Keine BBC Proms ohne das John Wilson Orchestra. In Großbritannien und in den USA ist es ein Publikumsmagnet, hierzulande noch (!) ein Geheimtipp. Beim Musikfest Berlin 2016 gibt das John Wilson Orchestra sein Deutschland-Debüt. Unter dem Titel „A Celebration of the MGM Film Musicals“ präsentiert es eine erlesene Auswahl der schönsten Titel aus den goldenen 30er, 40er und 50er Jahren der Metro-Goldwyn-Mayer Film Musical-Produktionen – Meilensteine, der Film- und Musikgeschichte.  Kevin Clarke beschreibt Geschichte und Produktionsweise dieser einzigartigen Musikkultur.

Filmplakat zu „Brigadoon“ (1954) Frederick Loewe (Musik), Alan Jay Lerner (Liedtexte), Conrad Salinger (Arrangements)

Ganz unbescheiden lautete der Werbeslogan von Metro-Goldwyn-Mayer: „Mehr Sterne als am Firmament blitzen!“ In der Tat waren bei MGM mehr Stars unter Vertrag als irgendwo sonst. Und die Filme, die das Hollywoodstudio mit diesen Stars produzierte, gingen mit Sensationserfolg um den Globus, besonders die Musicals mit ihren atemberaubenden Tanzsequenzen und mitreißenden Songs. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs liefen die meisten dieser Musikfilme auch in Deutschland. Sie setzten hierzulande Maßstäbe, an denen sich auch die Nazis orientierten. Joseph Goebbels vermerkte 1937 in seinem Tagebuch: „Film zum Studieren geschaut. „Broadway Melody“. Flott und mit rasendem Tempo gemacht. Das können die Amerikaner. Der Inhalt ist ein großer Quatsch. Aber wie sie das anfassen, das ist gekonnt.“ Das „Berliner Tageblatt“ schwärmte ebenso: „Welches Können in der Lockerheit, der Leichtigkeit, mit der alles so süperb sich abwickelt, wie sitzt das alles.“

 

Die MGM-Produktionen waren in den 1930er-Jahren für viele Deutsche eine Alternative zu den Marika Rökk/Johannes-Heesters-Filmoperetten, die neben der US-Konkurrenz geradezu provinziell wirken. In „Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich“ schreibt Markus Spieker: „Der Berliner Kurfürstendamm am 1. April 1936: Im Filmpalast Marmorhaus läuft, nun schon in der achten Woche, das amerikanische Musical ‚Broadway Melody‘. Der Zuschauerandrang hat seit der Premiere sogar zugenommen. Schon mittags bilden sich an der Kasse Schlangen von Leuten, die Eintrittskarten für die 7-Uhr-Vorstellung ergattern wollen. Wer leer ausgeht, braucht nach gleichwertigem Ersatz nicht lange zu suchen. … Amerikanische Spitzenproduktionen wie ‚Born To Dance‘ erzielten häufig höhere Popularitätswerte als die deutsche Konkurrenz. … Noch im Kriegsjahr 1940 brachte es das Hollywood-Musical ‚Broadway Serenade‘ im Berliner Astor-Kino auf eine Laufzeit von acht Wochen und übertraf damit sogar die Spieldauer des einige Monate später gestarteten Hetzfilms ‚Jud Süss‘.“

MGM-Mitarbeiter, ca.1955 (von links Hugo Friedländer; dritter von links Zádar; am Tischende John Green; ganz rechts André Prévin)

Dass diese Filme so erfolgreich waren, war das Verdienst von Produzent Arthur Freed. Er war bei MGM für die Musikfilmsparte zuständig. In seine „Freed Unit“ holte er sich die innovativsten Regisseure (Vincente Minnelli, Stanley Donen), Drehbuchautoren (Alan Jay Lerner), Choreographen (Busby Berkely, Gene Kelly), Dirigenten (André Previn) und Stars: von Fred Astaire bis zu Frank Sinatra, von Eleonor Powell über Ava Gardner bis zu Doris Day waren alle dabei. Allen voran die Freed-Entdeckung Judy Garland, für die er „The Wizard of Oz“ drehte und damit seinen ersten Mega-Erfolg als Produzent landete. Der Film wurde mit Oscars überhäuft, wie viele spätere auch. „Singin‘ in the Rain” schaffte es sogar in die Top 10 Liste der „Greatest American Motion Picture of All Time“.

