Ágota Révész ist Sinologin und Theaterwissenschaftlerin. Bevor sie am 1. Dezember bei einem Publikumsgespräch im Rahmen des Begleitprogramms der vier Aufführungen von „Die vier Träume aus Linchuan“ gemeinsam mit anderen europäischen und chinesischen Expert*innen und Künstler*innen über Geschichte und Gegenwart des Kunqu diskutieren wird, sprachen wir mit ihr über die Theaterwelt in China, Tradition und Innovation im Kunqu, chinesische Identitätspolitik und 800 Jahre alte Schauspieler*innen.

Was ist Ihr Interesse an Kunqu?

Mein ursprüngliches Interesse war nicht Kunqu, sondern das chinesische Theater allgemein. Ich habe zuerst Sinologie studiert, später Theater, und habe auch als Regisseurin gearbeitet. In dem Zusammenhang war die chinesische Theaterwelt, und wie die Chinesen die Bühne sehen, für mich etwas ganz Besonderes.

Was war das Besondere?

Auf der chinesischen Bühne kann man ganze Romane ausspielen. Mit extremer Eleganz. Das Konzept der vierten Wand kennen sie dort nicht, die Schauspieler*innen sprechen oft direkt mit dem Publikum. Man kann Jahrzehnte springen, oder auch mehrere tausende Kilometer. Es ist etwas völlig normales, dass ein*e Erzähler*in die Bühne betritt und sagt: „Jetzt sind zehn Jahre vergangen und wir sind da und da“, und die Geschichte zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort weitergeht. Brecht hat das gesehen, aber er hat es nicht verstanden. Er dachte, es ginge dabei um einen Verfremdungseffekt, aber das stimmt nicht, im Gegenteil. Die Zuschauer*innen lachen, weinen und rufen, sie identifizieren sich komplett mit den Charakteren. Spannend fand ich auch, welche Bedeutung die Menschen dem Theater als gesellschaftliches, soziales Erlebnis beimessen. Theateraufführungen fanden tagsüber statt, und die Zuschauer*innen konnten sich währenddessen miteinander unterhalten, essen, trinken, herumlaufen … Auch heutzutage sieht man das teilweise noch, da sitzen die Kinder am Bühnenrand, und wenn sie durch die Szene laufen, kommen die Eltern und ziehen sie ab, ohne dass es jemanden stören würde.

Kunqu, oder Kun-Oper, ist die älteste Form der China-Oper. Welchen Stellenwert hat es in der chinesischen Theaterlandschaft?

Kunqu ist Teil des traditionellen chinesischen Theaters, das ganz anders aufgebaut ist als das Theater, das wir hier in Europa kennen. In China gab es früher kein Sprechtheater. Theater bedeutete Musik, Gesang und Tanz. Deshalb finde ich auch das Wort Oper – Kun-Oper – irreführend. Weil wir hier in Europa diesen Begriff hören, und denken, es wäre eines von vielen Genres. Aber eigentlich hatte China schon immer nur Oper. Auch heute nimmt das Sprechtheater nur ein, maximal zwei Prozent der Theaterlandschaft ein. Das ganze Konzept von Regietheater ist etwas, das in China nicht verstanden wird, auch nicht von den Theatermacher*innen. Sogar in den größten chinesischen Städten findet man kaum Theater, die Dramen aufführen. In Shanghai, einer Stadt mit 25 Millionen Einwohner*innen, gibt es ein einziges Theater für Drama und das wird zurzeit renoviert. Trotzdem ist die chinesische Theaterwelt unglaublich vielfältig. Es gibt 300 unterschiedliche Theaterformen, die zwar aus den gleichen Bausteinen bestehen – Musik, Gesang und Tanz und vielleicht auch etwas Kampfkunst –, aber bei näherer Betrachtung extrem unterschiedlich sind.

Warum gibt es so viele Unterschiede und worin bestehen sie?

