2016 ist das Jahr der Virtual Reality. Was unzählige Überschriften der letzten Jahre und Monate prophezeien, ist nicht nur Medienrummel. In diesem Jahr werden wichtige Weichen gestellt, auf dem Weg einer Zukunftstechnologie zum omnipräsenten Medium. Einem Medium, das man betreten und spüren kann. Einem Medium, in das der Nutzer mit allen Sinnen eintaucht. Man ist Teil dieser virtuellen Welten, erlebt die Auseinandersetzung mit den Inhalten intensiver als in anderen Bildschirmmedien. Man ist ganz grundsätzlich im Mittelpunkt. Dinge passieren mit einem, man handelt ganz intuitiv und aktiviert unterbewusste Bewegungsabläufe. Es wird trotz der Virtualität zu einer verkörperlichten Erfahrung. Folglich will man auf einer bewussten Ebene auch in der virtuellen Welt wirken und teilhaben. Spuren hinterlassen, statt nur zu rezipieren. Man bewegt sich zwischen Rollenspiel und eigener Identität, will interagieren mit anderen und auch mit sich selbst. Völlig neuartige Eindrücke und ungewohnte Situationen brechen über einen hinein. Man muss sich orientieren im neuen Medium mit den noch unbekannten Möglichkeiten.
Von Wissenschaft und Militär schon seit den 60er Jahren eingesetzt, wird die Technologie bald gewöhnliches Arbeitsmittel sein und zieht in die Wohnzimmer der Konsumenten ein. So verteilte die „New York Times“ seit Ende 2015 über 1,3 Mio. Google Cardboards an ihre Abonnenten und setzte quasi den Startschuss für ein neues Medium. Cardboards sind, wie der Name vermuten lässt, einfache Pappgestelle mit Plastiklinsen, die zusammen mit dem Smartphone zu einer VR-Brille werden. Sie ermöglichen der Allgemeinheit einen ersten Schritt in die neuen virtuellen Welten – und das quasi zum Nulltarif. Einmal vor die Augen gehalten, versetzt selbst diese einfache Lösung den Nutzer ganz unmittelbar an einen anderen Ort.
In den 90er Jahren gab es einen ersten Versuch, Virtual Reality in die Haushalte zu bekommen, der kläglich an der damaligen Technik und den wenig zufriedenstellenden Inhalten scheiterte. Inzwischen ist die Wiedergabetreue und Stabilität der erzeugten Illusion auf einem Niveau, das der Vision von virtuellen Welten gerecht werden kann. Man spricht von Präsenz, wenn die Sinne so überzeugend getäuscht werden, dass man sich an den virtuellen Ort versetzt fühlt. Das funktioniert inzwischen so gut, dass die meisten VR-Neulinge sich nicht trauen, über einen virtuellen Abgrund zu schreiten, obwohl sie eigentlich genau wissen, dass sich in der Realität fester Boden unter ihren Füßen befindet.
Wegbereiter der neuen Welle von VR-Hardware sind in gleichen Maßen moderne Smartphones, digitale Distribution, Computerspiele und der Erfolg sozialer Online-Netzwerke. Folgerichtig sind es Weltkonzerne wie Samsung, Google, Sony und Facebook, die Milliarden investieren mit der Aussicht auf ein gigantisches neues Geschäftsfeld. VR-Brillen werden, zusammen mit der sogenannten Augmented Reality, als nächste große Umwälzung nach den Smartphones gesehen. 2016 ist die erste Generation dieser neuen Geräteklasse nun für die Verbraucher erhältlich.
Aktuell kann man im Endkundenbereich drei technische Ausbaustufen unterscheiden. Bis zu 100 Euro kosten Gestelle wie Samsung GearVR oder Google Daydream, die Smartphones zu VR-Brillen machen. Solche mobilen Lösungen sind kabellos, batteriebetrieben und überall einsatzbereit. Allerdings erlauben Sie nur die Kopfrotation des Nutzers zu erfassen, nicht aber Positionsveränderungen. Die Darstellungsqualität ist stark vom verwendeten Smartphone abhängig. Als Eingabemethode stehen zusammen mit der Kopfdrehung nur ein Bestätigungsknopf oder einfache Richtungskontrollen zur Verfügung.
