Anlässlich der Einladung von Karin Beiers Hamburger Inszenierung „Schiff der Träume“ diskutiert das Theatertreffen im Focus „Arrival Cities – Willkommensland Deutschland?“ darüber, was Theater in Zeiten der (Flüchtlings-)Krise darf, soll und kann. Die Jurorin Barbara Burckhardt erläuterte in einem Impuls-Vortrag die Entscheidung und die Erfahrungen der Jury in diesem außergewöhnlichen Theaterjahr. Juror Peter Laudenbach antwortet ihr.

Barbara Burckhardt © Piero Chiussi

Dieser Impuls ist ein Impuls im zweifachen Sinne: Er soll, aus den Erfahrungen einer Theatertreffen-Jurorin, einen Impuls geben für die nachfolgende Diskussion, und er handelt von einer impulsgesteuerten Theatersaison, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Dies war das sechste Jahr, das ich in der Jury fürs Theatertreffen verbracht habe, und es war anders als jedes Jahr zuvor. Schon letztes Jahr zeichnete sich ab, was 2016 den ganzen öffentlichen Diskurs beherrschte: Immer mehr Menschen aus Kriegs- und Armutsgebieten kamen nach Europa, viele starben auf dem Weg dorthin, und die Theater begannen, darauf zu reagieren. In Berlin formierte sich die Theaterinitiative My Right Is Your Right, Philipp Ruch und das Zentrum für politische Schönheit entwendeten Kreuze, die hier in Berlin an die Mauertoten erinnerten, und brachten sie an die Außengrenzen der Festung Europa. Die Theater überdachten ihre langfristig geplanten Spielpläne. Und wir begannen darüber nachzudenken, wie diese veränderten Bedingungen beim Theatertreffen sichtbar werden konnten; ob unsere Kriterien vielleicht neu überdacht werden sollten.

Das Theatertreffen, dessen Selbstverständnis zwischen Best-of und Spiegel der Saison durchaus changiert, eröffnete dann 2015 mit Nicolas Stemanns Inszenierung von Jelineks „Schutzbefohlenen“. Die Inszenierung thematisierte, was auch unsere Jury-Diskussionen um Kunst und Aktivismus so kontrovers machte: Wie kann man in der saturierten Zone unserer hochsubventionierten Stadttheaterkultur über das Sterben vor den Küsten, die Ankunft der Menschen hier, den Clash der Kulturen, das Gefühl von Überforderung, aber auch den Goodwill der Zivilgesellschaft erzählen, ohne sich paternalistisch zu erheben, in eigenen Befindlichkeiten zu versinken oder die Bühne zum Zoo zu machen? So nannte es in einem Interview Michael Thalheimer, der gleich mitdiskutieren wird.

Wir waren und sind uns klar darüber, welche Fallen im Repräsentationstheater bereit stehen. Und dass das Theater als Kunstraum unbedingt zu verteidigen ist. Gleichzeitig wuchs aber in der Spielzeit 15/16 unser Unbehagen an einem reinen Best-of brillanter Schauspieler, genialer Dramaturgen, großartiger Bühnenbilder und prägnanter Regisseure. Insbesondere nach dem 5. September, als Angela Merkel den Flüchtlingen aus Ungarn die deutschen Grenzen öffnete. Mein Kollege Wolfgang Huber-Lang hat im Theatertreffen-Magazin geschildert, was wir auf den Reisen, die uns zu den Theatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz führten, erlebten: Wir sahen Menschen, gezeichnet von Flucht und Angst, an Bahnhöfen, in den Zügen, in den Städten, durch die wir liefen. Wir sahen Menschen, die spontan halfen, und Menschen, die sich auf Straßen und Plätzen versammelten, protestierten, auch pöbelten. Danach saßen wir in den Schutzräumen der Theater, und nicht immer gelang es, das Außen aus den Köpfen zu bekommen und das Kriterium „bemerkenswert“, das unsere Auswahl leitet, von dem abzukoppeln, was vor den Türen der Theater geschah.

Den Theatern selber schien es nicht anders zu gehen als uns. Sie fühlten sich in nie gekannter Weise aufgerufen, die Wirklichkeit nicht nur zu reflektieren, sondern zu intervenieren. Sie öffneten, wie das Hamburger Schauspielhaus und das Gorki Theater, deren Vertreter auch gleich mitdiskutieren werden, ihre Türen für die Ankommenden vom Bahnhof gegenüber und gaben ihnen Quartier. Sie organisierten Deutschkurse und Begegnungen von Einheimischen mit Flüchtlingen, sammelten Spenden und organisierten Open Border-Kongresse. Sie machten das in der Regel diskret und hüteten sich davor, ihren Einsatz als Werbemaßnahme einzusetzen. nachtkritik.de führt in einer Liste, die sie von September bis Dezember 2015 zusammenstellten, an die 80 Aktivitäten von Theatern quer durch die Republik zusammen, und diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Das Theater, schon länger mit Fragen von Partizipation und Teilhabe befasst, schärfte sein Selbstverständnis als ein öffentlicher, ein sozialer Ort, in nicht gekanntem Maße. Plötzlich war unübersehbar, dass Theater ja ein Begriff mit zwei Bedeutungen ist: Theater ist einerseits eine Kunstgattung und andererseits ein Raum, ein Versammlungsort. Eine Agora, in der Menschen zusammen kommen und sich Fragen stellen.

