Liebe Priya,

wie schön, wieder einmal von Dir zu hören! Deine lesende Anwesenheit spüre ich ja immer wieder in meinen weitläufigen Korridoren. Kann hier und da hören, wie Dein eigenes Schreiben in meinen engen Kammern anhebt – ein Widerhall, ein Tönen, ein Ringen mit anderen. Besonders schmeichelhaft aber ist es, wenn Du Dich direkt an mich wendest. Dann bekomme ich eine Ahnung meiner eigenen Bedeutsamkeit.

Ich sollte das eigentlich gar nicht sagen, aber ich freue mich, dass aus Dir keine dieser Autorinnen geworden ist, die selbst nicht lesen. Ich erinnere mich noch an Deine Angst vor zu viel Einfluss anderer auf Dein eigenes Schreiben – bis Dir klar wurde, dass je mehr Du liest, Du andere weniger imitierst. Lesen und Schreiben sind die Doppelhelix der Literatur, die grundlegende DNA jedes bedeutenden, jedes wahrhaft einzigartigen Werks. (Manche glauben doch tatsächlich, der Weg zur Originalität führe über das Nichtlesen, weil sie dann „rein“ und „frei“ von Einfluss blieben! Das nenne ich echte Unbildung!)

Und doch beklagst Du, in letzter Zeit zu viel gelesen zu haben! Deine Inspiration sei in sich zusammengefallen, sagst Du, vor lauter Sorge, dass bereits alles geschrieben und gelesen sei. Du fragst Dich, was Du meiner unermesslichen und ständig wachsenden Überfülle hinzuzufügen haben könntest. Nun, der Gedanke ist Dir ja keineswegs neu – und dennoch hast Du immer weiter geschrieben. Alle Autor*innen zu allen Zeiten kannten ähnliche Zweifel und schrieben dennoch. Warum? Dreistigkeit. Eitelkeit. Notwendigkeit. Künstlerisches Schaffen wird aus einer Kombination dieser drei Impulse geboren, und die besten Werke entstehen, wenn letzterer dominiert.

Ich erinnere mich noch daran, als vor beinahe zehn Jahren Dein erster Roman herauskam. Du sagtest, jetzt, mit der Veröffentlichung eines Buches, seist Du eine Autorin. Ich gab zu bedenken, dass sich Dein Verständnis von Autorschaft mit der Zeit womöglich ändern werde. Und jetzt merke ich, dass sich tatsächlich etwas verschoben hat. Du sagst, Schreiben stelle für Dich keine Entscheidung mehr dar, sondern eine Notwendigkeit. Wenn Du nicht schreibst, sei alles sinnlos, und nur im Schreiben erschienen Dir die Dinge begreiflich. Ich jubelte, als ich das las, doch schon mit Deinem nächsten Absatz musste ich mich zügeln, weil Du Dir darin Sorgen über den Wert Deines Schreibens machtest und Dich fragtest, ob es wohl jemand anderem etwas bedeute.

Vergiss nicht: Es gibt zahllose Arten, dasselbe auszudrücken, und sie alle sind gültig und wichtig. Dieselben Worte erreichen verschiedene Menschen auf verschiedene Weise, und dieselben Worte erreichen dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise. Vielleicht gibt es sie gar nicht: „dieselben Worte“. Vielleicht steigt niemand zweimal in denselben Satz – wie auch niemand zweimal in denselben Fluss steigt –, weil man niemals ganz dieselbe ist, und sei es nur, dass man in der Zwischenzeit ein paar mehr Worte gehört oder gedacht oder geträumt oder gesprochen hat.

Aus diesem Grund erscheint mir jeder ernsthafte Versuch, sich mit Sprache auseinanderzusetzen – ob lesend oder schreibend – als eine unentbehrliche Übung, die jede Mühe wert ist und anerkannt werden muss. Natürlich, glaubst Du, so etwas müsse ich sagen, weil ich die Literatur bin. Dabei hätte ich Anlass genug, etwas ganz anderes zu behaupten – so aufgedunsen wie ich bin von all der Überproduktion und Mittelmäßigkeit, vollgestopft mit dürftigen Publikationen, die in meinen Reihen als Vorbilder prangen. Meine Taille ist ausgeleiert, überall dellen sich Blogs, Self-Publishing, Fan-Fiction, Multimedia-Bücher und so weiter. Die Krone des sogenannten Kanons sitzt mir wackelig auf dem Scheitel. Gleichzeitig bleibe ich dynamisch und jugendlich, weil neue Stimmen meine Venen durchkreuzen, weil neue Geschichten meine Kurven straffen. Und deswegen bin ich überzeugt, dass Worte ihren Raum brauchen, egal welchen Inhalt sie transportieren, egal, welche Form sie annehmen. Nur dann kann hin und wieder etwas Unerwartetes erwachsen, etwas Außergewöhnliches. Jene Werke, die wie Edelsteine funkeln und deren Pracht dieses verworrene Etwas namens Literatur erst zu voller Größe bringt.