Jede dieser unterschiedlichen Theaterformen spiegelt eine bestimmte regionale Identität wider. China ist riesig und es gibt riesige sprachliche Unterschiede. Man kann nicht nur von Dialekten sprechen, sie verstehen einander nicht. Außerdem sind diese Sprachen Tonsprachen. Das heißt, wenn ich ein Wort mit unterschiedlicher Betonung ausspreche, ändert sich seine Bedeutung. „Ma“, zum Beispiel, kann, je nach Aussprache, Mama oder Pferd bedeuten. Und wenn man Musik komponiert, muss man auch im Kopf haben, welche Töne es in einer Sprache gibt. Es ist ziemlich schwierig, dieselbe Musik für unterschiedliche Sprachen zu verwenden. Entlang dieser regionalen Sprachunterschiede entwickelten sich sehr viele Theaterformen, die wir aus Europa gar nicht auseinander halten können, die aber für die Menschen aus diesen Gebieten von großer Bedeutung sind. Und sie erzählen die wichtigsten Narrative der Provinz oder der Stadt. In Südchina findet sich zum Beispiel eine extrem alte Form, die nur in einer bestimmten Stadt und ihrer Umgebung gespielt wird. Wenn die Truppen aus der Region in anderen Provinzen auf Gastspiel sind, ist das für die Zuschauer*innen ein kleiner Kulturschock. Sie verstehen die Sprache nicht und brauchen Übertitel. Wir haben also diese Welt aus sehr vielen unterschiedlichen Formen und während der sehr langen Geschichte des chinesischen Theaters wurden zwei Formen – Kun-Oper und Peking-Oper – als die größten Nationalformen entwickelt.

Wie unterscheiden sich diese beiden Formen?

Die Peking-Oper war am Kaiserhof in Peking extrem beliebt. Peking-Opern sind ziemlich laut und martialisch. Es gibt viel Kampf, Geschichten über Kriege und Siege, Schlaginstrumente, und alles ist so ein bisschen macho. Kunqu zog einen anderen Zuschauer*innenkreis an. Die waren die ausgebildete Elite, die lesen und schreiben konnte und sich von der Populärkultur abheben wollte. Die Stücke waren oft Auftragsarbeiten der Theatergruppen, die von Gelehrten geschrieben wurden. Die Texte im Kunqu sind oft poetische, literarische Texte, die man auch lesend genießen kann. Und die Menschen betrachteten die Gelehrten als den wichtigsten Teil der Gesellschaft, als die, die die Regierung stellten. Deshalb wurde Kunqu als die höchste Form des Theaters betrachtet. Im Kunqu beschäftigte man sich auch nicht mit Politik, es ging um das individuelle Leben, die Liebe und Emotionen, von denen dann in schöner Form erzählt wurde. Kunqu ist extrem emotional. Und viel melodischer als die Peking-Oper, statt Schlaginstrumenten werden Streich- und Blasinstrumente verwendet, die Gesangsform ist weicher … Peking-Oper ist für jedes Publikum geeignet. Kunqu ist zarter, intuitiver, nachdenklicher und viel textabhängiger, es wäre beinahe ausgestorben, und kämpft sich immer noch langsam den Berg hinauf.

 Ist Kunqu heute immer noch etwas Elitäres?

Ja, ein bisschen. Oder positiver gesagt: Es gilt als die höchstmögliche Form des Bühnenausdrucks. Und Kunqu ist immer noch extrem beliebt. Vor allem auch, weil das oft Liebesgeschichten sind. Die größten Kunqu-Künstler*innen sind inzwischen Stars bei den jungen Menschen.

„Der Traum unter dem Südzweig“. Wei Li  © Shanghai Kunqu Opera Company

Die Stücke sind zum Teil sehr alt. Werden sie immer noch so gespielt wie damals oder haben sich die Ästhetik, und auch die Rezeption, verändert?

Der Großteil des traditionellen chinesischen Theaters wurde mündlich überliefert. Im letzten Jahr habe ich einige sehr gute Stücke gesehen, die 800 Jahre alt sind. Das bedeutet, dass sie seit 800 Jahren von Lehrer*in zu Student*in und weiter wandern. Und zwar nicht nur der Text, sondern die komplette Aufführung, die Choreografie, was auf welche Art gesungen wird … Die Schauspielerin, die auf der Bühne steht, ist 800 Jahre alt, weil sie alle vorherigen Generationen hinter sich hat, die alles genauso gemacht haben wie sie jetzt. Und ihre Verantwortung ist, das weiterzugeben. Der Leiter einer Theatergruppe sagte mir, dass er sich manchmal denke, er selbst sei die Innovation in diesem Theater, weil er hier und heute mit seinem Körper auf der Bühne ist.

Die Entwicklung im Kunqu besteht also in der Verkörperung der Tradition durch zeitgenössische Darsteller*innen?

