Dreißig Jahre nach der Öffnung der Mauer ist an die Stelle einer bipolaren, in Ost und West gespaltenen Lagerstruktur die Erfahrung einer Welt getreten, die sich dezentralisiert hat, in der die westliche Kultur nicht mehr der Nabel der Welt ist – und das verändert vieles: zum Beispiel Sammlungsbestände, Klimaverhandlungen, Sprechweisen und Allianzen. Diese Dezentralisierung der Welt verbindet sich mit der Wahrnehmung, dass die Kräfte, die unsere Erde verändern, sich scheinbar nicht hinter nationale, regionale, ethnische oder identitäre Grenzen bannen lassen. Ich sage scheinbar, weil genau dies die Versprechen populistischer und autoritärer Politiker*innen sind. Aber der Klimawandel lässt sich von seinen Leugner*innen weder beeindrucken oder aufhalten, genauso wenig wie Klima- und Kriegsflüchtlinge. Sie zählen zu den Side Effects der globalen Moderne – sie gehören zu uns.
Diese Wende von heute erzeugt einen veränderten Blick auf Geschichte und Politik, sie beginnt, die Sichtweisen anderer Ethnien, Glaubensgemeinschaften, sexueller Orientierungen und anderer Spezies zu berücksichtigen und macht es endlich problematisch, von „unserer“ Position zu sprechen, wenn nicht gesagt wird, welche das ist.
Es ist eine Debatte über andere Politik- und Sprachmodelle, die sich um eine Gesellschaft bemühen, die weniger durch verborgene und konkrete Ausschlüsse und Machthierarchien geprägt ist. Dieser „Minoritätenlärm“ wird nie mehr aufhören. Die Revolution von 1989, deren dreißigstes Jubiläum wir dieses Jahr feiern, auch wenn das Heimatministerium von Horst Seehofer dafür den Etat vergessen hat, war die erste Revolution des 21. Jahrhunderts – ihr, und das war strukturell bereits bei der iranischen Revolution von 1979 vorgebildet, folgten die Bewegungen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten, in Tunesien, Istanbul und Occupy Wall Street. Es sind Bewegungen, von denen gesagt wird, sie seien gescheitert, aber sie alle wirken auf unerwartete Weise weiter. Black Lives Matter, #MeToo, Fridays for Future – all diese Bewegungen, die unsere Gesellschaft stark verändern, kamen nicht von Parteien. Es waren seit 1989 aktivistische Bewegungen, die neue Betrachtungs-, Sprach- und Entscheidungsformen durchsetzten. Die seither zunehmende Reflexion der eigenen Partikularität hat unsere Gesellschaft und das Machtgebaren ihrer Akteur*innen stark verändert.
Ein aktuelles, den Einzelnen einbeziehendes und alle zugleich adressierendes Chor- und Lehrstück wie „Oratorium“ von She She Pop bringt diesen „Lärm“ in der diesjährigen Auswahl wunderbar zum Ausdruck. Es ist die Aufführung eines feministischen Theaterkollektivs, produziert von elf Koproduzenten. Wie übrigens die Hälfte der diesjährigen Auswahl von mindestens zwei Koproduzenten gemeinsam realisiert wurde. Auch dieses System unserer Theater dezentralisiert sich, erlaubt andere Anschlusspunkte.
Eine Generation nach der Revolution von 1989 werden hierzulande so intensiv wie nur in echten Wendezeiten Hierarchien und Universalismen hinterfragt und die Privilegierten, Geschonten und Dominanten zur Reflexion gezwungen. Die Künste haben immer den Blick verschoben und anderen Perspektiven Raum gegeben, und auch Institutionen können das, wie die Diskussionen um Diversity und Restitution geraubten Kulturguts zeigen.
Die Frauenquote ist ein Teil dieses Prozesses. Sie ist eine Form von Notwehr gegen Verhältnisse, die offene und verdeckte Ausschlüsse von Frauen produzieren. Als Geste der Notwehr ist sie berechtigt und die aus ihr entstehende Debatte empfinde ich wertvoll. Was hilft Frauen wirklich? Wir brauchen ein System an Unterstützung, das eine Karriere von Frauen – die der Konflikt zwischen Familie und Arbeit noch immer zerreißt – machbar macht. Die Frauenfrage ist keine Quotenfrage, sondern eine Systemfrage. Theater sind kinder- und familienfeindlich; auch für Männer. Wir brauchen ein System, das Familien schützt, und das nicht um den Preis der Freiheit der Frau.
Die Frauenquote ist in der freien Szene übrigens sehr viel höher, ungefähr doppelt so hoch wie in den staatlich subventionierten Strukturen. Und die Frauenbeschäftigungsquote lag hier in Berlin – im östlichen Teil dieser Stadt – noch vor 30 Jahren bei über neunzig Prozent. Unter anderem gegen dieses Vergessen klebt draußen bronzene Folie an unserer Glasfassade. Vor dreißig Jahren, als „drüben“ die Bürgerbewegung zur Volksbewegung wurde, kamen zum Theatertreffen, nach vergeblichen Einladungen in den Jahrzehnten zuvor, erstmals tatsächlich zwei Stücke aus dem Osten: Volker Brauns „Die Übergangsgesellschaft“ vom Maxim Gorki Theater und Nikolai Erdmanns „Der Selbstmörder“ aus Schwerin – zwei für die damalige Zeit sehr bezeichnende Titel. Dreißig Jahre später kommen nun zwei Inszenierungen aus Dresden, was ein Hinweis auf die besondere Arbeit des dortigen Intendanten Joachim Klement und seines Ensembles in einer Stadt ist, die zuletzt durch ihren Bilderstreit, Pegida und Montagsdemonstrationen in die Medien kam. Geschichte hört nicht einfach so auf. Der Osten „verwächst“ sich nicht.
Entdecken Sie mit uns ein reiches, vielfältiges Festival als Spiegel unserer Zeit. Es vereint viel Partikulares – wie der nachfolgende Abend nicht nur ein Stück ist, sondern unzählige Stücke von Strindberg sampelt und überschreibt. Wie der „Minoritätenlärm“ wird auch diese Tendenz zu einer Diversifizierung der Quellen, Formen und Stoffe nicht mehr verschwinden.
Ein herzlicher Dank an all unsere Partner, an die Jury, in den Widersprüchen liegt die Hoffnung, sagte Thomas Brasch.
Und bitte: Im Namen der VIELEN – gehen Sie wählen, für Europa.
Das Theatertreffen 2019 findet vom 3. bis 20. Mai im Haus der Berliner Festspiele und anderen Orten statt.