Im Rahmen des Vermittlungsprogramms „Student Affairs“ besuchen rund 120 Studierende von zehn Hochschulen an zweimal vier Tagen das vielfältige Programm von Foreign Affairs 2015 an den Schnittstellen unterschiedlicher Kunstformen. Einige Teilnehmende teilen uns ihre Gedanken, Impressionen, Überlegungen im Berliner Festspiele Blog mit.
Die Ausdehnung der zeitlichen Verfügbarkeit von Menschen und Technologien und der Einfluss der neuen Medien des 20. und 21. Jahrhunderts haben auch im Theater Spuren hinterlassen. So sollen beispielsweise Theaterstücke am liebsten in Spielfilmlänge gespielt werden. Außerdem werden Inszenierungen im Fernsehen übertragen oder im Internet gezeigt, mittels kostenloser Live-Streams von Vorstellungen. Auch Forced Entertainment nutzt seit Längerem Live Streams für ihre Performances. Die britische Künstlergruppe, die auch bei Foreign Affairs 2015 auftritt, setzt sich in ihrer Arbeit immer wieder mit dem Theater an sich und dessen gesellschaftlicher Rolle auseinander und fand mit dem Live-Stream eine Möglichkeit, ihre Aufführungen einem möglichst großen Publikum zur Verfügung zu stellen.
Die traditionellen Theater wollen mit der Live-Stream-Übertragung von Vorstellungen Lust auf Theater machen und kämpfen dabei um den Nachwuchs. Man will junge Leute wieder mit der Kunstform Theater vertraut machen und sie nicht durch schulische Pflicht-Theaterbesuche abschrecken. Zudem möchte man vorbereitet sein, wenn es die Silbersee-Zuschauerschaft irgendwann nicht mehr gibt. Live-Stream gibt dem Theater die Chance, seine künstlerischen Inhalte und gesellschaftspolitischen Intentionen für ein breites Publikum wahrnehmbar zu machen – ein Publikum, das sich nicht nur auf lokaler, sondern auf globaler Ebene bewegt. Dabei eröffnen sich neue Möglichkeiten des Diskurses wie Live-Chats, Aktivitäten in den sogenannten sozialen Netzwerken, Kommentare und daraus entstehende Diskussionen. So erhält man sofortiges Feedback von den Zuschauern und das meist ehrlicher als im direkten Gespräch, weil die Menschen sich in ihrer virtuellen Identität in Sicherheit wägen.
Von vielen Seiten kommt der Appell an die Theater, die Türen virtuell zu öffnen und zu zeigen, was dahinter steckt. Beispielsweise, indem man auch Probenprozesse live im Internet streamt und damit ein exklusives, bisher nie da gewesenes Erlebnis schafft. Eine nicht unproblematische Forderung: Weiter gedacht, öffnet man damit die Tür zu einer Art Privatsphäre der Künstler. Proben haben einen sehr intimen Charakter. Was auf der Probe passiert, bleibt für die Öffentlichkeit mit gutem Recht unzugänglich. Es würde dem Theater nicht nur einen Teil des Geheimnisvollen nehmen. Ich frage mich, wie es sich für Schauspieler und Regisseure anfühlt, unter ständiger Beobachtung zu stehen. Was würden Sie sagen, wenn Sie während Ihrer Arbeit von einer unbestimmbaren Anzahl von Menschen beobachtet werden könnten? Selbstverständlich werden Schauspieler auch während den Vorstellungen stets angeschaut, aber die Proben sollen eine Zeit des Ausprobierens sein – im geschützten Raum.
