Johannes Hilliger und Josa Kölbel sind bereits seit Jahren im zeitgenössischen Circus aktiv. In Berlin kennt man die beiden u.a. als Organisatoren und Gründer des Berlin Circus Festivals, das 2017 zum dritten Mal stattfindet. Nun kuratieren sie die neue Programmschiene Circus bei den Berliner Festspielen. Wir haben sie zum Interview gebeten und gefragt, was zeitgenössischer Circus eigentlich ist, was für sie den Reiz des Genres ausmacht und was sie sich für diese vielfältige Kunstform wünschen.

Johannes Hilliger und Josa Kölbel © Berliner Festspiele

Was verbindet ihr mit dem Wort Circus?

Josa Kölbel: Familie, Tradition, Popcorn, schöne Erinnerungen, viel Arbeit, Zukunft!

Johannes Hilliger: Zukunft.

Was kann man sich unter zeitgenössischem Circus vorstellen?

Kölbel: Ich erkläre es am liebsten so: Man sollte sich so etwas wie ein Theaterstück vorstellen, das jedoch deutlich körperlicher ist, mit weniger Sprache arbeitet – und dennoch die gleichen Geschichten erzählen kann eben durch diese Körperlichkeit. Diese kann entweder mit einem Hilfsmittel – wie ein Schleuderbrett oder ein Trapez – eingesetzt werden, kann aber auch die Körperlichkeit von Akrobat*innen oder Tänzer*innen an sich sein. Im Allgemeinen lässt sich jedoch schwer festlegen, was zeitgenössischer Circus ist, weil das Genre sehr frei ist.

Hilliger: Es gibt kaum Regeln. Formal ist alles erlaubt und erwünscht.

Was macht dann ein zeitgenössisches Circusstück aus?

Hilliger: Der Begriff Stück trifft es gut. Es ist keine Nummern-Performance mehr, wie es vielleicht noch im traditionellen Zirkus der Fall war. Der zeitgenössische Circus erzählt Geschichten in Stückform. Es gibt eine Handlung, einen Strang und einen Verlauf.

Würdet ihr dieses Genre in einer Tradition verorten? Oder handelt es sich um eine ganz neue Gattung?

Kölbel: Es ist nie etwas komplett neu. Es gab und gibt das Traditionelle, das sehr weitläufig ist: eine Dinner-Show, ein Kabarett oder ein Familienzirkus gehören dazu. Das Zeitgenössische ist da etwas herausgetreten und ist inzwischen eine „überlegte Form“, Circus darzustellen und in Kontext zu setzen. Diese Form ist jedoch sehr heterogen.

Hilliger: Und sehr international. Vielleicht gerade weil Sprache nicht immer Bestandteil eines Circusstücks sein muss. Dadurch können Künstler*innen unterschiedlichster Nationalitäten sehr schnell zusammenfinden.

Berlin Circus Festival © Mikkael Kukkula

An welche Kontexte dockt zeitgenössischer Circus an? Sind das artistisch-historische Linien oder eher politisch-gesellschaftliche Anknüpfungspunkte?

Kölbel: Es ist alles möglich. Es gibt Stücke, die sich politisch mit der gesellschaftlichen Situation beschäftigen und soziale Systeme betrachten. Es gibt aber auch Arbeiten, die in sich geschlossen bleiben, die sich mit Circus auseinandersetzen, mit persönlichen Themen oder mit einer künstlerischen Disziplin an sich.

Hilliger: Das Spannende ist, dass Circus so undefiniert ist – auch für uns. Wir sehen immer noch Stücke, die ganz anders sind als alle, die wir bisher gesehen haben. Es gibt auch ganz wenig Repertoire und keine Grundlagen in Buchform. Die Kreation entsteht aus den Menschen, die sie entwickeln, und ihre speziellen künstlerischen Herangehensweisen und Persönlichkeiten sind dadurch immer Teil der Kreation.

Kölbel: Was im zeitgenössischem Theater oder Tanz ähnlich ist.

Ist das der Reiz für euch am Circus?

Hilliger: Ich liebe vor allem auch die Artistik! Menschen, die ganz spezielle Fähigkeiten haben, für die sie hart trainiert und geübt haben.

Kölbel: Circus ist eine Sprache, die zu jedem spricht, sie ist leicht verständlich und nachvollziehbar. Circus kann einfach Circus sein.

