Anlässlich der Einladung vom Karin Beiers Hamburger Inszenierung „Schiff der Träume“ diskutiert das Theatertreffen im Focus „Arrival Cities – Willkommensland Deutschland?“ darüber, was Theater in Zeiten der (Flüchtlings-)Krise darf, soll und kann. Die Jurorin Barbara Burckhardt erläuterte in einem Impuls-Vortrag die Entscheidung und die Erfahrungen der Jury in diesem außergewöhnlichen Theaterjahr. Juror Peter Laudenbach antwortet ihr.
„Der Bericht über die vergangene Spielzeit ist ein Bericht über die Unsicherheit, die plötzlich viele Theater erfasst hat. Die Verunsicherung von außen (…), die die vorletzte Spielzeit prägte, folgte die Unsicherheit von innen. Die Fragen: was das Theater überhaupt noch sei, wohin es gehe, ob es noch eine Zukunft habe und welche – drängten sich seit langem nicht mehr so schmerzhaft auf.“
Das Zitat stammt von Günther Rühle, es ist aus dem „Theater heute“-Jahrbuch von 1979. Ganz so neu ist der Eindruck also nicht, dass das Theater von politischen, gesellschaftlichen Krisen überfordert ist – vor allem von der Frage, wie es darauf im eigenen Medium, also mit Kunst reagieren könnte. Die Verunsicherung von außen, von der Rühle spricht, waren damals die Anschläge der RAF und die staatlichen Reaktionen darauf. Das waren, nicht nur weil Rechtsradikale inzwischen sehr viel mehr Menschen ermordet haben als die RAF, vergleichsweise harmlose gesellschaftliche Herausforderungen in der alten Bundesrepublik. Offenbar ist das Theater, jedenfalls wenn es gut ist, ein besonders empfindliches Messinstrument, was gesellschaftliche Krisen angeht. Schließlich sind Konflikte der Kern des Theaters. Und auch die Selbstverunsicherung – was ist Theater angesichts dieser gesellschaftlichen Krisen? – gehört offenbar zum Standardrepertoire. Das kann man etwas narzisstisch finden, als sei das Wichtigste zum Beispiel an Terroranschlägen oder an der Not der Geflüchteten die Frage, was das für die Zukunft des Theaters bedeuten könnte. Aber vielleicht braucht das Theater diese Selbstverunsicherung auch einfach als Impuls: es benutzt sie als Irritation, um in Kontakt mit der Gesellschaft zu bleiben. Dirk Baecker nennt das Verfahren in einer seiner schönen paradoxen Formeln den „Nutzen ungelöster Probleme“. Solange dem Theater die ungelösten Probleme, die gesellschaftliche Krisen und deren Folgen in Form von Selbstverunsicherung nicht ausgehen, muss man sich um das Theater keine Sorgen machen.
Die Selbstverunsicherung führt am Ende in der Regel wieder zu Theater und nicht etwa dazu, den Betrieb wegen Sinnlosigkeit einzustellen. Im besten Fall entsteht so komplexeres, ästhetisch und politisch aufgeklärtes Theater, das nicht dümmer ist als der Rest der Gesellschaft. Weil sie so gute Messinstrumente sind, stellen die Theater manchmal – zum Beispiel am Maxim Gorki Theater – die entscheidenden Fragen gesellschaftlicher Konflikte auch deutlich früher, genauer und entschiedener als andere Medien. Ein anderer Effekt ist natürlich, dass auch das Nutzen der Irritation zur Konvention wird. Vor einem Jahr war der Einbruch der Wirklichkeit in den geschlossenen Kunstraum in Form von afrikanischen Geflüchteten eine klug gesetzte Störung der Spiel-Routine, in Nicolas Stemanns „Schutzbefohlenen“. Ein Jahr später ist das selbst Routine und zum effektbewusst eingesetzten Stilmittel geworden, das Problembewusstsein auf der Höhe der Zeit signalisieren soll, ohne den Kunstgenuss weiter zu stören.
Die Ratlosigkeit der Jury, die Barbara Burckhardt eben beschrieben hat, ist also vor allem als Symptom interessant, schon weil sich in ihr die Suchbewegungen der Theater spiegeln, die ihrerseits an die Suchbewegungen der Gesellschaft andocken.
