Meine Schwester wandte sich vom Auto ab und mir zu, ihre Augen erfüllt mit einer Mischung aus Verwirrung und Mitleid. Sie sagte kein Wort, aber das brauchte sie auch nicht – ihr Blick sagte alles: „Jetzt mach nicht so ein Drama.“

Das Englische ist – wie das Deutsche – voller Redewendungen, die die Theatralität der banalsten Alltagsdinge andeuten: „Eine Maske aufsetzen. Eine Szene machen. Den Schein wahren.“ In der Sprache spiegelt sich die Tatsache, dass Leben auch Agieren heißt, und zwar in jedem Sinn des Wortes. Man spielt viele Rollen – einige davon fallen einem ganz leicht, andere erfordern eine bewusste Darbietung oder sogar Verstellung. Ob zu Hause oder bei der Arbeit, mit Freunden oder Geliebten, allein oder in der Öffentlichkeit: Man verändert sich, verschiedene Teile der eigenen Persönlichkeit verblassen oder drängen sich in den Vordergrund. Mit der Zeit gleichen sich die vielen Versionen des Selbst immer weiter an – oder zumindest sollte es so sein, denke ich, je selbstsicherer man wird. Und trotzdem habe ich, unabhängig vom Kontext, oft das Gefühl, dass ich das Dasein immer noch probe, dass ich immer noch das Stichwort verpasse, mich immer noch in meinem Text verheddere. Doch vielleicht gehört auch das zur Rolle und wird auch weiterhin dazugehören, solange „ich die Wahrheit nicht spreche, wie ich möchte, sondern soweit ich es wage”, obwohl ich, wie Michel de Montaigne, „etwas mehr wage, je älter ich werde”.

Meine „Schauspielkarriere” begann schon früh, als ich – ich war sechs oder sieben – es mir zur Aufgabe machte, dafür zu sorgen, dass meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich wie eine vollkommen glückliche Familie wirkten. Nicht dass es offensichtliche äußerliche Anzeichen gegeben hätte, das dem nicht so war, aber die regelmäßigen Auseinandersetzungen meiner Eltern, die in langes Schweigen meiner Mutter und kurze Abwesenheiten meines Vaters mündeten, untermauerten in unserer kleinen Truppe das Bedürfnis nach Sicherheit. Ich wurde extra vergnügt und gesellig, als könnte mein Geplapper beim Abendessen ihre simmernde Traurigkeit und ihren Ärger übermalen. Als wir durch das Sarit Centre liefen, damals die einzige Mall in ganz Nairobi, in der Familien am Wochenende auf und ab spazierten und ihre Zusammengehörigkeit durch den gemeinsamen Verzehr von frischen Chips und Zuckerrohrsaft unter Beweis stellten, nahm ich erst meinen Vater und dann meine Mutter bei der Hand. So hing ich an beiden, lächelte und sagte mir, dass wir bis in alle Ewigkeit zusammenblieben. Im Auto war es schwerer, die Entfremdung zwischen ihnen zu ignorieren, Trübsal erfüllte den Citroën, noch erdrückender als der muffige Geruch, der aus der Rückbank aufstieg, seitdem der Wagen eine Nacht lang mit offenem Fenster im strömenden Regen draußen gestanden hatte. Manches Mal konnte noch so viel Gesang und Witzelei die Stimmung in diesem stickigen Raum nicht aufhellen. Meine Schwester gab auf und begann zu lesen oder starrte hinaus auf die vorüberziehende Welt. Ich hasste es, aus dem Fenster zu sehen, denn ich war überzeugt, dass jemand, der im Vorübergehen oder –fahren zu uns hineinblickte, unser Elend erkennen und es damit wahr werden lassen würde. Ich tat also so, als könnte es mir gar nicht besser gehen: Ich täuschte Unterhaltungen vor, wedelte mit den Händen, warf den Kopf zurück und lachte gekünstelt und lautlos vor mich hin. Sobald das Auto an einer Ampel anhielt, wurden diese Anstrengungen noch lebhafter. Meine Schwester, die mich schon lange nicht mehr fragte, was ich da machte, sah gelegentlich mit steifem Gesicht zu mir herüber, in dem ihre unausgesprochene Bitte lag: „Jetzt mach nicht so ein Drama.“