Wenn das Genre so heterogen ist – gibt es dann keine Möglichkeit, ein „typisches“ Circusstück zu definieren?

Hilliger: Es gibt schon dieses Circusgefühl, das alle Stücke verbindet. Für mich ist das so eine positive Grundeinstellung, die ich immer habe, sobald ich einen Ort betrete, an dem Circus passiert.

Kölbel: Im besten Fall entsteht eine Lust, selbst mitzumachen.

Wie steht es mit dem Mittel der Gefahr?

Kölbel: Das verschwindet nicht, wird aber im zeitgenössischen Circus in Frage gestellt bzw. anders gedacht – bewusst zurückgenommen oder bewusst eingesetzt. Es ist nicht mehr die Essenz von Circus.

Hilliger: Natürlich ist da Gefahr, reale Gefahr auf der Bühne, aber gleichzeitig sind die Künstler*innen unglaublich professionell. Wenn man sich länger mit dem Genre beschäftigt, weicht das Spektakuläre der Faszination für die Bewegung.

Was ist dann der Unterschied zum Tanz?

Kölbel: Das unterschiedliche körperliche Vokabular.

Hilliger: Auch Tanz ist eine unglaublich schöne Kunstform. Was auch das Spannende ist: Im zeitgenössischen Circus treffen sich so viele Kunstformen. Das Schöne ist, wenn Symbiosen stattfinden.

Nebula © Milan Szypura

„Nebula“, eine Produktion der französischen Compagnie du Chaos, ist im März im Haus der Berliner Festspiele zu sehen. Was hat euch dazu bewogen, gerade dieses Stück als Gastspiel einzuladen?

Kölbel: Wir haben uns verschiedene Fragen gestellt: Wie kann man den Zuschauer*innen etwas zeigen, das ihnen zeitgenössischen Circus näher bringt und verständlich macht? Was sieht so spannend aus, dass es bei einem Publikum, dem diese Kunstform nicht vertraut ist, Interesse weckt? Die Artistik in „Nebula“ arbeitet weniger mit dem Spektakulären – die Spezialität und Hauptdisziplin in diesem Stück ist das Klettern am Chinesischen Mast. Daneben ist es sehr tänzerisch, sehr visuell und sehr intuitiv geprägt – das fanden wir eine gute Mischung.

Hilliger: „Nebula“ wird auch nur ein Teil des Programms sein, das wir gerne im Haus der Berliner Festspiele zeigen möchten. Wir wollen die Zuschauer*innen mit auf eine Reise nehmen und sie für den zeitgenössischen Circus begeistern.

Was wünscht ihr euch noch als Resultat eurer Arbeit bei den Berliner Festspielen?

Hilliger: Dass sich zeitgenössischer Circus in Deutschland als ernstgenommene Kunstform etabliert.

Kölbel: Dass Circuskompanien und Artist*innen aus der ganzen Welt hierherkommen können, hier auftreten können. Und dass auch deutsche Künstler*innen mehr kreieren können.

Hilliger: In Deutschland fehlen noch Strukturen. Es gibt eine tolle Artistenschule mit hervorragenden Absolvent*innen, aber wenige Spielorte für zeitgenössischen Circus. Es ist noch nicht Usus an vielen Spielstätten, wie eine Selbstverständlichkeit auch Circus zu programmieren. Doch nur so können Kompanien aus und in Deutschland überleben.

Kölbel: Es gibt zwar Produktionen von Kompanien. Diese kreieren aber immer mit dem Gedanken, dass sie Vorstellungen ausverkaufen und so viel spielen müssen, dass sie sich damit finanzieren können. Und das ist eben nur oder fast ausschließlich im Kabarett möglich. Damit ist natürlich eine Einschränkung verbunden und es wäre schön, wenn sich immer mehr Theater dafür interessieren, zeitgenössische Circusstücke zu programmieren. Was ja gerade schon passiert.

Hilliger: Ich glaube, es braucht immer mehr Bausteine und dann wird diese Entwicklung auch weitergehen. Unser Projekt bei den Berliner Festspielen ist so ein Baustein. Daher: Kommt alle her, guckt euch das an! Ich glaube, erst wenn man zeitgenössischen Circus gesehen hat, kann man damit beginnen, ihn zu verstehen.

Die Fragen stellte Andrea Berger.
Nebula“ ist vom 6. – 8. März 2017 bei den Berliner Festspielen zu sehen.