Filmplakat zu „The Wizard of Oz“ (1939) Harold Arlen (Musik), E.Y. Harburg (Liedtexte, Conrad Salinger (Arrangement)

Für den speziellen Sound der Freed-Unit-Filme war seit 1943 Orchestrator Conrad Salinger verantwortlich. Der hatte in Paris bei André Gédalge studiert, zu dessen Schülern Maurice Ravel, Darius Milhaud und Arthur Honegger gehörten. Salinger kreierte für MGM einen Deluxe-Klang, der sich besonders in den ausgedehnten Ballettpassagen voll entfaltete. Diese Tanzszenen sind Tondichtungen, die mit immer neuen Orchesterfarben und Instrumentaleffekten den Zuschauer und -hörer staunen machen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte MGM, in Deutschland an die alte Erfolgswelle anzuknüpfen. Allerdings hatten 12 Jahre Nazi-Propaganda ihre Spuren hinterlassen. Man wollte hierzulande jetzt lieber „Schwarzwaldmädel“ und „Försterchristl“ sehen als die Erzeugnisse der Freed Unit. Die Folge: Die meisten MGM-Musikfilme wurden in der Bundesrepublik Deutschland kaum wahrgenommen. Während die französischen Regisseure wie Jacques Rivette, Éric Rohmer und Jean-Luc Godard die MGM-Meisterwerke bewunderten und Minnelli, Donen & Co. zu „Göttern“ erklärten, blieb solche Würdigung hier aus. Entertainment war vielen Intellektuellen ohnehin suspekt, in der Folge der NS-Vergewaltigung von Unterhaltung zu Volksverdummung.

Die MGM-Musikfilme kamen zwar in Synchronfassungen ins Kino, mit Comedian Harmonist Erwin Bootz oder Erik Ode als singenden Sprechern. Aber die Übertragung der Lieder ins Deutsche glückte selten: die brillante Nonchalance der Originaltexte wurde ertränkt in peinlichen Schlagerreimen. Es dauerte Jahrzehnte, bis MGM-Musicals eine weitere Chance bekamen. Ab Oktober 1973 präsentierte das ZDF unter dem Titel „Des Broadways liebstes Kind“ etliche der Filme, manche zum ersten Mal: „Meet Me In St. Louis“ von 1944 kam beispielsweise als „Heimweh nach St. Louis“ erst 1980 zur deutschen Erstaufführung. Leider waren viele dieser späten Ausstrahlungen lustlos nachsynchronisiert, was die Wirkung stark minderte.
Während MGM-Musicals in den USA heute Kult sind, haben die Filme und Lieder in Deutschland nie größere Bekanntheit gefunden. In Amerika lebt die Tradition des Hollywood-Musicals weiter in fast jedem modernen Animationsfilm (z. B. „Happy Feet“ von 2006 mit Tanzszenen à la Busby Berkely) oder in TV-Serien wie „Glee“ und der „High School Musical“-Trilogie: mit Superstars besetzt, an ein junges Publikum gerichtet und bei diesem eine Wertschätzung für den „alten“ Stil erzeugend. Von solch einer Integration in die Populärkultur sind Musicals in Deutschland weit entfernt. Während in Hollywood nach wie vor jeder Star singen und tanzen kann, egal ob es Zac Efron, Channing Tatum oder Scarlett Johansson ist, müsste man in der deutschen Filmszene lange suchen, um etwas Vergleichbares zu finden.

Nun bietet das Musikfest Berlin die seltene Gelegenheit, die berühmten Musiknummern – inklusive der rauschhaften Tanzsequenzen, die man auf den originalen LP-Ausgaben der Soundtracks nicht findet – in einem Konzert live zu hören: mit gloriosem Salinger-Sound, anglo-amerikanischen Gesangssoliten wie Louise Dearman, Scarlett Strallen, Matthew Ford und Richard Morrison) und dem John Wilson Orchestra unter seinem charismatischen Leiter John Wilson. Natürlich wirken die Klänge anders, wenn man die Szenen aus den Filmen kennt. Aber einer der Vorteile unserer digitalisierten Welt ist, dass inzwischen fast alle Sequenzen im Internet verfügbar sind. Wer einmal das „Heather on the Hill“-Ballett aus „Brigadoon“ oder den „Barn Dance“ aus „Seven Brides for Seven Brothers“ gesehen und gehört hat, vom Gershwin-Knaller „I Got Rhythm“ aus „An American In Paris“ ganz zu schweigen, der weiß, was Freed meinte mit :

„Do it big, do it right, give it class!“

 

Das Konzert mit dem John Wilson Orchestra findet am 4. September um 19 Uhr in der Philharmonie statt. Eine Stunde vorher, um 18 Uhr, führt Kevin Clarke in das Konzert ein.