MaerzMusik – Festival für Zeitfragen setzt 2018 einen Schwerpunkt auf das vielschichtige Werk der Transgender-Künstler*in Terre Thaemlitz, die wie nur wenige Kunst und Politik konsistent und überzeugend miteinander verbindet. Für unser Blog haben wir den Musikjournalisten Dennis Pohl, der u.a. für „Spex“ und „Spiegel Online“ arbeitet, gebeten, ein Portrait über Terre Thaemlitz zu schreiben – und alle Veranstaltungen mit Terre Thaemlitz bei MaerzMusik 2018 zu begleiten.
Uff. What a ride. Terre Thaemlitz hat die letzte ihrer drei MaerzMusik-Auftritte über die Bühne gebracht. Und auch bei „Lovebomb“ haben wieder reihenweise Besucher*innen den Saal verlassen. Das ist okay, oftmals verständlich – und trotzdem schade: Denn bei dem bereits 2004 entstandenen Stück wird wie bei keinem anderen deutlich, wie Thaemlitz ihre Kunst versteht. Nicht als lineare Erzählung, klar. Aber dennoch als in sich geschlossenes Werk mit Spannungsbogen, klarem Anfang und Ende. Benutzerfreundlich, könnte man fast sagen. Oder präziser: Thaemlitz schreibt audiovisuelle Essays zu bestimmten Themen, die jedoch auf rein suggestiver Ebene funktionieren. Das heißt, dass man die zusammenhängenden Sätze zwischen den Bildern und dem Klang jeweils selbst bilden muss. Dass es also keine einheitliche Deutung geben kann, ist dabei selbstverständlich – und essentiell.
Das gilt besonders für „Lovebomb“. Schließlich geht es dabei mal wieder um nichts Geringeres, als die (sprichwörtliche und buchstäbliche) Wurst. Genauer: um die Liebe. „Nach engerem und verbreitetem Verständnis ist Liebe ein starkes Gefühl, mit der Haltung inniger und tiefer Verbundenheit zu einer Person (oder Personengruppe), die den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung übersteigt“, definiert das Menschheitsgehirn Wikipedia die Sache. Ein starkes Gefühl? Sicher, kennen wir alle. Für Terre Thaemlitz ist Liebe jedoch mehr. Eine soziale Gleichung, eine Übereinkunft, dass in einem bestimmten Kontext bestimmte Verhaltensmuster okay sind. Nicht nur das Händchenhalten, versteht sich. Sondern auch vielfältige Arten von Gewalt.
Und in der Tat ist es erschreckend, wie viel Gewalt in Geschichte und Gegenwart im Namen eines diffusen Liebesbegriffes ausgeübt wurde und wird. Erst 1997 wurde beispielsweise die Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand erklärt. Ein Großteil der weltweiten Gewaltverbrechen wird von Tätern begangen, die ihren Opfern nahestehen. „Ein Schlüsselelement der Liebe ist die Rechtfertigung von Gewalt“, schreibt Terre Thaemlitz ganz direkt im Begleittext zu „Lovebomb“. Und nimmt dabei auch die von Liebesmotiven durchzogene Popkultur ins Visier. Nicht zu Unrecht: Wie genau sah nochmal ein leidenschaftlicher Kuss im Kino bis vor wenigen Jahrzehnten aus? Wie ein Kampf, oder? Und was machte jemanden wie Marlon Brando zum Leinwandheld? Subtile Gewalt.
Die wichtigere Liebesfrage wirft „Lovebomb“ jedoch an anderer Stelle auf: Das Stück wurde von Thaemlitz als eine Art zerrissene Gegenrede zur popkulturellen Überstrapazierung des Begriffs Liebe entworfen. Da hat sie einen Punkt. Halten Sie doch mal bei der nächsten Fahrt ins Büro Augen und Ohren offen: „Ich liebe es“? Meint Burger. „Weil wir dich lieben“? Sagt die Bahn. Und eine Wagenladung Singles hat sich jeden Tag schon vor dem ersten Umsteigen verliebt. Überhaupt: Wir sollen uns selbst lieben, andere sowieso, unseren Job, das Leben! Ach ja, und natürlich auch noch unsere Heimat, was auch immer das ist und wie auch immer das gehen soll. Fast scheint es, als wäre Liebe als Begrifflichkeit hauptsächlich dazu da, uns von der Unvollkommenheit der eigenen Existenz zu überzeugen. Mit kapitalistischem Blick betrachtet ist das nur logisch: Heilung verspricht meist nur der Konsum. Wir lieben ja Lebensmittel, das Fliegen und es frisch, oder?
Aber greift Thaemlitz‘ Liebeskritik nicht trotzdem zu kurz? Begeht sie nicht denselben Fehler, den sie eigentlich offenlegen will? Dass die Gesellschaft willentlich verengte, was Liebe sein kann, weil andere Konzepte nicht ins System passen? Ist im Umkehrschluss Liebe nicht auch mehr, als ein massenweiser Imperativ und eine akzeptierte Entschuldigung für Gewalt jeglicher Couleur? Ist Liebe letztendlich nicht alles und nichts gleichzeitig? Höchst individuell, nicht zwingend sexuell oder besitzergreifend? Und damit im Kern ganz weit weg von “Love Is In The Air“ und „All You Need Is Love“? Vielleicht sogar der einzige Kitt, der in einer schrecklichen Welt noch irgendwie Sinn ergibt? Aber keine Sorge, Terre. Wir lieben dich trotzdem.
Folgende Veranstaltungen mit Werken von Terre Thaemlitz finden bei MaerzMusik – Festival für Zeitfragen statt: Die 30-stündige Live-Performance „Soulnessless in Five Cantos“ im Gropius Bau, die am 17. März 2018 um 15:00 Uhr beginnt und am 18. März 2018 um 21:00 Uhr endet. An dieses Ereignis schließt unmittelbar am 18. März 2018 um 21:00 Uhr das DJ Set „Deeperama“ mit DJ Sprinkles an, ebenfalls im Gropius Bau . Das Ensemble zeitkratzer wird „Deproduction“ am 19. März 2018 um 22:00 Uhr im Haus der Berliner Festspiele aufführen. Und am 21. März 2018 um 20:00 Uhr wird Terre Thaemlitz „Lovebomb / Ai No Bakudan“ realisieren. Außerdem wird Terre Thaemlitz auch bei der Thinking Together Konferenz präsent sein, und zwar am 18. März 2018 um 15:00 Uhr mit dem Vortrag „Secrecy Wave Manifesto“.