In einer Welt ohne Corona wären am 22. Mai 2020 junge Theatermacher*innen aus unterschiedlichen Ecken Deutschlands zum 41. Theatertreffen der Jugend angereist. Nun ist der 22. Mai aber ein Tag in einer Welt mit Corona und ohne Theatertreffen der Jugend. Christina Schulz, die Leiterin der Bundeswettbewerbe der Berliner Festspiele, beschreibt, welche Fragen sich aus dieser Leerstelle ergeben und wie es hätte werden können.
In einer Welt ohne Corona wären am 22. Mai 2020 junge Menschen aus verschiedenen Regionen Deutschlands nach Berlin gereist. Sie hätten schon Tage zuvor eine Szene geprobt, mit der sie sich bei der Eröffnung des Theatertreffens der Jugend allen anderen vorgestellt hätten. Sie hätten ihre Koffer und Rucksäcke gepackt. Sie hätten vielleicht versucht, sich auszumalen, was in dieser Woche alles passieren würde. Sie wären ein wenig oder sehr aufgeregt gewesen, hätten Freund*innen von der Einladung ihrer Theatergruppe nach Berlin erzählt. Vielleicht wären sie auch ängstlich gewesen, weil so viele verschiedene Menschen aufeinandergetroffen wären, vielleicht hätten sie anschließend Menschen in ihr Herz geschlossen, die sie nur an diesem Ort hätten treffen können. In Berlin hätte ein ganzes Team das Haus der Berliner Festspiele darauf vorbereitet, ein Ort der Theaterkunst junger Menschen zu werden, der Freiheit und des respektvollen Miteinanders, an dem die Grenzen des Verstehens und Denkens erweitert werden können, ein Ort, den man, im besten Fall, nur noch zum Schlafen verlassen hätte …
Wir haben noch nie eine Veranstaltung absagen müssen. Wir haben noch nie entscheiden müssen, ein laufendes Juryverfahren abzubrechen. Aber Gruppen durften nur unter Einschränkungen Stücke für die Jury zeigen, die Schließung von Schulen und Spielorten zeichnete sich ab. Der Wunsch, wenigstens noch die Auswahl abschließen zu können, rang mit dem Anspruch an die eigene Verantwortlichkeit, niemanden länger zu gefährden. Es war eine schmerzhafte Entscheidung, den Juryprozess abzubrechen und schließlich auch das Theatertreffen der Jugend abzusagen. Ob diese Entscheidung notwendig war? Wir haben die Frage bejaht, die wohl niemand mehr stellen würde. Die einsetzende Schockstarre paarte sich mit einer unfreiwilligen Emsigkeit, Dinge zu regeln, zurück zu regeln. Leider. Aber wer ist eigentlich „wir“? Wir sind die Bundeswettbewerbe, ein Programmbereich der Berliner Festspiele, einer vom Bund geförderten Institution. Wenn wir etwas absagen, so schmerzhaft das auch ist, tun wir es doch aus einer sehr privilegierten Position heraus. Denn diese Absagen treffen nicht nur die Kunst der jungen Menschen, sondern auch alle, die sich in ihren Dienst stellen, freie Künstler*innen, viele Dienstleister*innen und ihre Angestellten, die nicht nur auf die Freude an ihrer Arbeit, sondern auch auf ihre Einkommen zumindest teilweise verzichten mussten. Daher sind wir dankbar, dass uns das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das die Bundeswettbewerbe fördert, in dieser Situation wachsam und pragmatisch unterstützte.
Jetzt ist der 22. Mai 2020 ein Tag in einer Welt mit Corona. Es ist eine andere Welt, die uns auch nach ersten Lockerungen zwingt, darüber nachzudenken, wer oder was uns wirklich wichtig ist im Leben, wie solidarisch wir sein können oder wollen oder auch nicht, wer dazugehören darf und wer nicht, welche Privilegien wir besitzen oder teilen können, welchen Medien und Systemen wir Glauben schenken oder misstrauen, wofür oder wogegen wir uns engagieren wollen oder müssen, wie wir eigentlich miteinander leben wollen. Und natürlich wünschen wir uns alle auch, dass manches ganz schnell wieder wie früher wird, dass man geliebte Menschen und Freund*innen wieder fest umarmen kann, dass man wieder Gespräche am Tisch führen kann, ohne Angst zu haben, dass man sich zu nah kommt. Und dabei stellt sich wieder die Frage, welche Regeln für ein gemeinsames verantwortliches Miteinander man bereit ist zu akzeptieren und welche nicht, wovon man sich vielleicht verabschieden sollte und was man in das eigene Leben und auch in die eigene Kunst einlädt. Eigentlich schließt keine Frage eine andere aus, die Antworten darauf aber vielleicht schon. Sicher ist: Es gibt keine Lebensbereiche mehr, die nicht davon betroffen sind, sie im Lichte der Zeit während und irgendwann hoffentlich nach Corona zu sehen.
Viele dieser Fragen begegnen uns im Theatertreffen der Jugend auch ohne Corona und das ist beruhigend. Fragen an die Welt, an das Miteinander, an das „Ich“. Fragen, die mittels des Theaters verhandelt werden, auf die es nicht immer die eine richtige Antwort gibt, die aber das Suchen in Gang setzen. Und das mit Ideenreichtum und Kunstfertigkeit, Spiellust und Energie, starken, zarten, poetischen Bildern, mit politischer Haltung, mit aller Ernsthaftigkeit und viel Humor. Alle 21 Gruppen der Zwischenauswahl haben damit die Jury schon bei der Sichtung überzeugt. Alles war schon da. Und allen Ensembles gilt an dieser Stelle unser Dank, dass ihr eure Stücke unter besonderen Bedingungen gerade noch gezeigt habt. Und unser ehrliches Bedauern richtet sich an alle Theatergruppen, die nicht mehr für die Jury spielen konnten. Auch das weitere Programm war schon da. Expert*innen und Künstler*innen hatten Workshops konzipiert und Gesprächsformate geplant für die Spieler*innen und ihre Leiter*innen. Und auch unsere Redaktionsleitung der Festivalzeitung war mitten in den Vorbereitungen. All ihnen sei herzlich gedankt! Besonderer Dank gilt unseren Juror*innen, die, zwar ahnend, was da auf uns zukommt, aber dennoch immer hoffend, die Juryarbeit bis zum Tag X mit riesiger Freude und viel Herzblut für das Theater der Jugend ausgeführt haben. Und auf keinen Fall möchte ich es vermissen müssen, mit einem wunderbaren Team diese vier Wettbewerbe und Treffen durchzuführen mit der Unterstützung von vielen Kolleg*innen im Haus der Berliner Festspiele. Danke!
Wir fragen uns, wie das Theatertreffen der Jugend 2020 gewesen wäre. Und mit Blick auf die Zwischenauswahl und die Menschen, die auf die eine oder andere Weise daran beteiligt gewesen wären, sagen wir ganz selbstbewusst: Natürlich wäre es großartig gewesen, überfordernd, aber großartig! Auch wenn das im Moment kein Trost sein kann, es wird wieder so sein im kommenden Jahr, auch wenn nichts mehr ist, wie es war. So viel ist sicher.
Herzliche Grüße im Namen des gesamten Teams der Bundeswettbewerbe der Berliner Festspiele!
Christina Schulz