Mehr als zehn Jahre später trennten sich meine Eltern. Ich war neunzehn und studierte inzwischen an der Universität in Bristol, wo ich gerade mein erstes Theaterstück schrieb und inszenierte, eine Pantomime mit dem Titel „Schneewittchen und die zehn Frauenfeinde“. Das lang befürchtete Familiendrama nahm unterdessen in meiner Abwesenheit seinen Lauf. Die unschönen tragischen Szenen wurden mir erspart. In Wahrheit ging ich ihnen aus dem Weg, fand Ausflüchte, um nicht nach Hause fahren zu müssen. Ich lenkte mich ab, indem ich mich auf Fragen der Besetzung, des komischen Timings und Cross-Dressing konzentrierte. Ich bekam einen ersten Eindruck von der Zuflucht, die die Kunst gewährt, und ahnte, dass keine Bühne wirkmächtiger ist als die Bühne des Geistes, wo alles gleichzeitig passiert und wo selbst der Akt, den man verpasst, einen später wieder einholen kann.

Zwanzig Jahre nach diesem ersten Stück schrieb ich ein zweites. Dazwischen hatte ich Romane und Essays veröffentlicht, jede Menge Theateraufführungen gesehen und Deutsch gelernt. Das Stück, das dabei herauskam, „Life Vest“, unterscheidet sich von jenem meiner Studienzeit in praktisch allem, doch der Rausch, der es hervorbrachte – übermütiges, fieberhaftes Schreiben Tage und Nächte hindurch, beinahe ohne Pause –, war derselbe, genau wie der glühende Wunsch, das Stück auf der Bühne zu sehen. Es ist seltsam, einen Text zu schreiben und zu spüren, dass die Worte auf der Seite nicht genügen. Bei einem Roman frage ich mich nie, wie er sich als Hörbuch oder Film machen würde, denn selbst als Dokument auf meinem Computer ist er seiner Inkarnation als gebundenes Buch schon sehr nahe. Aber bei einem Theaterstück verlangen die Zeilen nach mehr – bevor sie nicht von dem Boden einer Bühne zurückgeworfen werden und in den Rängen nachhallen, sind sie unvollständig.

Der Roman ist für mich die Form, in der man einen anderen am tiefgründigsten und innigsten daran teilhaben lassen kann, was es heißt, ein Mensch zu sein, in all der wunderbaren, qualvollen Komplexität, die damit einhergeht. Das Theater aber verfügt – mit seiner Direkt- und Nacktheit, der Unmittelbarkeit und, vor allem, seiner Gemeinschaftlichkeit – über eine außergewöhnliche, unvergleichliche Kraft. Gerade heute erscheint mir diese Gattung besonders gültig und wertvoll. Es gibt immer weniger Orte in der Gesellschaft, in der die Menschen freiwillig zusammenkommen, um übereinander nachzudenken und einander ohne die Vermittlung von Bildschirmen und ohne Kaufzwang zu betrachten. In fast jedem Lebensbereich, insbesondere in der digitalen Welt, in der Massenüberwachung alles, was wir machen, festhält und vorhersagt, wird uns unablässig gesagt – ganz offen oder fast unmerklich –, was wir zu denken haben. In einer solchen Umgebung können wir nicht wirklich denken, nur reagieren – stupide, oberflächlich, automatisch. Das Theater gibt uns einen Raum, in dem wir nachdenken können, allein oder gemeinsam. Was nicht heißt, dass Theater nicht Propaganda sein kann, salbadernd, moralisierend oder sogar Fake; gutes Theater aber schafft in uns selbst Raum für neue Ideen, Fragen und Impulse.

