Im Juli 1830 nahm Hector Berlioz seinen vierten Anlauf zum Rompreis. Zwei Wochen lang eingeschlossen im Institut de France am linken Ufer der Seine, erlebte er die Julirevolution aus nächster Nähe und doch von fern, während er die Kantate „Sardanapale“ komponierte. Er war mit dem Stück nicht zufrieden. Doch es verschaffte ihm endlich das Stipendium der Villa Medici in Rom. In Florenz sah Berlioz dann die Perseus-Statue jenes Bildhauers, auf deren Vollendung seine Oper „Benvenuto Cellini“ hinausläuft; in Italien lernte er auch die Autobiografie des Künstlers kennen, aus der er und seine Librettisten den (erst viel später in seiner Größe erkannten) Zweiakter schufen.

Hector Berlioz @ Bibliothèque Nationale, Paris

Am nächsten Vormittag ist die Innenstadt gespickt mit Hürden aus Wagen, Karren, Fässern, Pflastersteinen, verstärkt durch umgestürzte Omnibusse und gefällte Bäume. Das Institut de France, eine Festung der reaktionären Bourgeoisie, wird behördlicherseits verbarrikadiert. Um elf Uhr stürmen Studenten und Arbeiter über die neue Holzbrücke, die von der Île de la Cité zum Rathaus führt, allen voran ein junger Trikolorenträger, der ruft: „Wenn ich sterbe, heiße ich Arcole!“ Die Schweizergarden eröffnen das Feuer, Arcole fällt, die Menge drängt nach, die Söldner fliehen, das Rathaus wird kampflos erobert, man hisst die Trikolore anstelle des Lilienbanners. Zur selben Stunde verschanzen sich Premierminister Polignac und Marschall Marmont in den Tuilerien, von wo aus Marmont dem König schreibt: „Das ist kein Aufstand mehr, das ist eine Revolution. Votre Majesté müssen über Maßnahmen der Befriedung entscheiden. Noch kann die Ehre der Krone gerettet werden. Morgen wird dazu vielleicht keine Zeit mehr sein.“ Charles ruft den Belagerungszustand aus. Vier Militärkolonnen nähern sich in brütender Hitze den Brennpunkten. Die Barrikaden, die sie weggräumen, werden hinter ihnen sofort erneuert.

Ganz Paris, nicht nur le Tout-Paris, ist auf der Straße, auch Frauen und Kinder. Einem Leutnant des 6. Regiments, der sich weigert, auf sie feuern zu lassen, wird mit der Arretierung gedroht, woraufhin er sich mit der Pistole selbst in den Kopf schießt. Truppen, die Paris nicht kennen, verlaufen sich im Straßengewirr. Abends ordnet Marmont den Rückzug aus der Innenstadt an, die Munition wird knapp. Er hält nur noch den Korridor vom Louvre bis zur Étoile und lässt von den Dächern auf die Menge schießen. Sogar Kanonen werden eingesetzt, deren Dröhnen die Scheiben zittern lässt, ein Geschoss trifft die Fassade des Institut de France. Neben den Fenstern der Zelle, in der Berlioz seine Kantate zum Ende bringt, schlagen verirrte Gewehrkugeln ein. Er hört, wie Frauen schreien, wie in jeder Feuerpause die Schwalben wieder zu hören sind, die ihre Kreise ziehen. Was zum Teufel tut er hier? Was interessiert ihn das flammenumrauschte Ende des assyrischen Herrschers Sardanapal, das er komponieren soll? Ihn interessiert nur der Preis. Um ihn zu sichern, bleibt er am Tisch, umgeht alle Experimente, hält sich, inmitten der Revolution, die er hören, sehen, riechen kann, an die akademische Lehre. Am Donnerstag, 29. Mai, beendet Berlioz die Reinschrift, während am Seineufer gegenüber der Louvre gestürmt wird. Viele Zivilisten sterben. Aber nachdem gleich zwei Regimenter auf der nahen Place Vendôme die Seiten gewechselt haben, befiehlt Marmont den Rückzug. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, der geniale alte Diplomat, der seit der Revolution 1789 in jedem Regime einen Platz fand, sieht, wie gegen Mittag die Soldaten nach Westen abziehen, und erklärt nüchtern: „Um fünf Minuten nach zwölf hat die ältere Linie der Bourbonen aufgehört zu regieren.“ Weniger nüchtern reagieren viele Pariser. Der Weinkeller der Tuilerien wird geplündert, aus den Fenstern des erzbischöflichen Palasts werden Bücher und Möbel geschleudert, im Artilleriemuseum versorgen sich die Aufständischen mit historischen Requisiten – die Lanze von Franz I., der Helm des Gottfried von Bouillon schimmern in der Sonne eines Julitags.

Berlioz kommt sich lächerlich vor, als er seine Kantate im Institutsbüro abgegeben hat, um fünf Uhr nachmittags die Kunstfestung verlässt, deren Pforte von Schüssen durchsiebt ist, und feststellt, dass der Kampf vorüber ist, nach drei Tagen, die man die „Trois Glorieuses“ nennen wird, erhabener als das, was ihnen folgt. Auf dem Weg zu Maries Haus sieht er die Barrikaden, und tote Pferde, die den Verkehr blockieren, während Lastträger die Versorgung der Stadt übernehmen. Männer aus dem Volk haben überall die Wachsoldaten abgelöst. Man schafft die Leichen fort, die in der Hitze rasch zu verwesen beginnen. Fast 800 Pariser Bürger, Studenten, Angestellte, Handwerker, Arbeiter haben das Leben verloren, und 200 Soldaten. Überall flattert nun die Trikolore, Nationalfarben schmücken auch die Kutschen, die die Nachrichten – am Abend erscheinen wieder Zeitungen – in die Provinz bringen. Aber noch ist nichts entschieden, nichts sicher. Nachdem er weiß, dass Marie nichts geschehen ist, hofft er, es könne für ihn noch etwas zu tun geben in dieser Revolution, drei Stunden lang streift er herum. Er findet eine Pistole, besorgt sich Munition und Pulver von bewaffneten Passanten. Aber kein Schuss fällt mehr. Es bleibt dabei, die Revolution hat ohne ihn stattgefunden, und er hat sie durchs Fenster gehört, während er sein braves Stück komponierte, für das man ihm dann tatsächlich den Rompreis zuspricht, endlich. Später hat er die Noten verbrannt.

Textauszug aus dem Buch „Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts“ von Volker Hagedorn, erschienen am 19. Februar 2019. Kapitel 1, S. 62–64.
Mit freundlicher Genehmigung von Rowohlt Verlage Hamburg.

Am 14. April 2019 veranstaltet das Musikfest Berlin anlässlich seiner Programmveröffentlichung eine literarisch-musikalische Soirée in der Villa Elisabeth: Volker Hagedorn liest aus „Der Klang von Paris“, die Musikredakteurin Nike Keisinger führt ein Gespräch mit dem Autor und der Pianist Alexander Melnikov spielt auf einem Érard Flügel Musik von Chopin, Liszt und Halévy.

Zum Start des Musikfests Berlin am 31. August 2019 bringt das Orchestre Révolutionnaire et Romantique unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner „Benvenuto Cellini“, die erste Oper von Hector Berlioz,  halbszenisch zur Aufführung.