Wie sieht es eigentlich aus, wenn wir Überschneidung, Überlappung, ein Ineinandergreifen von Mensch und Umwelt aktiv mitbedenken und uns als posthumanistische Wesen begreifen? Luna Ali, Studentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, stellt Thesen auf und blickt in die Zukunft.
Während des World Economic Forums Anfang 2018 schlug der ehemalige Englischlehrer Jack Ma, derzeit chinesischer Unternehmer und Multi-Milliardär, vor, das Bildungssystem zu reformieren. Dies sei die größte Herausforderung der Zukunft, denn gegen Maschinen würden unsere Kinder nicht gewinnen können. Nur wenn wir ihnen Mitgefühl und selbständiges Denken beibringen, hätten sie einzigartige Fähigkeiten, die sie von Maschinen abgrenzen. Denn die heutigen Soft Skills sind die zukünftigen Hard Skills.
Die Tagesschau machte aus dem Panel, an dem Jack Ma teilnahm, schnell einen knapp zweiminütigen Clip, der bereits fünf Millionen Mal gesehen wurde. Untermalt ist er mit der klassisch eindringlichen Musik, die Meinungs-Clips heutzutage haben, zwischen der atmosphärischen Musik klingt hier und da ein Klavier. Die Musik wird zum Ende hin fröhlicher, drängender, denn Jack Ma schlägt vor, Fächer wie Sport, Kunst und Musik in den Vordergrund zu stellen. Der Clip endet mit drei Tönen, die dem Gesagten Nachdruck verleihen sollen – ein Traum des gediegenen Bürgertums.
Es ist immer wieder belustigend, wenn die banalste Erkenntnis mit solcher Dramatik präsentiert wird. Ein Gang in ein Klassenzimmer sollte genügen, um feststellen zu können, dass das Bildungssystem veraltet ist. Lehrer*in an der Tafel. Schüler*innen an den Tischen. Ein Bild wie aus dem Mittelalter oder zumindest genauso alt. Zahlreiche Studien belegen Jack Mas Worte, vor allem aber, dass Lernen individualisiert stattfinden sollte. Die Angst vor der Technisierung ist natürlich eine gute Triebfeder, um dem Argument Nachdruck zu verleihen: Bildungsreform JETZT!
Aber hier liegt etwas wesentlich Grundsätzlicheres im Argen: Wer ist dieser Mensch, von dem wir sprechen, wenn wir von Maschinen im selben Satz reden? „Der Mensch“ wird in Abgrenzung zu anderen Wesen konstruiert. Seien es Tiere, seien es Maschinen. Dies hindert uns jedoch daran, „den Menschen“ wirklich zu verstehen. Spätestens seit der Evolutionstheorie sollte uns bekannt sein, dass es eine strikte Trennung zwischen Menschen und Natur gar nicht gibt, schließlich teilen wir 50 % unseres Erbgutes mit Bananen. Seit der Romantik scheint die Beziehung zu Maschinen eine Rolle zu spielen, die Menschen stark verwirrt, wenn nicht sogar in den Wahnsinn treibt. Aber eigentlich müsste man meinen, spätestens seit Chirurg*innen Herzschrittmacher in unsere Körper einbauen können, müsste wir auch hier die Grenzen verwischt sehen. Tun wir jedoch nicht, denn sie sind fester Bestandteil unseres Denkens und der Art und Weise, wie wir unsere Umwelt und uns selbst verstehen. Wir denken in abgegrenzten Einheiten, essenzialisieren und bilden binäre Oppositionen: Kultur/Natur, Mann/Frau, zivilisiert/primitiv, richtig/falsch, Wahrheit/Illusion, Wir/die Anderen. Aber wenn sich „der Mensch“ weder von der Banane noch von der Maschine so wirklich trennen kann oder lässt, was bleibt dann übrig?
Donna Haraway wies in ihrem „Cyborg Manifesto“ darauf hin, dass wir diese binären Oppositionen überwinden sollten. Stellen wir uns also eine Welt vor, die posthumanistisch sei.
Menschen haben Maschinen erschaffen, genauso wie sie andere Menschen erschaffen haben und wie sie auf die Natur eingewirkt haben. Und weil wir nicht abgegrenzte Einheiten sind, wirken Natur (vor allem der anstehende Klimawandel) und Maschinen auf uns zurück. Ein Umdenken, in dem wir Überschneidung, Überlappung, ein Ineinandergreifen von Mensch und Umwelt aktiv mitbedenken, würde nicht nur dazu führen, dass wir aufhören, Umweltschutz als Luxusaufgabe zu sehen, sondern auch, dass wir das Blackboxing von Maschinen, Algorithmen, Technik und Digitalisierung näher beleuchten.
Wir würden Handys nicht als Funktionsgegenstände sehen, sondern als die Datenbank unserer Erinnerungen, unserer tiefsten Geheimnisse, die wir schnell mal unter „Notizen“ gespeichert haben, Liebesbotschaften und Selbstportraits. Handys, könnte man behaupten, sind ein Schritt Richtung Singularität, weil die Evolution längst kein rein biologischer, sondern auch ein technischer Prozess ist. Die Wissenschaftlerin Marilyn Maness Mehaffy schreibt hierzu: “[the] sonographic foetus is in many ways the ultimate cyborg in that it is ‘created’ in a space of virtuality that straddles the conventional boundary between an organic body and a digital text.”
Wir würden auch nicht dem Irrglauben anheimfallen, dass Maschinen, Algorithmen oder Roboter neutral, rational oder vorurteilsfrei seien. Dieser Irrglaube führt nicht nur dazu, dass der erste KI Bot Tay von Microsoft plötzlich rassistische und sexistische Tweets postete. Wir ernten, was wir säen. Und gesät wurden zahlreiche rassistische und sexistische Tweets durch andere User*innen. Genauso erging es Google mit ihrer Gesichtserkennungssoftware, deren Algorithmus Jacky Alciné rassistisch beleidigte. Denn Maschinen, Algorithmen oder Roboter sind nur so rassistisch und sexistisch wie ihre Schöpfer*innen.
Es gibt bereits einen Begriff dafür: automatisierte Diskriminierung. Konkret wird diese bald in Österreich stattfinden, wenn künftig Jobcenter mithilfe einer Software die Chancen von arbeitslosen Menschen, wieder auf den Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, errechnen. Je nachdem wie diese abschneiden, erhalten sie Förderung oder eben nicht. Es kann bereits vorausgesagt werden, dass 85 % der Ergebnisse, die die Software errechnet, falsch sein werden. Mitgefühl und selbständiges Denken sind also sehr gefragt. Aber vor allem auch ein Umdenken.
Wir sehen noch zu viele Grenzen, wo eigentlich keine sind. Wenn wir keinen Raum für Überschneidungen zulassen oder wenn wir diesen Zwischenraum nicht näher beleuchten, dann werden weder Menschen noch Maschinen eine Chance haben, den Klimawandel zu überleben.