But is that Art? So heißt die Frage, die sich das Podium heute stellt. In unserer Jury kursierte tatsächlich kurz die Überlegung, ob diese Frage in dieser gesellschaftlichen Situation fürs Theatertreffen nicht einmal außer Kraft gesetzt werden dürfte? Zumindest partiell. Ob wir das Kriterium „bemerkenswert“ nicht vielleicht so weit ausdehnen sollten, dass Thema und Haltung vor Ästhetik und Exzellenz rangieren könnten? Ausnahmsweise und auf Zeit?

Auf solche Ideen konnte man z.B. in Dresden kommen. Ich wohnte dort bei Freunden, gebildete und bürgerliche Menschen, wie so viele in Dresden. Kurz nach meiner Ankunft waren wir schon beim Dresdner Thema Nr. 1: Pegida und die diffuse Angst und den Hass, die sich im kultivierten Elbflorenz breitmachen. Diese Freunde erzählten mir, dass sie seit einiger Zeit eine seltsame Vorsicht an sich bemerkten; man checke erst mal behutsam ab, wo das Gegenüber, selbst alte Freunde, stünden, bevor man wage, sich zu positionieren in Bezug auf Pegida und die Fremden. So hoch schlügen die Emotionen, so schwer seien sie zu verorten. Abends saß ich im Theater, in einer Inszenierung, bei der es um Flüchtlinge ging, um die Abwehr und den Hass auf Dresdens Straßen, einem Bürgerchor in den Mund gelegt und konterkariert durch Sätze der Schauspieler, die von Abscheu, Wut, Rat- und Hilflosigkeit erzählen, gegen den Hass um sie herum. Der Abend war hochemotional und wenig komplex, er war polemisch und populistisch, wenn auch andersherum populistisch als der primitive Populismus der Montagsdemonstranten. Am Ende stand das Publikum auf und hörte nicht auf, zu applaudieren. Das war der stärkste Moment des Abends, ein Akt der Selbstvergewisserung der anderen Dresdner. Bühne und Zuschauer formierten sich gemeinsam zur Gegenstimme.

Wir haben die Dresdner Inszenierung nicht nach Berlin eingeladen. Wir hätten ja das Publikum mit einladen müssen. Und die Mehrheit der Jury entschied: Die Kunst sollte nicht kapitulieren vor dem Engagement, auch nicht auf Zeit. Wir hielten weiter Ausschau nach Arbeiten, die die Gegenwart und unsere Verunsicherung in ihr benennen, dafür aber auch nach einer künstlerischen Form suchen.

Und glauben, das in zwei Produktionen gefunden zu haben: In Yael Ronens „The Situation“, der es mit Witz und Selbstbewusstsein gelingt, die Diversität der hier Angekommenen zu zeigen, bis sich unsere Klischeevorstellungen in Luft auflösen. Und in Karin Beiers „Schiff der Träume“ nach Federico Fellinis Film „E la nave va“, das Sie gestern Abend schon sehen konnten. Wie Nicolas Stemann vor einem Jahr stellt sich diese Produktion, bei der Stefanie Carp als Dramaturgin mitwirkte, nicht zuletzt die Frage, WIE denn zu sprechen sei über das Fremde. Wie man den Ankommenden selbst eine Stimme geben kann, ohne sie zum Dekorum zu degradieren. Auch hier geht es um die Arbeit am Klischee, den Vorstellungen, die Angst machen. Karin Beier treibt sie auf die Spitze und wechselt die Perspektive. Der Klischee-Blick ist universell, er funktioniert auch anders herum, auch wir können in seinen Focus geraten und fühlen uns sehr unbehaglich dabei.  Auch hier spielt das Publikum mit – wann gelacht, wann geklatscht wird und wann sich peinliches Schweigen ausbreitet, ist Teil der Performance. Wir, das Publikum, wir, die Gesellschaft, befinden uns mitten im Prozess – der scheitern kann. Auch an diesem Abend scheitert manches, er traut sich das. Vom Perfekten, von den Lösungen sind wir zurzeit noch sehr weit entfernt. Aber erst aus diesem Unbehagen, der eingestandenen Ratlosigkeit kann das Neue entstehen – der freie Blick. Auch auf das, was unsere Kultur uns tatsächlich bedeutet, ob und wie weit wir sie zur Dispositionen stellen müssen oder wollen.

Das wird, hoffe ich, auch eine der Fragen sein, die das Podium gleich diskutieren wird. Sie ist in den letzten Wochen immer wieder gestellt worden, im öffentlichen Gespräch unter anderem von Botho Strauß, Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk, im Theater von Alvis Hermanis, der dem Hamburger Thalia Theater die weitere Zusammenarbeit aufkündigte wegen dessen Engagements für Geflüchtete. Ein merkwürdiger Antagonismus entstand, ein Entweder-Oder, als müsse man sich für das Eine ODER das Andere entscheiden, für die reine Kunst ODER den politisch korrekten Aktivismus. Für Theater als künstlerische Gattung ODER als sozialer Ort. Als wäre es nicht seit jeher beides gewesen, und als entstünde seine Lebendigkeit nicht gerade daraus, immer wieder neu die Entscheidung treffen zu können, wie man die Anteile gewichten möchte. Um im Idealfall die Gegenwart in der Kunst ankommen zu lassen und die Kunst in der Gegenwart.

Barbara Burckhardt war von 2014 bis 2016 Mitglied der Theatertreffen-Jury. Ihren Impuls-Vortrag hielt sie im Rahmen des Focus „Arrival Cities – Willkommensland Deutschland?“ im Theatertreffen-Camp im Haus der Berliner Festspiele.