Wie jede Kunst kann das Theater politisch sein, ohne Politik offen anzurühren, doch finde ich selbst es am aufregendsten, wenn ein Theaterstück die Welt unverblümt anpackt, wenn es die Illusionen und die Überzeugungen einer Gesellschaft, ihre Schwächen und Fehler angeht. Ich bevorzuge Stücke, die, mit Arthur Miller gesprochen, „soziale Dokumente sind, keine belanglosen Privatgespräche”. Dies zu erreichen, bleibt eine Herausforderung, die viele Theaterleute derzeit auf eine so eigensinnige Art beantworten, dass sie einen Namen verdient. Ich nenne sie Pol Art.

Pol Art ist die ernste Schwester der Pop Art. Beide finden ihre Bilder im Hier und Jetzt, doch wo Pop Art sich nur für die Oberfläche interessiert („What you see is what you get”), geht Pol Art in die Tiefe – was man sieht, hängt davon ab, was zu sehen man bereit ist. Pol Art hat immer einen dokumentarischen Aspekt, sie mischt die Formen, kombiniert Bilder mit Worten und braucht Zeit. Wie auch immer sie sich ausdrücken mag – Video, Malerei, Text, Fotografie, Skulptur –, Pol Art ist häufig verdichtet. Sie ist weit entfernt von der „lass dich blenden und das war’s”-Attitüde der Pop Art, ihre Ansprache ist deutlicher, sie sagt: „Bleib hier, sieh hin, sieh nochmal hin, sieh hin, auch wenn du glaubst, es keinen Moment länger auszuhalten.”

Schon immer haben Künstler auf diese Art gearbeitet, doch plötzlich gibt es so viele von ihnen zur selben Zeit, dass man von einer Bewegung sprechen kann. Pol Art spiegelt einen weltweiten Trend: Unzufriedenheit mit dem Status quo und den Wunsch nach Veränderung. Im deutschen Sprachraum gehören das Zentrum für Politische Schönheit und Milo Rau derzeit zu ihren radikalsten Vertretern. Pol Art ist die Methode des Künstlers, der die Dringlichkeit eines Themas spürt und es wagt, Position zu beziehen. Das neutrale mein-Stück-verrät-euch-nicht-was-ich-wirklich-glaube ist nichts für sie. Ihre Kunst stellt sich dem Moment und geht darüber hinaus – und will uns alle mitreißen.

Mit dieser Art Kunst entblößt man sich selbst, man übernimmt für ein Thema eine gewisse Last der Verantwortung – selbst wenn die Verpflichtung „nur” darin liegt, gut informiert über ein Thema zu sein, das scheinbar außerhalb der offensichtlichen Sphäre der eigenen Biografie und Erfahrung liegt. Doch politisch zu sein heißt auch, frei zu sein von den Begrenzungen des Persönlichen. Als ich mit Mitte zwanzig mit dem Schreiben anfing, glaubte ich, die Grenzen meines Selbst seien durch meine Herkunft bereits definiert. Später, als ich mich politisch zu engagieren begann, nahm ich das unendlich verworrene Netz weltweiter Verbindungen war, in das Fäden meines eigenen Daseins gesponnen und geknotet waren. Ich war dreißig Jahre alt, gut ausgebildet, belesen, weitgereist – und fing doch erst an zu verstehen, wie dicht verwoben die Welt ist, und dass niemand nur daher kommt, wo er geboren wurde oder wo er lebt.