Das System ist so aufgebaut, dass die Schüler*innen zunächst alles sehr gründlich lernen müssen und dann später in ihrer Karriere, wenn sie schon mehr Erfahrung haben, etwas verändern können. Es gibt Raum für Innovation, aber der gilt nicht für die Studenten. Die haben die Aufgabe, das Handwerk zu erlernen. Und weil wir über eine extrem komplexe Kunstform sprechen, ist das ein sehr langer Lernprozess. Sie fangen damit an, wenn sie zwischen sieben und zehn Jahre alt sind.

Als Kinder?

Ja. Man muss den Körper früh genug trainieren, sonst lernt er das nicht. Diese Stücke sind in den Körpern. Ich habe zum Beispiel mal eine alte Dame, über 80, eine Schauspielerin, gefragt, wie sie die Stücke, die sie früher gelernt hatte, nach der Kulturrevolution wieder spielen konnte, und sie antwortete – ich kriege Gänsehaut – mit einem Satz: Mein Körper erinnerte sich. Aber momentan ändern sich auch die Sehgewohnheiten: Social Media und Fernsehen gehören zu den größten Herausforderungen für Kunqu. Denn man muss nicht nur als Künstler*in innerhalb der Form aufwachsen, sondern auch als Zuschauer*in. Wenn man das als Kind schon kennt und weiß, was es bedeutet, was und wie man das hört und sieht, dann hat man schon eine gute Basis, aber ohne diese frühen Erfahrungen, sehen sie das eigene Theater mit fremden Augen. Die gute Sache ist, dass gerade eine Wiederbelebung der traditionellen chinesischen Kultur stattfindet, man spricht viel von Konfuzianismus, es gibt Wettbewerbe von alter chinesischer Lyrik für Schüler*innen, und traditionelle Theaterformen werden auch wieder vermehrt an den Schulen unterrichtet.

Wenn es vor allem um eine genaue Wiedergabe der Stücke geht, können Kunqu-Künstler*innen dann überhaupt auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren oder bleibt das eher museal?

Als etablierte*r Kunqu-Künstler*in hat man die Möglichkeit, sich neue Stücke schreiben zu lassen. Dabei muss man sich zwar an die Regeln des Kunqu halten, aber kann auch neue Ideen entwickeln. Ich habe zum Beispiel eine einfach geniale Aufführung von diesem Künstler Zhang Jun gesehen, den ich so mag. Sie war ironisch, sarkastisch, voller Humor, sehr selbstreflexiv und anders als alles, was ich bisher im traditionellen chinesischen Theater gesehen hatte. Also man kann auch neue Farben hineinbringen, aber dafür braucht man eine Basis – einen Namen, einen Fanclub und natürlich Geld. Ohne Geld ist es ziemlich schwierig, innovativ zu sein. Dann muss man auch immer darauf achten, wie viel Politik man hinein lässt. Von hier aus sieht das dann aus, als wollten die Theatermacher*innen in China nicht kritisch sein, aber es gibt immer auch einen politischen Dialog, bloß in einer sehr subtilen Form: Es hat Tradition, Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu ziehen. Was also für uns wie ein rein historisches Stück aussieht, kann für chinesische Zuschauer*innen eine unterliegende aktuelle Bedeutung haben. Ganz ohne „Modernisierung“.

Das heißt, die Rolle, die Kunqu heutzutage spielt, beruht neben der Unterhaltung vor allem auf einer pan-chinesischen Identitätspolitik?

Die Identität ist extrem wichtig, ja. Manche Gruppen bekommen nur finanzielle Unterstützung von den Provinzen oder Städten, weil sie die einzigen Truppen sind, die eine bestimmte regionale Theaterform aufrechterhalten, die man nicht aussterben lassen will. China ist wie diese Matrjoschka-Puppen – von klein zu immer noch größer – und für die kleineren Formen bedeutet es den größten Erfolg, wenn sie in einer Großstadt aufführen können. Ich war in einem Theater in Süd-China, da hängt ein Bild von der Truppe an der Wand, die ein Stück aus dem Repertoire dieser Stadt im Regierungsviertel von Peking aufführt. Das war das größtmögliche Ding: Das bedeutet, dass wir da sind. Dass wir ein Teil des Ganzen sind. Es geht also nicht nur um die persönliche Identität, es betrifft auch eine städtische oder provinzielle Identitätsfrage. Es geht um die Gemeinde und wie die sich innerhalb Chinas positioniert. Das spiegelt sich im Theater. Und die beiden größten Formen repräsentieren das ganze Land. Das ist wirklich extrem politisch. Peking-Oper ist China und Peking-Oper soll Soft Power generieren, Peking-Oper soll die Botschaft von China ans Ausland weitergeben. Entsprechend bekommt Peking-Oper auch innerhalb Chinas große Aufmerksamkeit. Und natürlich ist es schwierig, weil unser Theaterverständnis so extrem anders ist, dass wir alles als Propaganda wahrnehmen, was im Fall von Peking-Oper nur teilweise stimmt. Das ist sehr oft Propaganda, aber gleichzeitig repräsentieren die Opern wie gesagt auch immer noch etwas anderes.

