Auf seiner einwöchigen „Reise um die Erde“ mit Trompete und Orchester macht der als Musiker inkarnierte Erzengel Michael – es ist Mittwoch – Station in Japan. Am Montag ist er in Köln aufgebrochen und hat sich am Dienstag durch die aggressive Atmosphäre New Yorks gekämpft. Jetzt, am Mittwoch, wenn alle kosmischen Kräfte zusammenarbeiten, bläst er sogar die Melodie seines Widersachers Luzifer auf der Trompete. Und es ist Zeit, über ein großes Projekt für die Zukunft nachzudenken. Aber hier beginnt die Geschichte noch einmal: 1977, während eines Japan-Aufenthaltes, bei dem er das Werk „HIKARI oder DER JAHRESLAUF“ komponierte, besuchte Karlheinz Stockhausen die Tempelstadt Kyoto. Unter dem Eindruck des rituellen Shomyo-Gesangs der Priester-Mönche und in die Betrachtung ihrer Gärten versunken, kam er zu dem Entschluss, über einen Zeitraum von 25 Jahren an einer Komposition für das musikalische Theater zu arbeiten: „LICHT“ würde die sieben Tage der Woche zum Gegenstand haben und ihnen neue musikalische Bedeutung verleihen. Alle szenische Imagination sollte dabei aus den musikalischen Prozessen selbst hervortreten. Denn Musik illustriert nicht die kosmische Ordnung: Sie ist ihr reinstes Medium und die wirksamste Kraft zur Erweiterung des menschlichen Geistes.
„Ich bin im Bergischen Land in der Nähe des Altenberger Doms aufgewachsen. In dieser frühgotischen Zisterzienserkirche gibt es eine große Michael-Figur, die mich schon als kleines Kind fasziniert hat. Ich habe zu ihr gebetet und von ihr geträumt. Michael ist in meinem ganzen Leben so immer die erste und höchste geistige Macht gewesen, an die ich mich wandte.“
Karlheinz Stockhausen, 2005
Auf einem Skizzenblatt vom März 1977 mit der Überschrift „Situation: Gottes Theater” hat Stockhausen den Kern der szenischen Idee für „LICHT“ notiert. „Gottes Stimme“ spricht dort: „Jeder soll frei sein“. Dieser Auftrag bedeutet: „Spielen: Kriegspiel, Liebespiel, Geldspiel, Sportspiel etc., Modeschau, etc.“. Frei sein heißt Spielen, aber der Sinn des Spiels ist: „Höhere Entwicklung“. „LICHT“ ist ein szenisches Spiel aus musikalischen Formel-Spielen. Die siebentägige Oper beruht auf einer „Superformel“ aus drei übereinander liegenden melodischen Schichten. In ihr streiten sich der Erzengel Michael, der gefallene Engel Luzifer und die Erdmutter Eva mit allen Mitteln der Musik um den Menschen und seine Stellung im Kosmos. Der heilige Michael, den Stockhausen zeit seines Lebens als Kreator-Engel verehrte, hat die Mission, mit der Hilfe Evas den Menschen durch Musik zu Gott zu führen. Musik ist der Weg, auf dem der Mensch selbst zum Engel wird. Engel scheinen uns nah und fern zugleich, wir spüren sie in uns und meinen, sie kommen von weit her. Engel blicken ins göttliche Licht, vermitteln als Boten zwischen Himmel und Erde und stehen den Menschen bei. Auch die Luzifer-Gestalt wird von diesem Gedanken her deutlich. Denn wenn sich der Engel nicht mehr als Brücke begreift, wird er zum Dämon. Die Engel der Musik aber führen uns, Schritt für Schritt, der Offenbarung der göttlichen Ferne entgegen, sie tanzen auf der Himmelsleiter, die Jakob im Traum erschien. Der Traum des Menschen vom Fliegen erfüllt sich in der Musik, das verbindet ihn mit den Engeln: Musik fliegt auf der Bahn ihrer Melodien durch den Raum, steigt auf aus der Tiefe zur Höhe, schwebt in den Rhythmen ihrer bewegt flatternden oder ruhig gleitenden Schwingungen, wird feiner, höher, leiser – bis sie in ahnungsvoller Erinnerung verweht. Das führen Michael und Eva in Stockhausens „Reise um die Erde“ den Menschen vor. Denn von Japan geht die Fahrt des Trompeters über Bali, Indien und Afrika nach Jerusalem. Erfüllt von den Klängen der Weltkulturen und von den Grundsituationen des menschlichen Daseins – Geburt und Tod, Streit und Harmonie, Meisterschaft und Verführbarkeit – , trifft Michael dort sein Sternenmädchen und vereinigt sich mit ihr in einer zum Himmel aufsteigenden Melodie.
Stockhausen verstand seine Werke als Folge von Annäherungen an das Absolute. In einer musikalischen Welt, die sich nicht durch Ausschlüsse, sondern durch Nachbarschaften und Einschübe definiert, sind die Übergänge vom Physischen zum Spirituellen, von der Realität zur Transzendenz fließend. Sein ganzes Leben hindurch faszinierten Stockhausen der Anblick der Sterne und der Gedanke der Raumfahrt. Und er glaubte fest an einen alles umschließenden Gott, in dessen jenseitiges Reich er nach dem Tod auffahren würde. Für ihn gab es keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Himmel und Weltall, zwischen Engel und Astronaut. Als Musiker versuchte Stockhausen, beides zu sein.
„MICHAELs REISE UM DIE ERDE“ von Karlheinz Stockhausen ist in der Aufführung von Ensemble Musikfabrik mit Marco Blaauw am 18. und 19. September 2015 im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.