Isang Yun, May 1989 © Boosey & Hawkes, Bote & Bock, Berlin Archive

„Wie weit ist für mich Korea, oder wie nah ist für mich Korea von Berlin aus? Mit dieser Frage lebe ich täglich, beim Komponieren, beim Denken, beim Erinnern.“ Versucht man sich der künstlerischen Physiognomie Isang Yuns (1917-1995) zu nähern, der Ende der 1950er Jahre von Seoul zunächst nach Paris, dann nach Berlin ging, um die Musik der westeuropäischen Avantgarde kennen zu lernen, ist man unweigerlich mit Fragen der Identität konfrontiert: mit der Identität eines in seiner geteilten Heimat politisch Verfolgten, der an der Berliner Hochschule der Künste eine dauerhafte Wirkungsstätte fand; mit der Identität eines Künstlers zwischen völlig verschiedenen kulturellen Sphären; mit vermeintlichen Identitäten asiatischer und europäischer Musik und Kultur und am Ende immer auch mit der Frage, ob „Identität“ überhaupt eine sinnstiftende ästhetische Kategorie musikalischer Kunst darstellt. Eines ist sicher: Jenseits aller weltmusikalischen Moden unserer Tage war Isang Yun der erste bedeutende Komponist, der Asien und Europa kompositorisch in substantieller Weise miteinander in Beziehung setzte. Jenseits ästhetischer Grenzziehungen und kultureller Stereotypen gelang es ihm, asiatische Klangvorstellungen und europäische Werktraditionen zu einer so neuartigen wie persönlichen Musiksprache zu verbinden.

Man kann sich trefflich darüber streiten, ob Yuns exzeptionelle Musik und ihre Kompositionsprinzipien nun als Verschmelzung oder dialektische Wechselbeziehung am zutreffendsten beschrieben sind, unbestritten ist, dass ihre westlichen und asiatischen Anteile beide essenziell für ihre Wirkung sind. Die ästhetischen Brücken, die Yun zwischen Europa und Asien schlug, beruhten jedoch nicht auf dem Prinzip der Assimilierung. Yuns kulturelle Doppel-Existenz bildete geradezu die Grundlage für eine musikalische Sprache, die bei aller Kunst der Synthese ihre Herkunft nicht zu verwischen suchte und dabei westliche Konstruktions- und Ausdrucksprinzipien beinahe bruchlos integrierte. Der Komponist beschrieb es so: „Hierin vollzieht sich keine Adaption der einen Tradition durch die andere, sondern es entsteht durch wechselseitigen Einfluss eine neue Situation … Insofern werden sowohl die Hörer europäischer als auch ostasiatischer Herkunft einer Spannung ausgesetzt, die sie veranlasst, ihre traditionellen Kategoriensysteme zu überschreiten und sich qualitativ neue Erfahrungsbereiche und Möglichkeiten des Menschseins zu erschließen.“ Yuns Ästhetik ist in der Idee des Vexierbildes vielleicht am Besten veranschaulicht: „Jeder Zuhörer sieht meine Position zwischen Osten und Westen anders, und das ist richtig so. Man kann meine Musik so oder so hören, als östliche oder als westliche. Dass man das kann, bezeichnet genau meinen Ort.“ Dieser Ort wurde im Falle Yuns fundamental erschüttert durch die weltpolitischen Verhältnisse im „Ost-West-Konflikt“ und seinen ideologisch verhärteten Machtblöcken. Bei keinem anderen Komponisten des späten 20. Jahrhunderts dürften sich die Abgründe des Kalten Krieges so schmerzhaft in die eigene Biographie und damit existentiell in die Musik eingeschrieben haben. Man muss sich heute kaum Vorstellbares in Erinnerung rufen: Yun wurde am 17. Juni 1967 von Berlin unter einem Vorwand in die südkoreanische Botschaft bestellt und von dort (zusammen mit anderen südkoreanischen Staatsbürgern) unter dem Vorwurf der Spionage nach Seoul verschleppt und dort zu lebenslanger Haft verurteilt! 1969 wurde er schließlich auf Druck der Bundesregierung freigelassen [s. auch Kommentar unten], dennoch erlitt er schwere Haftbedingungen und Folter, die nicht ohne gesundheitliche Auswirkungen blieben. Auch wenn der südkoreanische Geheimdienst 1976 versuchte, Yun in Tokyo erneut zu entführen, blieb der Komponist zeitlebens ein unermüdlicher Streiter für die Demokratisierung und Wiedervereinigung Koreas.