Deine

Literatur

 

 

Liebe Priya,

ich will ohne Umschweife auf den zentralen Gedanken Deines jüngsten Briefes eingehen, der auch für mich in gewisser Weise existentiell ist. Ja, Du hast recht, ich bin der Ort der ewigen Fragen, die jeder stellen und erkunden darf. Ich bin das WARUM? Und das WARUM NICHT? Trotzdem bleibe ich umstritten, ein Kampfplatz der Frage, was jemand schreiben „kann“, welchen Themen man sich widmen „darf“. Darüber wird gerade heute viel diskutiert, und zwar aus gutem Grund. Zu viele Geschichten wurden geschrieben, ohne alle denkbaren (oder fehlenden) Haltungen und deren Auswirkungen angemessen zu berücksichtigen. Was nicht heißt, dass Literatur ausgeglichene Berichte liefern solle, die allen Seiten dieselbe Aufmerksamkeit beimessen. Wie Du sagst: Schreiben bedeutet auch, Partei zu ergreifen, es zu wagen, ein anderes Bewusstsein zu bewohnen, andere Perspektiven einzunehmen. Das erfordert ethische Umsicht, es gilt, nicht nur die Überzeugungen aller anderen immer wieder aufs Neue zu hinterfragen, sondern vor allem auch die eigenen.

Ich, die Literatur, entstehe genau in dieser Lücke zwischen dem, was Du schreibst und dem, was Du bist. Ich bin der Versuch, diese Lücke so weit wie möglich zu schließen, immer im Bewusstsein, dass es – ich führe es ja selbst auch vor – niemals vollständig gelingen kann. Dieses Unterfangen a priori kontrollieren zu wollen, hieße, mich zu klein zu machen und am Ende gar zu zerstören.

Schreib über das, was Du kennst, heißt es oft. Doch hat nicht auch das Gegenteil – vielleicht sogar in höherem Maße –  seine Berechtigung? Schreib über das, was Du nicht kennst – doch zunächst bemühe Dich nach Kräften, es so gut es geht kennenzulernen.

Wie immer Deine

Literatur

 

 

Liebe Priya,

sechs Briefe in zwei Tagen! Ich freue mich natürlich jedes Mal, von Dir zu hören, doch da ich weiß, dass Du mir nur dann schreibst, wenn Dein anderes Schreiben stockt, finde ich Deine so plötzlich wuchernde Post besorgniserregend. Noch beunruhigender ist der verzweifelte Ton darin. Ich weiß, dass Du zur Melancholie neigst (die ein Kennzeichen der Gattung Autor*in zu sein scheint; kein noch so großer Erfolg vermag sie je gänzlich zum Schweigen zu bringen), doch habe ich den Eindruck, dass Du von einer besonders ausgeprägten Variante dieser Neigung betroffen bist. Ich weiß auch, dass die Zeiten in vieler Hinsicht schwierig und bedrückend sind. Deswegen möchte ich Dir zunächst dafür danken, dass Du Dich an mich gewandt hast, dass Du die Worte nicht aufgegeben hast, auch und besonders angesichts ihrer Versäumnisse.

Ich glaube nicht, dass ich an Deiner Laune wirklich etwas ändern kann. Ich antworte Dir nur, um zu bestätigen, was Du bereits weißt: Schreiben bedeutet Einsamkeit, ohne je ganz allein zu sein – weil die Literatur immer da ist und Dir auf ihre stille Art Gesellschaft leistet. Gleichwohl bekräftigen Bücher, mögen sie die Einsamkeit nun verstärken oder auflösen, eine erduldete und verklärte Isolation.