Ich möchte zwei mögliche Extrempositionen beschreiben, mit denen das Theater versucht, Günther Rühles Frage, was das Theater angesichts der neuen Krisen sei, zu beantworten. Die erste Möglichkeit wäre, im abgedichteten Kunstraum einfach so zu tun, als sei nichts geschehen, und weiter schöne Kunst zu machen. Dass das politisch, moralisch, menschlich, aber auch künstlerisch etwas seltsam wäre, scheint unmittelbar einleuchtend. Angesichts der Not der Geflüchteten und der Ursachen ihrer Flucht, an denen der Westen, also wir, zumindest mitschuldig sind, wäre diese Ignoranz zynisch. Angesichts einer neuen Rechten mit zweistelligen Wahlergebnissen möchte man schon aus hygienischen Gründen ein paar Minimalstandards an Demokratie, Menschenwürde und Freude an Diversität verteidigen. Die Frage ist, wie das mit Mitteln der Kunst geht und ob Kunst überhaupt ein Mittel sein sollte.
Andererseits: War die Welt vor fünf oder fünfzig Jahren ein besserer Ort? Für die allermeisten Menschen nicht. Was sich geändert hat, ist, dass wir nicht mehr so gut wegschauen können, seit syrische und afghanische Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa kommen. Was wir im reichen Europa für einen Ausnahmezustand halten, ist in vielen Teilen der Welt der Normalzustand. Hätte man deshalb in den letzten 5 oder 50 oder 100 Jahren kein Theater machen sollen? Und wem wäre damit geholfen? Hat Heiner Müller Recht, wenn er die großen Kunstwerke „Komplizen der Macht“ nennt? Das meint nicht nur die im Auftrag der Medici oder der Päpste gemalten Fresken oder das, was Wolfgang Ullrich „Siegerkunst“ nennt, also Damien Hirst oder Jeff Koons als Trophäen-Lieferanten für Milliardäre. Das meint in Müllers Perspektive Kunst, die auf den und für die Wohlstandsinseln entsteht, Kunst von und für Privilegierte.
Oder ist die Alternative, genau diese Konflikte im geschlossenen Kunstraum zu verhandeln, härter, perspektivreicher, illusionsloser als das in anderen Medien möglich ist, mit großen historischen Echoräumen, wie es Müller in seinem Werk getan hat. Oder wie es Michael Thalheimer in seiner Wiener Inszenierung der „Schutzbefohlenen“ getan hat, die ich bei diesem Festival sehr vermisse.
Das war die erste Möglichkeit: der geschlossene Kunstraum, mit oder ohne Problembewusstsein.
Die andere Möglichkeit, die Auflösung der Kunst in die soziale Praxis, hat derzeit Konjunktur. Der Philosoph Oliver Machart beschreibt das Muster an einem historischen Beispiel:
„Am 15. Mai 1968 um elf Uhr abends stürmt eine Menge von Protestierenden das Pariser Theater Odéon. Das Publikum der Abendvorstellung hat das Haus gerade verlassen. Die Protestierenden informieren den Direktor Jean-Louis Barrault – eine Legende des Avantgarde-Theaters –, dass von nun an die Institution besetzt sei, repräsentiere sie doch eine elitäre und bourgeoise Vorstellung von Kultur und müsse in ein Zentrum der Revolution verwandelt werden. Ein Monat lang wird das Theater zu einem Drehpunkt der Studentenrevolte. Die Aufführungen werden ausgesetzt. Dramatisches, theatrales Handeln, d.h. Schauspielen im engeren Sinn findet im Theaterraum selbst nicht mehr statt. Stattdessen wird das Theater restlos transformiert in einen Raum politischen Handelns. Das Odéon wird zu einem öffentlichen Raum, in dem die vierte Wand zwischen ‚Akteuren‘ und ‚Publikum‘ niedergerissen ist und jedem/r erlaubt wird, frei zu sprechen. ‚Non-stop‘. In einem Kommuniqué hieß es: ‚Die Aktion richtet sich gegen keine Person und gegen kein Repertoire, sondern gegen eine bürgerliche Kultur und ihre theatrale Repräsentation. Das Odéon hört für einen unbegrenzten Zeitraum auf, ein Theater zu sein. Eine revolutionäre Permanenz, ein Ort des ununterbrochenen Meetings.‘“