Damit eignen sich diese Brillen vor allem für die Betrachtung von 360°-Filmaufnahmen oder das Spielen einfacher Spiele. Dennoch entsteht bereits ein verblüffendes Mittendringefühl – solange sich der Nutzer viel umsieht, aber nicht zu viel bewegt. Panoramafotofunktionen und 360°-Kameras erlauben es auf einfachste Weise, eigene Inhalte zu erstellen. Bei den Olympischen Spielen und anderen Sportübertragungen bekommt man damit ungewohnte Perspektiven eröffnet, der Journalismus versucht sich in neuen Formaten und im Schulunterricht ermöglichen diese Brillen gemeinsame Expeditionen in den Dschungel. Auch die Berliner Philharmoniker können schon in 360° und vor allem mit räumlicher Tonwiedergabe besucht werden. UNICEF konnte zum Beispiel durch den Einsatz von VR Brillen die Spendenbereitschaft und Höhe der Spenden deutlich verbessern. Weltweit wurden bereits über 10 Mio. dieser Geräte abgesetzt.
In der Klasse 400 bis 1000 Euro finden sich Produkte wie PlayStation VR, HTC Vive und Oculus Rift. Auch hier benötigt man zusätzlich das entsprechende Abspielgerät. Die Spielkonsole gibt es ab 300 Euro, der VR-fähige Rechner schlägt schon mit über 1000 Euro zu Buche. Hiermit wird deutlich bessere Darstellungsqualität erreicht. Vor allem passt sich die Perspektive auf die virtuelle Welt auch auf die eigene Position im Raum an. Ermöglicht wird dies aktuell durch externe Kameras und Positionserfassungssysteme. Die Konfiguration wird so aufwendiger und die Systeme brauchen viel Platz. Außerdem wird man durch Verbindungskabel zum Computer in der realen Welt verankert.
Einen wesentlichen Unterschied stellen die ebenfalls positionserfassten Eingabegeräte dar. Damit lässt sich viel natürlicher mit der virtuellen Umgebung interagieren. Eine digitale Frisbee lässt sich so mit gewohnten Hand- und Körperbewegungen vom Boden aufheben und in die virtuelle Unendlichkeit werfen. Auf eine Tür im virtuellen Raum geht man ganz normal zu und öffnet sie am Türgriff, bevor man hindurchschreitet. Selbst haptisches Feedback wird dabei rudimentär, durch Vibration der Eingabegeräte, vermittelt. Natürlich hat die virtuelle Tür so noch nicht den Widerstand, den man erwartet. Was man aber erlebt ist absolut faszinierend und noch nie dagewesen: Jeder, der VR auf dem Level der HTC Vive zum ersten Mal ausprobiert, ist zunächst überwältigt. Überwältigt von dem, was mit Technik inzwischen machbar ist, und überwältigt vom unglaublichen Potential, das augenblicklich offensichtlich wird. Es ist eines dieser Erlebnisse, die man nicht beschreiben kann. Man muss die Erfahrung selbst machen.
Fotografisch erfasste und räumlich rekonstruierte Szenen sind so gleichermaßen möglich wie komplett digital erstellte Umgebungen. Auf dem Mars seine virtuellen Fußspuren zu hinterlassen wird von der lebensgefährlichen Mission zum Kinderspiel. Dafür wurde die Marsoberfläche aus Fotos dreidimensional berechnet, die der Mars-Rover vor kurzem erst aufgenommen hat. Selbstverständlich kann man sich in Spielen auch lichtschwertschwingend durch Storm Troopers kämpfen und in Weltraumschlachten zum Helden werden. Als Maestro selbst ein Orchester zu leiten, auf dem Meeresgrund an einem Blauwal entlangzuschreiten oder mit Licht dreidimensional im Raum zu malen sind weitere beeindruckende Erlebnisse.