Das klingt ein bisschen nach Postkarten-Theater. Was würden Sie Menschen sagen, die nach einem anderen China-Bild fragen?

Ja, es ist ein bisschen wie Postkarten-Theater, weil die meisten Aufführungen „Gruppenproduktionen“ sind. Es geht da immer um ein Gleichgewicht zwischen den Interessen von sehr vielen Teilnehmer*innen: Wir reden nicht nur über Autor*in, Regisseur*in oder Schauspieler*innen, sondern auch über die Partei, die Kulturbehörde und eigentlich auch das Publikum. Es ist viel komplexer als „Zensur“, das wäre eine einfache Sache. Sehr oft sprechen die Aufführungen nicht über die relevanten Fragen, und man hört selten individuelle Stimmen, rein individuelle Gedanken von der Bühne. Dafür müsste man nach  experimentelleren „Namen“ suchen, von denen es auch einige wenige gibt. Es wäre auch interessant, die kleineren Theaterformen hier herzubringen.

Würden Sie sagen, die traditionelle chinesische Bühnenkunst ist für zeitgenössisches „westliches“ Theater von Relevanz?

Ich würde sagen ja, natürlich. Und es war nicht nur Brecht, der sich dafür interessierte. Grotowski hat auch viel davon gelernt. Aber ich glaube, man kann nichts einfach so übernehmen. Wir haben eine ganz andere gesellschaftliche Basis; und die ganze Denkweise ist so anders. Aber ich finde es doch extrem wichtig, dass man sich ein bisschen darauf einlässt, weil das die Perspektive auf die eigene Kunst verändern kann – also auf das, was man hier im westlichen Theater als selbstverständlich betrachtet und zu dem man sich keine Fragen mehr stellt, weil das einfach so ist. Und dann öffnet man die Tür ins chinesische Theater und denkt sich: Ah! Das ist doch anders! Da stellen sich neue Fragen. Also für mich war das wichtigste, dass ich meine eigene Theaterkultur anders sehen konnte.

Am Wochenende ist bei den Berliner Festspielen der Dramenzyklus „Die Vier Träume von Linchuan“ zu erleben. Vorhin ging es um ein geschultes Kunqu-Publikum. Kann ich die Opern auch ohne Vorwissen allumfassend genießen?

Absolut. Komplett verstehen kann man sie nicht, aber das ist auch nicht das Ziel. Man sieht, was man sieht, und man bekommt, was man bekommt– und das ist sehr viel. Das ist einfach gutes Spiel. Die vier Stücke sind psychologisch genau aufgebaut, man braucht keine Vorkenntnisse über die chinesische Geschichte, oder über das Land, um sie zu verstehen. Die Figuren und ihre Gefühle sind universal, menschlich. Die Geschichten bewegen sich zwischen Traum und Realität, man muss immer ein bisschen nachdenken, was da genau passiert und es hängt nicht von den kulturellen Unterschieden ab, wie man das dann für sich interpretiert. Und das finde ich extrem interessant.

 

Dr. Ágota Révész ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Center for Cultural Studies on Science and Technology in China der Technischen Universität Berlin. Früher führte sie an der Freien Universität Berlin Forschungsarbeiten zum Thema chinesische Kulturdiplomatie durch. An verschiedenen Universitäten gab sie Kurse über chinesisches Theater. Von 2010 bis 2015 war sie als ungarische Diplomatin in China tätig.

 

Am 1. und 2. Dezember präsentiert die Shanghai Kunqu Opera Company den Dramenzyklus „Die vier Träume aus Linchuan“ von Tang Xianzu im Haus der Berliner Festspiele. Die Stücke des Zyklus – „Der Traum von Handan“, „Die purpurne Haarspange“, „Der Traum unter dem Südzweig“ und das berühmte Werk „Der Pfingstrosen-Pavillon“ – waren noch nie gemeinsam an einem Wochenende in Berlin zu sehen. Die Vorstellungen werden von einem vielfältigen Begleitprogramm gerahmt.