Mehr als alles andere hat das Theater für mich mit Sehnsucht zu tun. Bei der Weihnachtsaufführung in Bristol machte ich wegen jemandem mit, der gern mitspielen wollte. Ich kannte nur sein wunderschönes Gesicht, den ebenso schönen Körper und die schwarzen, mit seltsamen, krustentierartigen Emblemen und dem Wort „Sepultura“ bedruckten T-Shirts. So nannte ich ihn, wenn auch nicht ihm gegenüber, selbst als ich seinen Namen bereits kannte. Mein Verlangen nach ihm brachte mich dazu, die Produktionsleitung zu übernehmen. Ich genoss die spezielle Macht als Autorin und Regisseurin, die es mir erlaubte, ihn – in der großen Tradition pantomimischer Gender-Verdrehung und begehrlicher Logik-Verdrehung – für die Rolle des Schneewittchens zu besetzen. Im – nie geäußerten und nie erwiderten – Verlangen nach Sepultura klang ein altvertrautes Gefühl nach, das ich aus der Grundschule kannte, wo jedes Jahr Stücke von Shakespeare aufgeführt wurden. Von großem Drama keine Spur: Ich bekam winzige Rollen, wurde allerdings aus irgendeinem Grund immer als Zweitbesetzung für eine der Hauptrollen ausgewählt. In „Romeo und Julia“ war ich Julias Mutter, musste aber auch Julias Part lernen – nur für den Fall. Ein Teil von mir hoffte die ganze Zeit, dass das Mädchen, das Julia spielte (eine gute Freundin), vorübergehend ausfallen würde. Doch keiner, dessen Ersatz ich war, fiel jemals aus, und mir blieb nur der Wunsch nach mehr, nach irgendeinem Höhepunkt jenseits der Bühne.

Der einzige Vorteil des Daseins als unangeforderter Ersatz – und erst später sah ich es als Vorteil – war, dass ich jede Menge Shakespeare aufsog und viele Passagen noch heute auswendig kann. Ich liebe es, im Theater zu sitzen und die gerade gesprochenen Zeilen zu kennen und auch die folgenden. Mehr noch aber liebe ich es, von einem erstaunlichen, mir bislang unbekannten Satz erfasst zu werden, der perfekt formuliert und vorgetragen ist. Das einzige, was besser ist als schön zusammengefügte Worte zu finden, ist, solche Worte kraftvoll dargebracht zu hören. Und das ist ein weiterer Grund, weshalb das Theater mich mit Sehnsucht erfüllt: Ich beneide Dramatiker um das Publikum, das gleichzeitig auf ein ganzes Werk reagiert. Man stelle sich vor, wie hunderte Menschen gleichzeitig einen Roman lesen und auf ihn reagieren – unmöglich! Doch im Theater passiert so etwas jeden Abend. Es ist der ideale Raum, in dem ein Mitbürger andere künstlerisch ansprechen kann, wo eine Gesellschaft sich gedanklich mit sich selbst konfrontieren kann, wo Worte jegliche Zärtlichkeit oder jeglichen Widerspruch rechtmäßig ausdrücken können, wo eine Romanautorin davon träumen kann, Theaterstücke zu schreiben und eine Studentin davon, den Star der Vorstellung zu küssen.

Pol Art ist nichts für Zaghafte. Es ist nichts für alle, die glauben, was Picasso einmal sagte – auch wenn er sich mit „Guernica“ widersprach, wie es Künstlern zusteht: „Zweck der Kunst ist es, uns den Staub des Alltags von der Seele zu waschen.” Pol Art macht das Gegenteil: Sie bläst uns den Staub des Lebens ins Gesicht. Sie zeigt uns all die Staubschichten, unter denen viele ersticken, manche, ohne dass sie es merken. Sie lässt uns mit einem schmutzigen Gefühl der Mitschuld zurück, aber auch erstaunt und dankbar – ohne Staub würden wir den Sonnenstrahl nicht sehen, der sich den Weg durch die Luft bahnt, Sonnenuntergänge wären weniger lebhaft, der Himmel hätte ein anderes Blau. Rückstände dieses Staubs kriechen in dich hinein. Sie nisten sich ein in Geist und Herz, kribbelnd, prickelnd, verstörend – bis die Sehnsucht nach Veränderung groß genug ist, dass du agierst und dir ansiehst, was passiert.

Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender

Die englische Originalfassung des Essays ist im Magazin zum 38. Theatertreffen der Jugend nachzulesen, das vom 2. bis 10. Juni 2017 im Haus der Berliner Festspiele stattfindet.