Die dritte technische Stufe stellen spezielle VR-Installationen dar. Dies kann beispielsweise im Rahmen von Messen, Ausstellungen oder Erlebniszentren sein. Dabei wird versucht, die obigen Lösungen auf verschiedenen Ebenen noch zu übertreffen. Ein besonders weites Sichtfeld von über 180°, mehrere Personen im gemeinsamen virtuellen und realen Raum, haptisches Feedback durch sich rüttelnde Bodenplatten oder gar reale Hitzequellen und Ventilatoren sind möglich. Hier ist die Grenze zum technisch Machbaren und den neuesten Entwicklungen fließend. Die Firma The Void wurde unter anderem von einem Illusionisten mitgegründet, denn bei VR geht es wie in der Zauberei darum die menschliche Wahrnehmung auszutricksen. Beim sogenannten „Redirected Walking“ werden VR-Nutzer auf einer realen Kreisbahn geleitet, glauben aber durch geschickte visuelle Manipulation geradeaus zu laufen. So wird es möglich, virtuell beliebig lange geradeaus zu laufen, obwohl der physische Raum der Installation begrenzt ist.
Kurz vor der Marktreife befinden sich Datenhandschuhe mit haptischem Feedback und einzeln erfassten Fingerbewegungen. Es werden omnidirektionale Tretmühlen und auf allen Achsen drehbare Cockpits entwickelt, um alternative Fortbewegungsmethoden in VR zu schaffen. Volumetrische Videoaufnahmen erlauben es, aufgenommene Personen zukünftig aus allen Blickwinkeln zu betrachten und live zu übertragen. Sehr bald wird es auch mit mobilen Lösungen möglich sein, präzise Positionsänderungen zu erfassen und den echten Raum um den User mit allen relevanten Aspekten zu erfassen. Läuft der Nutzer auf ein Hindernis zu, kann er gewarnt werden.
Auch Eye-Tracking wird schon in der nächsten Gerätegeneration zu finden sein. Damit erhält man als Autor noch mehr Information über die Aufmerksamkeit des Nutzers. Eine Präsentation kann zum Beispiel automatisch unterschiedlich ablaufen, je nachdem wofür man Interesse zeigt. Auch die Erfassung von Mimik und biometrischen Daten wie Herzfrequenz ist schon Realität. Solche Informationen liegen selbstverständlich im starken Interesse der Vermarkter und werden sicher Nährboden von weitgehenden Datenschutzdebatten sein. Gleichwohl bieten sie ungeahnte Möglichkeiten für wahrhaftig nutzerzentrierte Erlebnisse. Alleine die Möglichkeit bei virtuellen Avataren die Blickrichtung der Augen realistisch zu übertragen und die Körpersprache und Mimik widerzuspiegeln, dürfte die Fernkommunikation im virtuellen Raum revolutionieren.
Bei all den Errungenschaften bleiben aber noch viele Hürden zu nehmen und das Medium steckt technisch noch in den Kinderschuhen. Ein wesentliches Problem, für das bisher keine allgemeine Lösung erkennbar ist, bleibt die „Simulatorkrankheit“. Vielen Leuten wird übel oder zumindest schwindelig, wenn das visuelle System andere Signale wahrnimmt als der Gleichgewichtssinn. Das ist immer dann problematisch, wenn man sich durch die virtuelle Welt anders bewegt als durch die reale Welt, also zum Beispiel beim Fahren eines virtuellen Autos. Die Trägheit der echten Beschleunigung lässt sich nur schwer simulieren. Auch Haptik, Geschmack- und Geruchssinn stellen die Forscher noch vor große Herausforderungen. Allgemeine Realitätssimulatoren werden also noch eine Weile auf sich warten lassen. Die Animation und noch viel mehr Simulation von Menschen durch künstliche Intelligenz wird auf absehbarer Zeit auf einem offensichtlich künstlichen Niveau bleiben. Andere Menschen und damit Teilnehmer an der virtuellen Realität werden also nötig sein, um die virtuellen Welten glaubhaft zu beleben.
Ähnlich wie der Film die Zeit manipulierbar gemacht hat, wird Virtual Reality dies für den Raum ermöglichen. Erfahrungsräume, Versammlungsorte und magische Traumwelten – wir entscheiden in Zukunft mehr denn je, mit was wir uns umgeben. Wir verändern die Welt und wie wir sie wahrnehmen und begreifen. William Bricken beschrieb 1990 treffend:
„Psychology is the physics of virtual reality.”
2016 das Jahr der Virtual Reality? Dieses Jahr wird vielmehr das Fundament gelegt, für ein neues ultimativ nutzerzentriertes Medium. Wichtig ohne Zweifel, aber es kommt noch Entscheidendes auf uns zu, dass das Wesen eines realitätserweiternden virtuellen Raums definieren wird.