kannst mich immer anrufen – ich kann nur nicht immer drangehen“, war einer dieser fast entschuldigenden Sätze, die mich – wir kannten uns noch kaum – in ihrer warmen Verbindlichkeit sofort einnahmen. Oft habe ich genau das getan, ihn in Arbeits- und Lebensdingen um Rat gefragt oder auch bloß angeregt, dass wir unbedingt mal wieder Mittagessen oder Fußballschauen sollten. „Man muss Vertrauen haben zu den Menschen, sonst kann man nicht leben“, heißt es in einem anderen Stück Tschechows. Dirk hat vertraut, obwohl er viel abverlangte, hat bestärkt, obwohl sein Urteil mitunter deutlich ausfallen konnte. Und das Vertrauen kam zu ihm zurück. Von vielen weiß ich, dass sie sich an ihn wandten, wenn es Schwierigkeiten gab. Nicht immer konnte Dirk Lösungen anbieten, aber doch stets Ideen, Vorschläge, Hinweise, wie es weitergehen, was man ausprobieren könnte. Sein Ohr war in den unterschiedlichsten Dingen unermesslich offen. Dass es nun für ihn nicht mehr weiterging, kein Andererseits das schreckliche Einerseits mehr anzweifeln konnte, macht sprachlos vor Trauer. Am Freitag, den 2. November, ist unser Mentor, Lehrer, Kollege und Freund Dirk Pilz, der seine Frau und zwei Kinder hinterlässt, mit 46 Jahren an den Folgen eines Krebsleidens verstorben. Unvergessen wird er allen bleiben, die das Glück hatten, von ihm begleitet worden zu sein.

Janis El-Bira ist Journalist, Autor und Theaterkritiker. Seit 2016 leitet er das Theatertreffen-Blog der Berliner Festspiele, bei dem er mit Dirk Pilz zusammenarbeitete.