Das Ensemble Modern tritt in diesem Jahr beim Musikfest Berlin in seiner zum großen Orchester erweiterten Formation auf. Mit einem Programm, das in seiner ersten Hälfte dem Werk Anton Weberns huldigt. Diesem Komponist und seinem Werk kommt eine entscheidende Rolle in der Gründungsphase des Ensembles zu Beginn der 80er Jahre zu. „paysage/passage“ ein Werk von Mathias Spahlinger aus dem Jahren 1988–1990 , für viele jüngere Komponist*innen ein wichtiger Impulsgeber, nicht zuletzt für den Komponisten und Dirigenten des Abends Enno Poppe, bestimmt die zweite Hälfte des Abends.
„passage/paysage“ ist ein Jahrhundertwerk, und es hat sich herausgestellt, dass es unter den jüngeren Komponisten kaum einen gibt, dem dieses Stück nicht den Schweiß auf die Stirn und den Schauer auf den Rücken getrieben hat. Wir hatten mit diesem Stück unseren „Sacre du printemps“, das Stück, das die bisherigen Gesetze außer Kraft setzte und durch etwas ersetzte, was wir noch nicht verstehen konnten.
(Enno Poppe)
Martina Seeber: Das Orchesterwerk „passage/paysage“ hat das Publikum gleich bei der Uraufführung 1990 in Donaueschingen gespalten. Vielleicht auch, weil es die Anwesenden mit der Frage allein lässt, warum es diesen ungewöhnlichen Verlauf nimmt und ausgehend vom ersten Akkord der „Eroica“ von Beethoven, in eine radikale „Pizzikato-Orgie“ (Die Zeit) mündet. Warum beginnt das Werk mit dem Anfangsakkord von Beethovens „Eroica“ ? Was ist das für ein kurzer, verbeulter Urknall?
Mathias Spahlinger: Das Thema des Stückes ist Entwicklung. In kleinsten Schritten verändert sich etwas, was dann plötzlich zu einem qualitativen Sprung führt, der eine Änderung in der Wahrnehmung hervorruft. Das ist das Thema. Aber wie kommt man in ein Stück hinein, das nur aus allmählichen Übergängen besteht? Wo es kein „Erstes“, keinen Anfang gibt? Es kann also nur einen angeschnittenen Anfang und ein ebensolches Ende geben. Und so ist es hier. Damit das klar wird, sind diese beiden Akkorde teils noch nicht Beethoven und teils schon nicht mehr Beethoven, denn die Töne, aus denen sich die Akkorde zusammensetzen, sind entweder zu tief, zu hoch, zu laut oder zu leise. Oder sie sind noch nicht das, als was sie bei Beethoven erscheinen oder sie sind es nicht mehr.
Dieser griffige Anfang, der bewusst nicht von mir stammt, soll zeigen, dass alles, was passiert, bereits Teil einer allmählichen Veränderung ist. In meinem Stück gibt es keine Übergänge von einem festen zu einem anderen festen Zustand. Jeder der Zustände, egal wo man ihn anhält, ist bereits in Veränderung begriffen.
Sie haben einmal geschrieben, dass nur dort etwas keimen kann, wo etwas zerfällt: „dass alle veränderungen, alle komponierten eingriffe, dort anknüpfen, wo in der sache selbst sozusagen der keim des zerfalls steckt.“
Was mich schon immer interessiert hat, sind Ordnungssysteme. Sie enthalten Widersprüche. Nimm an, du besitzt drei Hüte, drei Jacken und drei Hosen in den drei Farben, rot, grün und blau. Wie kannst du sie sortieren? Wenn ich je eine Schublade für Jacken, Hosen und Hüte habe, geraten die Farben durcheinander. Wenn man Ordnung stiften will, hat man es immer mit dem Problem zu tun, dass Ordnung nach einem Kriterium immer Unordnung in jeder anderen Hinsicht bedeuten kann.
Der Beginn der Neuen Musik ist eigentlich nichts anderes, als der Versuch, die musikalischen Ordnungskategorien systematisch durcheinander zu bringen oder bewusst zu machen. Ich behaupte, dass alle musikalischen Revolutionen ein relativ geschlossenes System von Beziehungen gekippt und durch andere geschlossene Systeme ersetzt haben. Die neuen Beziehungen gelten dann genauso unhinterfragt wie die vorherigen. Bei der Neuen Musik war das aber nicht der Fall. Die Neue Musik hat keine neuen Konventionen erfunden.