Du sprichst von Versagen: Ein abgeschlossener Roman liegt unveröffentlicht in der Schublade, ein anderer ist nur halbfertig, ein drittes Buch ist in Arbeit, ohne dass es einen festen Abnehmer dafür gäbe. Wie in früheren Briefen kann ich Dich nur noch einmal daran erinnern: Deine Situation ist die Regel, nicht die Ausnahme. Nur wenige Autor*innen veröffentlichen alles, was sie schreiben, in der Reihenfolge des Entstehens. Jede Schriftsteller*innenkarriere ist durchzogen von Ablehnung, Niedergeschlagenheit und vorübergehender Orientierungslosigkeit.

Kunstwerke, und das gilt insbesondere für Romane, lassen sich nicht in Monaten oder Jahren messen. Jedes Werk braucht seine Zeit, und Du musst ihm den gebührenden Platz einräumen, sein eigenes Tempo respektieren. Du musst lernen, Dir selbst und Deinen Schöpfungen gegenüber unendlich geduldig zu sein, sowohl während der Arbeit daran, aber vielmehr noch danach, beim Warten, wenn sie hinaus in die Welt gehen und versuchen, dort einen Platz zu finden. Ich weiß, ein solcher Ratschlag läuft unseren Zeiten zuwider, in denen alles immer so schnell wie möglich zu geschehen hat, dazu am besten größer, billiger und rasanter als je zuvor. Zugegeben, Tempo ist verführerisch, es hat seine Vorzüge und Ausnahmen – doch im Großen und Ganzen ist Eile der Feind großer Kunst.

Apropos Geschwindigkeit: Ob Du es glaubst oder nicht, aber auch Erfolg kann sich zu früh einstellen (oder schwinden!). Damit meine ich Erfolg in seinem gewöhnlichsten kapitalistischen Gewand – dem Ornat von Auszeichnungen und Preisen, die als die ultimative künstlerische Anerkennung gefeiert werden und die für Spitzenleistung im Allgemeinen stehen, obwohl sie lediglich dem Geschmack und Interesse, den Vorlieben und Vorurteilen einer bestimmten Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt Ausdruck verleihen. Ich habe so manche*n Autor*in gesehen, di *den diese Art von Aufmerksamkeit beschädigt hat, die*der nicht mehr ungestört schreiben konnte. Schlimmer noch, die verzerrte Ökonomie literarischer Auszeichnungen bereitet den Boden für ein ätzendes Konkurrenzdenken, in dem es nicht reicht, selbst zu gewinnen – andere müssen scheitern.

Ich habe den Eindruck, dass das beste Werk nicht immer im Scheinwerferlicht zu finden ist, sondern in kleineren Räumen voller Phantasie, Wagemut und Gemeinschaft. Denk nur an manche Literaturzeitschriften, an kleine ehrgeizige Imprints, an winzige Verlage, die ausschließlich Übersetzungen herausbringen, an Lektoren, die unabhängig von Verkaufszahlen an ihren Autor*innen festhalten, an Festivals, wo man unbekanntere Bücher entdecken kann. Letztes Jahr hast Du mir von einer Zeitschrift erzählt, bei der Deine Arbeit immer willkommen ist, deren Redakteur jeden einzelnen Text annahm, den Du ihm geschickt hast. Diese kreative Freiheit, sagtest Du, habe sich wie Erfolg angefühlt: schreiben zu können, worüber Du willst, wann Du willst und zu wissen, dass es jemanden gibt, der möchte, dass es gelesen wird. Schätze solche Gelegenheiten, pflege und nutze sie, um „Erfolg“ nach Deinen eigenen Maßstäben immer wieder neu zu definieren.

Das andere Risiko des Erfolgs ist, dass er Dich die Ungerechtigkeiten dieser Welt vergessen lässt – sogar diejenigen, die Du selbst erfahren musstest. Aus diesem Grund wünsche ich ihn niemandem – außer in kleinen und kontinuierlichen Dosen. Und so gesehen bietet die Welt dem Erfolg aller genügend Platz.

Wie oft habe ich den Satz gehört: Schreiben stellt die einzige Linderung für die Schmerzen des Daseins als Autorin dar. Immer wieder erinnert Ihr Autor*innen Euch daran, und immer wieder vergesst ihr es.

Schreib!

Auf immer Deine

Literatur

 

Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender

Die englische Originalfassung des Essays ist im Magazin zum 32. Treffen junger Autoren nachzulesen, das vom 8. bis 13. November 2017 im Haus der Berliner Festspiele stattfindet.