Es ist ein reizvoller Aspekt, Menschen in der ganzen Welt zu erreichen. Als das Rostocker Volkstheater 2011 wegen Brandschutzproblemen mehrere Wochen schließen musste, wurde Fontanes „Effi Briest“ trotzdem die erfolgreichste Premiere in der Geschichte des Theaters – mit leeren Rängen, aber mehr als 4000 Zuschauern per Live-Übertragung im Internet: in Schweden, den USA, Kanada und den Philippinen. In Ulm werden schon seit 2012 Vorführungen von der Bühne gestreamt. Doch viele, vor allem kleine Theater haben weder die finanziellen Mittel noch das Fachpersonal für eine solche Übertragung. Andererseits ist ein Theaterabend an sich ja schon eine Kostenfrage. Die Karten sind oft nicht gerade günstig, dazu kommen bei längerer Anfahrt teils hohe Kosten, eventuell auch noch für eine Übernachtung. Für Kritiker, Theaterfans und -schaffende ist die Live-Stream-Option eine vielversprechende Idee, um zu sehen, was und wie in anderen Städten gespielt wird. Zudem ist die Möglichkeit, sich eine Inszenierung kostenfrei im Internet anzusehen, für Menschen mit geringem Einkommen oder auch Studenten attraktiv.
Für mich kommen hier aber noch weitere Fragen auf. Wie bezahlt man die Künstler noch angemessen, wenn man die Vorstellung für eine unbestimmte Zahl an Zuschauern kostenfrei zugänglich macht? Wie steht es um Rechte-Fragen? Allgemeiner gefragt: Wie wird sich das Theater weiterhin finanzieren, wenn es immer mehr kostenlose Live-Übertragungen gibt und die Zuschauer nicht mehr im Zuschauerraum, sondern zu Hause vor dem Rechner sitzen? Ist dies der Vorbote eines Massensterbens von Theatern, wenn der „FAZ“-Theaterkritiker Gerhard Stadelmeier vor einer „Theaterzerstörung ganz eigener Art“ warnt? Natürlich könnte man behaupten, dass die Live-Stream-Option die Möglichkeit bietet herausfinden, ob sich die Anfahrt für ein Stück wirklich lohnt oder ob nur der Text im Spielplan und der Trailer so vielversprechend aussehen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass viele, die sich die Vorstellung via Internet angesehen haben, dafür noch ins Theater gehen, nur um sie noch einmal in der typischen Theater-Atmosphäre zu erleben, die das Internet nicht leisten kann.
Meiner Ansicht nach bringt die Live-Stream-Übertragung von Theatervorstellungen das Theater um seine Exklusivität. Ich empfinde diese Möglichkeit als eine Mischung aus Film und Theater, bei der man jedoch weder dem einen noch dem anderen gerecht wird. Im Hinblick auf Festivals und Festspiele wie Foreign Affairs, also ein kurzzeitiges Ereignis mit einmaligen Aufführungen und Gastspielen, glaube ich, dass die Möglichkeit eines Live Streams vor allem für internationale und junge Künstler und Autoren attraktiv sein könnte, um sich einem breiteren Publikum präsentieren zu können. Für das traditionelle Theater mit seinem Repertoire-Spielplan empfinde ich diese Option eher als unpassend. Vereinzelt, als Zusatzangebot, mag es reizvoll wirken. Als Dauerware eingesetzt, bin ich mir nicht sicher, ob man über eine Live-Stream-Übertragung Menschen auf lange Frist für das Theater gewinnen kann. In Sachen Nachwuchsgewinnung braucht es meiner Meinung nach mehr, um die Jugend ins Theater zu bringen und sie dafür zu begeistern – angefangen bei Lehrplänen, Pflichtlektüren und Unterrichtsgestaltung, um nur ein paar Aspekte zu nennen. Ich finde, Theater braucht dieses gewisse Theaterfeeling, das man nur live im Zuschauerraum und nicht vor dem Bildschirm bekommt –das sollen auch die Jugendlichen erfahren. Für mich kann kein Live-Stream dieses Erlebnis ersetzen. Denn wenn ich eine Theaterinszenierung sehen möchte, will Zuschauer sein und kein „User“.
Larissa Vivien Besler studiert an der Leuphana Universität in Lüneburg und nimmt an Student Affairs 2015 beim Festival Foreign Affairs teil.