Liebe Freund*innen des Theatertreffens, liebe Partner*innen, liebe Kolleg*innen,

das Theatertreffen zeigt 2021 Inszenierungen aus einer Spielzeit der Lockdowns und reduzierten Kontakte in den deutschsprachigen Ländern. Dennoch fanden überraschend viele der geplanten Premieren an deutschsprachigen Theatern und freien Ensembles statt, sehr viele in anderer Form als erhofft, oft digital, manche ausschließlich online. Wenn wir das Theatertreffen in dieser Krisenzeit auch dank eines veränderten Sichtungsverfahrens dennoch durchführen, so vor allem deshalb, weil wir die Kreativität nicht nur der Aufführungen würdigen wollen, sondern genauso all die Bemühungen, sie zu ermöglichen. Und natürlich auch, um in diesen Tagen Beispiele für Schönheit und Intelligenz zu geben, mit der Theaterleute auf diese Welt und ihre Lage schauen.

Das Theatertreffen zeigt ein Polaroid dieser Spielzeit und der Gesellschaft.

Das Vorjahr und die letzten Monate waren eine Zeit der Existenzangst, der sozialen Spaltung, der Hilfsprogramme, der großen Müdigkeit nach elf Monaten Pandemie, Zoom und Inzidenz-Orakel. Für viele Freischaffende bricht nicht nur die Arbeit auf und hinter der Bühne weg. Es ist ein ganzer Kosmos, eine Ökologie des Kreativen, die bedroht ist – die der Künstler*innen, aber auch derer im Hintergrund, Beleuchter*innen, Agent*innen, Produzent*innen, Veranstalter*innen. Und vergessen wir nicht den ersten Absolvent*innenjahrgang, für den es keine Vorsprechen und Anschlussengagements gibt.

Es war das Theaterjahr, in der die Dramatik außerhalb der Bühnen unser aller Leben bestimmte: Es jährte sich der Anschlag auf eine Synagoge in Halle, der live von der Helmkamera eines Neonazis zu einem vorproduzierten Soundtrack ins Netz gestreamt wurde.

QAnon, ein Phänomen, das Merkmale eines Alternate Reality Games aufweist, hat die Grenzen zwischen Fiktion und Realität für viele unauflösbar verwischt, bis hin zur Umsetzung der versprochenen „Show“ im echten Leben bei der Erstürmung des Capitol in Washington oder dem Versuch des Eindringens in den Reichstag durch Querdenker*innen, Neonazis und Hygienedemonstrant*innen, die einer Verschwörungserzählung als Wahrheit folgen, unsere Demokratie für eine Farce halten und als Polit-Theater verachten. Arne Vogelgesang hat darüber einen großartigen Videoessay gedreht: „This Is Not a Game“. Er ist auf unserer Online-Plattform Berliner Festspiele on Demand zu sehen.

Es wird das Jahr sein, an dessen Ende Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin ist und wir uns vielleicht zum ersten Mal wieder umarmen oder die Hand geben.

Es ist ein Wendejahr: Corona hat uns nachdenklicher gemacht – wir verstehen die Notwendigkeit einer Verkehrswende, Klimawende, Wirtschaftswende. Corona hat viele Theaterkünstler*innen selbst ins Netz gebracht, nachdem bislang vor allem die digitalen Medien, Video- und CGI-Bilder auf der Bühne zu sehen waren. Es entstehen neue Ästhetiken und digitale Infrastrukturen und das wird bleiben.

Corona hat auch das ökologische Thema stärker an die Theater gebracht – wir erleben oder werden erleben, dass die Kulturstiftung des Bundes Fördergelder an nachhaltige Kriterien knüpft, dass unsere Klimaanlagen nicht nur auf Filter überprüft werden, sondern auch auf ihren Verbrauch.

Corona hat viele von uns repolitisiert. Kultur ist deutlich Waffe geworden, ob wir das wollen oder nicht – die Debatte um Cancel Culture, um identitäre Strategien, wird bleiben.

Phänomene wie QAnon und die technologiebasierte Überblendung von Fake und Dokument, Verschwörungstheorie und Entertainment durch digitale Communities bringen ein neues Verhältnis zur politischen Wirklichkeit hervor oder der Art, wie wir in ihr agieren. Die diesjährige Auswahl der Kritiker*innenjury ist während der Corona-Pandemie entstanden, ohne dass Corona ihr dominierendes Thema ist. Die Hintergrunderfahrung einer Wirklichkeit, die selber als Bühne und Plattform begriffen wird, ist in den Aufführungen dennoch spürbar, genauso wie eines gewachsenen Rollen- bzw. Inszenierungsbewusstseins auch da, wo die Welt außerhalb des Theaters gezeigt wird.

Und ausgerechnet in diesem Jahr der dramatischen Wechsel von Präsidentschaften und Einschlussperioden, Superwahlkampf und diversen Normalitätsverschiebungen werden die Berliner Festspiele 70 Jahre alt. In diesem Jubiläumsjahr haben wir die Geschichte des ersten Festspielintendanten Gerhart von Westerman recherchiert, des Intendanten des Berliner Philharmonischen Orchesters während der Nazizeit, und die vollständige Abwicklung all der traditionsreichen Berliner Festwochenstrukturen im Ostteil der Stadt nach der Wiedervereinigung 1990. Wir werden dazu zwei Archivräume im Gropius Bau einrichten, in denen sich auch die besondere Rolle des Theatertreffens in der deutsch-deutschen Geschichte widerspiegelt.

Eine weitere Besonderheit des Jubiläumsjahrs wird der Schwerpunkt zu The Living Theatre im diesjährigen Theatertreffen sein, der sich der Geschichte dieses New Yorker Avantgardetheaters mit seinen Berliner Exiljahren und den insgesamt vier Gastspielen bei den Berliner Festwochen und dem Theatertreffen gewidmet ist. Dem aktivistischen und auch spirituellen Wirken dieses Ensembles ist zudem die deutsche Erstübersetzung von „The Life of the Theatre“ gewidmet, dem Vermächtnis und Kleinen Organon Julian Becks, das wir gemeinsam mit Theater der Zeit beim Theatertreffen herausbringen werden.

Mein Dank geht – unabhängig von der Grundförderung der Berliner Festspiele – an die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters für die zweite, milliardenschwere Ausgabe des Programms Neustart Kultur in 2021, an die langjährigen Förderer und Partner des Theatertreffens: die Kulturstiftung des Bundes und Hortensia Völckers sowie unseren Medienpartner 3sat; an den Förderer des Stückemarkt Werkauftrags: die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb; an die Förderer und Partner des Internationalen Forums: Goethe-Institut, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, der Deutsche Bühnenverein, die Kultusministerien der deutschen Bundesländer, das Kulturreferat der Landeshauptstadt München, die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen sowie das Bundeskanzleramt Österreich; an den Förderer des Theatertreffen-Blogs: Stiftung Presse-Haus NRZ;  an das Auswärtige Amt; die Preisstifter Stiftung Preußische Seehandlung und Alfred-Kerr-Stiftung sowie an das Haus der Kulturen der Welt für die Gastfreundschaft.