„Die Aufzeichnung von Ton ist eine zweischneidige Erfindung. Es ist sehr gut möglich, daß sie sich auf dem Wege des geringsten Widerstandes weiterentwickelt, d. h. auf dem Wege der Befriedigung einfacher Neugier.“
Sergej M. Eisenstein, Wsewolod I. Pudowkin, Grigorij W. Alexandrow: „Manifest zum Tonfilm“ (1928)
Am 25. Februar 1947 um Punkt 23 Uhr wurden der Regisseur Sergej Eisenstein und sein Hauptdarsteller Nikolai Tscherkassow in den Kreml vorgeladen, um dort ihr Filmprojekt „Iwan Grosny“ („Iwan der Schreckliche“) zu besprechen. Dort trafen sie neben Josef Stalin persönlich auch auf den sowjetischen Außenminister Molotow und den Kulturpolitiker Ždanow. Nachdem nämlich der 1944 fertiggestellte erste Teil von Eisensteins geplanter Filmtrilogie von Stalin mit großem Wohlwollen zur Kenntnis genommen und sogar mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde – was, jedenfalls der Legende zufolge, vom Regisseur eher erschrocken aufgenommen wurde – stieß der zweite Film, der Eisensteins letzter Kinofilm bleiben sollte, auf Irritation und Kritik vonseiten des Diktators. Vielleicht sah er sich selbst und seine Gewaltpolitik darin etwas zu deutlich widergespiegelt? Im Gespräch jedenfalls ging es vordergründig um Anderes, um historische Korrektheiten und das offizielle Geschichtsbild, das Iwan als Helden und tapferen Tatmenschen zeigen sollte.
Bei Eisenstein hingegen, insbesondere im zweiten Teil von „Iwan der Schreckliche“, ist der Zar ein Zweifler, von Feinden im eigenen Land umgeben und daher immer tiefer in Paranoia versinkend – und ein Monarch, der mit brutalster Gewalt gegen seine Gegner vorgeht. „Iwan der Schreckliche war ein grausamer Herrscher. Es ist möglich zu zeigen, warum er grausam sein musste“, so Stalins Forderung an Eisenstein in jener Nacht im Februar 1947. Die Weiterführung des Projektes wurde um kurz nach Mitternacht, als Eisenstein und Tscherkassow entlassen wurden, nicht in Frage gestellt – „Iwan Grosny II“ wurde gleichwohl verboten und erst im Jahre 1958, zehn Jahre nach dem Tod des Regisseurs, uraufgeführt. Vom ursprünglich geplanten dritten und abschließenden Film wurden lediglich wenige Minuten gedreht, von denen wiederum lediglich eine knapp viereinhalbminütige Sequenz überliefert ist.
Mehr noch als der erste Teil ist dabei „Iwan Grosny II“ auf allen filmischen Ebenen extrem stilisiert. Äußerte sich Eisenstein am Beginn der Tonfilmära noch im gemeinsam mit den Regisseuren Pudowkin und Alexandrow verfassten „Manifest zum Tonfilm“ skeptisch zu jeder Entwicklung des Tonfilms, die nicht kontrapunktisch sei, so lässt er seinen Protagonisten hier in beiden Filmen durchaus exzessiv deklamieren. Als naturalistisch lassen sich zwar sowohl Duktus als auch Bebilderung von „Iwan Grosny“ sicher nicht beschreiben, und doch wählt Eisenstein hier, zieht man seine früheren Arbeiten wie auch seine deutliche Kritik an der „dekadenten Theatralität“ von Robert Wienes expressionistischem Meisterwerk „Das Cabinet des Dr. Caligari“ heran, einen überraschend klassischen, bühnenhaften Gestus – ohne dabei jedoch sein charakteristisches Konzept einer „Montage der Attraktionen“, stets auf der Jagd nach Eruptionen von Pathos und Ekstase, aufzugeben.
Seine Montage dachte Eisenstein dabei stets einerseits aus dem Geiste eines Engelsschen Dialektischen Materialismus (und mit den Steuerwerkzeugen des Behaviorismus agierend) – und andererseits aus dem Vokabular der musikalischen Komposition heraus. In den späten 1920er Jahren, in den letzten Tagen des Stummfilms also, entwarf er fünf verschiedene Montagetypen: die metrische Montage, die rhythmische Montage, die tonale Montage, die Oberton-Montage – und schließlich, als höchste Stufe der Weiterentwicklung dieser vier Stufen der Attraktionsmontage, die intellektuelle Montage, die rhetorische Mittel avancierter Sprachsysteme für die „Filmsprache“ erschließen soll.
Obgleich Eisenstein aber sein Kino stets sehr wesentlich aus der Montage heraus dachte, ging sein Respekt für die Filmmusik so weit, dass er – wie Prokofjew später schrieb – sich gar bereit erklärte, Änderungen am Schnitt seiner Filme vorzunehmen, um sie an die Bedürfnisse der Filmmusik anzupassen und so die künstlerische Integrität von Prokofjews Kompositionen zu bewahren, die sich zu den Bildern oft nicht bloß untermalend verhalten. Von Prokofjews Genie im Finden musikalischer Bilder sprach Eisenstein, und so wird klar, dass es hier weniger darum geht, entweder auf die Musik zu schneiden oder die Bilder zu akzentuieren. Eher im synästhetischen Sinne verknüpfen sich Bild und Klang hier, und wenn Eisenstein davon schwärmt, dass Prokofjew nicht die Bilder, sondern den Rhythmus akzentuiert, so verlagert sich das Zusammenspiel von Bild und Musik auf eine andere, Eisensteins Montagetheorie zufolge avanciertere Ebene. Die führt, in der erinnerungswürdigen Farbfilmsequenz gegen Ende von „Iwan Grosny II“, die Eisenstein auf als Kriegsbeute errungenem deutschem Filmmaterial drehen konnte, weit in die Abstraktion – diese alptraumhafte, phantasmagorische Sequenz ist geradezu als Musiktheater zu begreifen.
Wenn das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin nun „Iwan der Schreckliche“ mit der Filmmusik von Sergej Prokofjew in einem mehr als dreistündigen Filmkonzert präsentiert, wird es zwar ein langer Abend werden. Eisensteins opus magnum ist trotzdem unvollendet geblieben. Am 2. Februar 1946, am selben Abend der Fertigstellung der Montage von „Iwan Grosny II“, erlitt Eisenstein einen Herzinfarkt – und formulierte in seinen anschließend in Krankenhaus und Sanatorium geschriebenen Memoiren das Vorhaben, sich zeitnah zu Tode zu arbeiten. Ein Kreis wurde so nicht geschlossen, der vielleicht auch für Eisenstein selbst nicht geschlossen werden durfte: Der dritte Teil der Trilogie hätte in Triumph und Apotheose mit dem Erreichen des Meeres enden sollen – als große historische Leistung, die alle Opfer und Grausamkeiten Iwans/Stalins hätte rechtfertigen sollen. Es ist, in jeder Hinsicht, anders gekommen.
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin präsentiert beide Teile von Eisensteins „Iwan der Schreckliche“ mit der Musik von Sergej Prokofjew in einem Filmkonzert am 16. September 2016 im Rahmen des Musikfest Berlin.