Der Abschied von den Ordnungssystemen führt zu einer Freiheit, die berauschen kann, die man aber auch aushalten können muss.
Aber man versteht vielleicht zum ersten Mal, was Freiheit überhaupt ist. Menschen sind nicht einfach entweder frei oder gefangen. Sie können aber wissen, was Freiheit ist. Sie können verstehen, dass man nur in dem Maße frei sein kann, wie man sich seiner Konditionierung bewusst ist. Freiheit bedeutet nicht, einen x-beliebigen Ton hinzuschreiben. Freiheit bedeutet, dass man durchschaut, in welcher Enge man sich bewegt.
Kurz nach „passage/paysage“ habe ich an der Freiburger Hochschule die Leitung des Instituts für Neue Musik übernommen. In einem der ersten Seminare hat jemand gefragt: Was ist denn das, die Neue Musik?
Eine verdammt gute Frage. Ich dachte, als Leiter eines Instituts für Neue Musik, musst du in der Lage sein, sie kurz und bündig zu beantworten, und auch so, dass sie jeder versteht. Eine der kürzesten Antworten darauf kann heißen: Die Neue Musik hat eine Revolution vollzogen, die nicht wieder in Konventionen gemündet ist. Und die Revolution besteht darin, dass sich das Verhältnis der Teile zum Ganzen, die Ordnungsprinzipien prinzipiell verändern.
Was bedeutet das für „passage/paysage“ ? Was passiert, wenn die Systeme, die Regelwerke, die Ordnungen zerfallen ?
Es gibt hier Veränderungen in alle möglichen Richtungen.
Veränderungen ins Offene…
Ich versuche zu verstehen, was es bedeutet, wenn wir das veränderte Verhältnis des Tons zur Tonalität oder zur Tonleiter auf alle anderen Eigenschaften der Musik übertragen. Ich schätze, dass 80 oder 90 Prozent der Eigenschaften, die Musik hat, noch gar nicht entdeckt sind.
Die Neue Musik steht am Anfang, auch wenn man sagt, dass sie 100 Jahre alt ist. Das ist der Beginn von etwas.
Für eine ganze Generation von jüngeren Komponist*innen war „passage/paysage“ ein Erweckungserlebnis. Im Konzert des Ensemble Modern Orchestra wird Ihre Komposition mit Werken von Anton Webern kombiniert. Webern war für die Nachkriegsgeneration eine der wichtigsten Bezugsfiguren. Wie wichtig war er für Sie?
Mir bedeutet er viel. Anton Webern ist mir von den Vertretern der Wiener Schule der Liebste. Unmittelbar gefolgt von Schönberg. Mein Herz schlägt aber für Webern, und zwar für die kleinen Kammermusikstücke, die Werke für Streichquartett, für Cello und Klavier und vor allem für die Bagatellen. Ich kann es nicht theoretisch begründen, es ist eine Erfahrung. Was diese Musik emotional vermittelt, ist – trotz der wenigen Noten – ganz nah an der Spätromantik. Der Pianist Peter Stadlen, der mit Webern die Variationen op. 27 gearbeitet hat, berichtet, dass Webern von zwei Tönen sprach, als seien es Kaskaden von Tönen, als spiegelten sich darin ganze Welten von Gefühlsausbrüchen. Das ist typisch für Webern und hat mir schon als Kind den Zugang ermöglicht. In der Musikpsychologie heißt es, dass jeder Mensch die Musik am liebsten hat, mit der er aufgewachsen ist. Ich muss zugeben, es stimmt. Weil mir Webern so gefallen hat, haben mein Vater, der Orchestermusiker war, und seine Kollegen schon früh gefragt: „Was hat das Kind?“
Das Konzert mit dem Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Enno Poppe findet am 3. September 2018 um 20 Uhr in der Philharmonie statt. Um 19 Uhr findet eine Einführung zu „passage/paysage“ mit der Musikjournalistin Leonie Reineke statt. Über die Musik Anton Weberns und ihre Rezeption spricht und diskutiert das „Quartett der Kritiker“ bereits um 17 Uhr im Ausstellungsfoyer des Kammermusiksaals.