Die künstlerischen Konsequenzen spiegeln sich ab Ende der 1970er Jahre in einer ganzen Reihe von Werken, die Yuns leidvolle Erfahrungen mit der südkoreanischen Militärdiktatur reflektieren und dabei immer auch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in den Blick nehmen: am bildhaftesten im autobiografischen „Cellokonzert“ (1975/76), das Yuns Gefangenschaft verarbeitet, in den Vokalwerken „An der Schwelle“ (1975) und „Teile dich Nacht“, die nicht zuletzt Auseinandersetzungen mit dem Holocaust darstellen, oder in der Fünfte Symphonie mit Texten von Nelly Sachs, die ein Aufruf zu Versöhnung und Frieden ist. Als unmissverständlichen Kommentar zur politischen Situation Koreas konzipiert waren „Exemplum in memoriam Kwangju (1980), das die blutige Zerschlagung des Volksaufstandes durch das Militärregime Chun Doo-Hwans mit brutaler Suggestionskraft schildert und „Engel in Flammen“ (1994), ein „Memento“, das die Selbstverbrennungen koreanischer Studenten in Erinnerung ruft. All diese Werke sind bekenntnishaft in ihrer Solidarität und emotionalen Nähe mit dem leidenden, Ohnmacht und Unterdrückung erfahrenden Menschen. „Musik war für mich kein Spielzeug; mir ging es nie darum, mich mit dem Klang allein zu beschäftigen. Mir ging es um Mystik, um Gesellschaft, um Weltanschauung“, bekannte Yun. Alles in Yuns Musik hat eine metaphorisch-bildhafte Dimension, die Ästhetisches, Spirituelles und Ethisches untrennbar miteinander verbindet und an einen über die subjektive Künstlerpersönlichkeit hinausweisenden Gehalt knüpft. Dennoch war Yun kein „politischer“ Komponist in einem Sinne, wie es Luigi Nono oder Hans Werner Henze es eine Zeitlang überdeutlich für sich in Anspruch genommen haben: Seine Musik als Bekenntnis zum Menschen ist bei aller konkreten Reflektionen seiner existentiellen Gefährdungen stets eingebunden in einen allgemeinen spirituellen Kontext, der aus dem Geist des Taoismus gespeist ist. Yin-Yang-Gegensätze bestimmen Yuns Musik bis in die kleinste kompositorische Zelle und konstituieren ein organisch fließendes Ganzes, das seine ganze Energie aus der Wechselwirkung polarer Beziehungen im Großen wie im Kleinen bezieht. Das im westlichen Denken nur mühevoll nachvollziehbare taoistische Prinzip von der Bewegtheit in der Unbewegtheit hat dabei zentrale Bedeutung und lässt seine Musik spannungsvoll zwischen Kontinuität und erfülltem Augenblick, Klangstrom und mitteilsamer Geste oszillieren.

Das Bewusstsein der Teilung prägte Yuns Denken fast bis ans Ende seiner Tage: Die Wiedervereinigung des geteilten Deutschland durfte er zwar noch miterleben, die Teilung seiner Heimat Korea allerdings dürfte damals so unüberwindbar erschienen sein wie heute. Aber auch die Kluft zwischen europäischer Moderne samt ihrem affirmativen Fortschrittsdenken (dem Yun stets skeptisch gegenüberstand) und seiner ostasiatischen Herkunft mit ihren völlig anderen Auffassungen der Beziehung von Mensch, Kunst, Natur und Kosmos, hat Yun in späteren Jahren zunehmend als Problem empfunden. Deshalb ist Yuns Ideal interkultureller Verständigung und Zusammenarbeit nicht als Vision einer universalen Kultur misszuverstehen. In seinem Essay „Nationalkultur und Weltöffentlichkeit“, konzipiert für ein interdisziplinäres Symposium in Osaka mit dem Titel „In Search of a New Global Culture“, tritt Yun 1987 als früher Kritiker der Globalisierung in Erscheinung, in der er die „Gefahr einer kulturellen Uniformität der menschlichen Gesellschaften“ sah. Seine Bedenken lesen sich höchst aktuell: „Dient die Vereinheitlichung der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse vielleicht nur dem reibungslosen Zusammenspiel der herrschenden Marktkräfte? Ist das Ideal einer globalen Kultur wirklich ein universelles oder verbergen sich dahinter profane Interessen, die in ihren Implikationen gerade Kultur zerstören?“

Seit Yuns Tod im November 1995 hat sich die Welt nicht zum besseren gewandelt. Im Zeichen fortschreitenden Klimawandels, neoliberaler Wirtschaftsideologien und des Wiedererstarkens anti-demokratischer Denkweisen kämpft sie mehr denn je ums Überleben. Yuns Musik, in den letzten Jahren auf den Podien in Europa erschreckend sporadisch aufgeführt, gewinnt in diesem wenig hoffnungsvollen Kontext neue Intensität und Dringlichkeit. In einer Zeit, in der Zäune, Mauern und Ressentiments eine ungeahnte Renaissance erleben, ist das Ethos der Yun’schen Klangsprache nicht asiatisch oder europäisch, sondern zeitlos und universell …

Am 17. September 2017 wäre Isang Yun 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Grund widmet das Musikfest Berlin 2017 (31. August – 18. September) dem koreanischen Komponisten, der in Berlin eine neue Heimat fand, mit „Isang Yun 100“ eine ganze Reihe an Veranstaltungen. Diese findet am 17. September ihren Höhepunkt mit dem Konzert des Gyeonggi Philharmonic Orchestra unter der Leitung seiner Chefdirigentin Shiyeon Sung und mit der Sopranistin Yeree Suh. Zudem findet in der Philharmonie die Filmvorführung des Isang-Yun-Portraits „November-Elegie“ statt sowie ein Kammermusik-Konzert mit den Werken des Komponisten. Schließlich gibt Vladimir Jurowski sein Antrittskonzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Werken von Yun, Schönberg, Nono und Beethoven.