Jean Genet fand die Besetzung des Odéon albern: Erstens hätten die Aktivisten lieber ein Ministerium besetzen sollen, zweitens hilft die Zerstörung eines Orts der Kunst, oder, um eine Modevokabel zu bemühen, der Heterotopie, niemandem. Was so entsteht, ist höchstens ein neues Bilderverbot: Kunst soll durch soziale Praxis ersetzt werden, auch wenn diese soziale Praxis wie in dem erwähnten Beispiel reine Selbstreferenz ist, ein leer laufender Selbstzweck. Frank Castorf hat die Frage, weshalb jetzt alle Theater Flüchtlingscafés errichten, gewohnt brutal beantwortet: Weil sie keine Kunst machen wollen. Das Engagement der Zivilgesellschaft für die Geflüchteten hat nichts mit Kunst zu tun. Theaterleute oder Journalisten, die Deutschkurse geben oder Patenschaften für Notunterkünfte übernehmen, sind einfach Teil der Zivilgesellschaft. Das ist unabhängig von ihrem Beruf, sie haben keinen privilegierten Zugang zu Moral. Gegen diese eigentlich selbstverständlichen Gesten der Solidarität dürfte nicht einmal Frank Castorf etwas haben. Seine Polemik unterstellt, dass all die Flüchtlingscafés eine Art Ersatzhandlung sind und kompensieren, dass die Theater ihrem eigenen Medium als Ort, der genau diese Konflikte verhandeln kann, nicht mehr trauen. Matthias Lilienthal, an diesem Punkt der Antipode von Castorf, ist laut Eigenauskunft gute Sozialarbeit lieber als schlechtes Theater. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was ausgerechnet Theaterkünstler zu Sozialarbeit befähigt, beschreibt diese Formulierung genau das Misstrauen dem eigenen Medium gegenüber, gegen das Castorf polemisiert.
Aber in Wirklichkeit ist die Entgegensetzung Theater – soziale Praxis reichlich ungenau. Theater sind ohnehin Orte der sozialen Praxis – und die sieht am Maxim Gorki Theaters anders aus als am Berliner Ensemble. Wie sich ein Ensemble zusammensetzt, wie die Menschen in diesem Ensemble miteinander umgehen, hat unmittelbare Folgen für die Kunst. Wie zum Beispiel Schulen unterschiedlicher sozialer Milieus Partner der eigenen Arbeit werden, verändert vermutlich auch die eigene künstlerische Arbeit. Ein Theater, an dem große Inszenierungen im geschlossenen Kunstraum stattfinden, kann wie das Gorki oder das Hamburger Schauspielhaus eine sozial sehr offene Institution sein.
All diese Diskussionen arbeiten sich an der Frage ab, ob Theater ein Reflexionsmedium ist oder zum Interventionsmedium werden soll, notfalls um den Preis einer gewissen Unterkomplexität. Aber auch politisches Theater als Feier der Gesinnungsgemeinschaft – vielschichtig und intelligent bei Falk Richter, weniger raffiniert bei Volker Lösch – ersetzt keine echte Demonstration zum Beispiel gegen die AfD. Selbst die klügsten und radikalsten Aktionen des politischen Theaters der letzten Jahre – „Die Toten kommen“ und die Mauerkreuze des Zentrums für politische Schönheit – waren so wichtig und wirkungsvoll, weil sie Konflikte symbolisch verdichteten – und nicht etwa, weil vor dem Kanzleramt der Rasen beschädigt wurde.
Über das Theatertreffen im Krisenjahr hat Günther Rühle 1979 übrigens auch schöne Worte gefunden:
„Das Theatertreffen im Mai war der sichtbarste Ausweis: zögernde, unsichere Entscheidungen der Jury, darunter sehr bestreitbare. In Berlin zeigte sich dann ein Ergebnis von großer Fadheit und Verwirrung.“
Eingeladen waren unter anderem Wilsons „Death Destruction and Detroit 1“ und Peter Steins „Groß und Klein“ – zwei Höhepunkte der jüngeren Theatergeschichte.
Peter Laudenbach war von 2014 bis 2016 Mitglied der Theatertreffen-Jury. Seinen Impuls-Vortrag hielt er im Rahmen des Focus „Arrival Cities – Willkommensland Deutschland?“ im Theatertreffen-Camp im Haus der Berliner Festspiele.