Warum zieht es bis heute viele Jazzmusiker*innen aus aller Welt nach Berlin? Wir haben Jens Uthoff, der seit 2011 für die taz schreibt und sich sowohl im Kultur- als auch im Sportbereich auskennt, gebeten, sich im Umfeld des Jazzfest Berlin 2018 auf eine kleine Recherche zu begeben. Hier sind seine Eindrücke, die zugleich ein wunderbares Stimmungsbild des Jazzfest Berlin 2018 sind!

Halvorson/Saito/Allbee/Dahlgren im A-Trane beim Jazzfest Berlin 2018 © Adam Janisch

Es ist ein gutes halbes Jahr her, da traf ich mich mit der Trompeterin Liz Allbee in einem kleinen Neuköllner Café. Die US-Musikerin mit den blonden Stoppelhaaren und der punkigen Erscheinung hatte ihren Instrumentenkoffer dabei, sie war gerade von einem Auftritt im Ausland zurückgekehrt. Ich wollte mit ihr über die florierende experimentelle Musikszene Berlins sprechen. Denn überall schießen weiterhin Clubs aus dem Boden, improvisierte Musik ist en vogue wie lange nicht. Warum ist das so?

Liz Allbee versuchte den Hype um diese Szene – die jüngeren Jazz- und Improvclubs an der Spree hatten bereits internationale Aufmerksamkeit erlangt – einzuordnen. „Diese Renaissance findet in gewisser Weise schon seit vielen Jahren statt“, erklärte sie, „in der Szene verschieben und verändern sich zwar ständig Dinge, aber es ist kein ganz neues Phänomen.“

Vielleicht, so Allbee, sei sie aber auch die falsche Ansprechpartnerin, denn in den vergangenen sechs Monaten sei sie kaum in Berlin unterwegs gewesen. „Und nach einem halben Jahr Abwesenheit kenne ich schon die Hälfte der Clubs nicht mehr. Es eröffnen immer wieder neue Locations, was toll ist. Zugleich müssen andere schließen, weil Berlin immer teurer wird. Auf jeden Fall ist viel in Bewegung.“

Allbee schien mir mit dieser Beschreibung einen Punkt zu treffen. Denn die Szene für improvisierte Musik ist so wildwüchsig, beharrlich und unübersichtlich wie keine andere in Berlin – und das ist ungeheuer reizvoll, bedient Sehnsüchte. Für Musiker*innen wie für Zuhörer*innen.

WorldService Project im Quasimodo beim Jazzfest Berlin 2018 © Adam Janisch

An fast jedem Abend, an fast 365 Tagen, an Orten wie der Donau115 oder dem Spektrum in Neukölln, dem West Germany oder dem Arcanoa in Kreuzberg, dem ausland oder der Musikbrauerei in Prenzlauer Berg kann man zuhören und zusehen, wie etwas Neues entsteht, wie Menschen musikalisch zu einer gemeinsamen Sprache finden.

An einem Samstagabend Anfang November sitzt Liz Allbee dann auf der Bühne des A-Trane in Charlottenburg. Es ist der dritte Tag des Jazzfest Berlin 2018, im Club ist es schwül, fiebrig, er ist bis in den letzten Winkel gefüllt. Und draußen stehen die Leute immer noch Schlange. Allbee spielt gemeinsam mit US-Gitarristin Mary Halvorson, der diesjährigen Artist In Residence des Jazzfest Berlin, sowie zwei weiteren Berliner Musiker*innen. Begegnungen verschiedener Szenen ermöglichen: das diesjährige Jazzfest Berlin, das erste unter der Leitung von Nadin Deventer, hatte sich auch das auf die Fahnen geschrieben.

Mary Halvorsons Gitarre hallt nun im Raum nach, die Töne bleiben für einen Moment in der dunstigen Luft stehen. Die schmale, kleine Musikerin sitzt mit ihrem Oberkörper über den großen Korpus ihres Instruments gebeugt, jetzt drückt sie mit dem Fuß auf ihr Pedal, ein Distortion-Sound grätscht durch den Club. Kurz darauf Stille. Bis Liz Allbee ihr Instrument ansetzt. Mit Mund und Trompete erzeugt sie nun Geräusche, die man vom Beatboxen kennt. Es klackert, knackt und knurpst. Gebannt blickt das Publikum gen Bühne: Welche Richtung schlägt das Quartett als Nächstes ein?

Nubja Garcia im Prince Charles beim Jazzfest Berlin 2018 © Camille Blake

Das Spannende an improvisierter Musik war schon immer, dass sie in alle möglichen Richtungen driften konnte. Das ist nichts Neues. Was vielleicht neu ist im Berlin der Zehnerjahre: Dass die Szenen einander überlappen. Free Jazz, Noise, Klassik, Intelligent Dance Music, Postpunk, Metal – aus all diesen Genres wird man Elemente finden, wenn man sich ein paar Abende in den Clubs rumtreibt. Zugleich gibt es eine lose Kontinuität zu den Berliner Experimentierfeldern vergangener Dekaden. Zu den Zeiten des Zodiak Free Arts Lab von Conrad Schnitzler Ende der Sechziger, den Genialen Dilletanten (sic) der Achtziger, dem Jazz-Underground des Ostens, der Clubkultur der Neunziger. Ähnlich spontan, chaotisch und grenzenlos ist die neue Szene. Und wie die früheren Subkulturen ist sie nichtetabliert und nichtkommerziell.

Noch am gleichen Abend zu fortgeschrittener Stunde im Kreuzberger Club Prince Charles: Die britische Saxofonistin Nubya Garcia und US-Schlagzeuger Makaya McCraven stehen zum Abschluss des Konzerts unter anderem mit zwei in Berlin ansässigen Schweden auf der Bühne: Kontrabassist Frans Petter Eldh und Saxofonist Otis Sandsjö. Berlin trifft auf London trifft auf Chicago. „We just met and we‘re doing some shit together now”, kündigt Nubya Garcia den Auftritt in dieser bunt zusammengewürfelten Besetzung an. Hochkomplexe, vertrackte Rhythmen wummern kurz darauf aus den Boxen, das überwiegend junge und internationale Publikum drängt sich vor der Bühne. Bewegt sich im Groove, dicht an dicht.

KIM Collective im Haus der Berliner Festspiele beim Jazzfest Berlin 2018 © Camille Blake

Doing some shit together. Das geht in Berlin immer noch einfacher als in anderen Metropolen. Schlagzeuger Max Andrzejewski – auch er spielte beim Jazzfest Berlin – sagt über die aktuelle Berliner Szene: „Es gilt immer noch: Alles ist möglich.“ Aus diesem Grund kommen immer weiter spannende Improv-Musiker*innen an die Spree, in den vergangenen Jahren etwa Vibraphonistin Els Vandeweyer aus Belgien, Trompeter Brad Henkel aus New York oder die japanische Pianistin Rieko Okuda. Um einige wenige zu nennen.

Was dabei auffällt ist, dass die Szene weiblicher, jünger, diverser geworden ist. Und damit offener. „Ich bewundere die einladende Haltung und die Neugier der Künstler*innen und des Publikums“, sagt Liz Kosack vom KIM Collective, das beim Jazzfest Berlin 2018 eine Soundinstallation in der Unterbühne gestaltete, „das schafft Raum für neue Dinge. So kann etwas wirklich Großes entstehen.“ Die Voraussetzungen dafür, dass es wirklich groß wird, sind in Berlin aktuell besser denn je.

Jazzfest Berlin 2018 im Prince Charles © Camille Blake