Louis Malles beispielgebender Thriller „Fahrstuhl zum Schafott” brachte nicht nur die Entwicklung des Kinos voran. Richard Williams schildert, wie tiefgreifend seine Wirkung für die Musik war. Für Miles Davis war es auf jeden Fall ein Wendepunkt in seiner musikalischen Entwicklung.

„Music should not have any mandates. Jazz is not something that is required to sound like jazz.”
Wayne Shorter

Vor sechzig Jahren hatte die Filmbranche in Hollywood sehr wohl bemerkt, dass sich die Kompositionen zeitgenössischer Jazzmusiker hervorragend als Soundtracks zu Filmen über Drogenabhängige und verschlagene Presseagenten eigneten. Chico Hamiltons Quintett war in Alexander Mackendricks Film „Dein Schicksal in meiner Hand (Sweet Smell of Success)“ zu sehen und hören; Johnny Mandel und Gerry Mulligan komponierten zusammen die Musik für „Lasst mich leben (I Want to Live!)“ von Robert Wise. Aber erst ein 24-jähriger Regisseur in Frankreich erkannte bei seinem Debütfilm die starke Reaktion, die sich durch eine organischere Beziehung zwischen „Film noir” und Modern Jazz erreichen ließ. Mit „Fahrstuhl zum Schafott (Ascenseur pour l’échafaud)“ gelang Louis Malle eine perfekt ausgewogene Mischung dieser beiden Elemente.

“Fahrstuhl zum Schafott” war nicht nur einer der wenigen Filme, die bereits die Neue Welle des französischen Kinos ahnen ließen, und ein bemerkenswertes Debüt für seinen jungen Regisseur, er ist auch noch in einer weiteren Hinsicht von Bedeutung: Der Film war ein Wendepunkt in der musikalischen Geschichte des großen Trompeters Miles Davis, der diesen Soundtrack mit seiner Gruppe während eines Tournee-Aufenthalts in Frankreich für Malle einspielte. Erst viele Jahre später sollte sich zeigen, wie sehr diese Filmmusik Davis‘ gesamten musikalischen Ansatz veränderte. Sie befreite ihn von den konventionellen Strukturen des Modern Jazz und führte auf direktem Weg zu „Kind of Blue“, der Aufnahme, die zum meistverkauften Album in der Geschichte des Jazz werden sollte.

Malle hatte die Filmaufnahmen bereits abgeschlossen, als Davis in Frankreich eintraf, wo er mit einem eigens dafür zusammengestellten Quintett eine Reihe von Konzerten und Club-Auftritten spielen sollte. In dieser Gruppe war noch ein weiterer amerikanischer Musiker: der erfahrene Schlagzeuger Kenny Clark, mit dem Davis 1949 beim Paris Jazz Festival aufgetreten war und der 1956 nach Paris zurückkehrte, um sich dort niederzulassen. Der Rest des Tournee-Quintetts bestand aus jungen Franzosen: dem Pianisten René Urtreger und dem Bassisten Pierre Michelot, die beide ein Jahr zuvor mit Davis bei einem Europa-Aufenthalt gespielt hatten, und Barney Wilen, einem 20-jährigen Ausnahmetalent auf dem Tenorsaxofon.

Davis war begeistert von Paris. Mit 23 Jahren hatte er sich 1949 nicht nur in die Freiheit der Rive Gauche-Gesellschaft verliebt, sondern auch in die schöne Frau, die sie verkörperte: die Sängerin und Schauspielerin Juliette Gréco. Auf Drängen Jean-Paul Sartres erwägte er ernsthaft, zu bleiben und Gréco zu heiraten, um in einem Land zu leben, das anders als in seinem Heimatland frei von Vorurteilen zu sein schien. Allerdings hätte ihn dies zu genau dem Zeitpunkt weit vom Jazz-Mainstream entfernt, als sich seine Karriere entwickelte – und so entschloss er sich, nach New York zurückzukehren.

Als er Ende November 1957 in Paris ankam, hatte er sich von seiner Heroinabhängigkeit befreit und einen Vertrag mit Columbia Records unterschrieben, einem wichtigen Plattenlabel, das ihm die Promotion-Maßnahmen zusicherte, die ihn später zum bekanntesten Jazzmusiker seiner Generation machen sollten. Und er interessierte sich für das, was jenseits der Jazz-Orthodoxie lag, jenseits der formalen Einschränkungen des populären Broadway-Songs und des 12-Takt-Blues. Er wollte sich eine weniger restriktive Art der Improvisation zu eigen machen, basierend auf Skalen und Modi. „Fahrstuhl zum Schaffot“ kam also als glückliche Fügung, als die Gelegenheit etwas Neues auszuprobieren.

Marcel Romano, Davis’ europäischer Promoter, plante, einen Kurzfilm über die Gruppe zu produzieren und hatte dazu den angehenden Regisseur Jean-Paul Rappeneau engagiert, einen großen Jazzliebhaber. Rappeneau war Assistent bei „Fahrstuhl zum Schaffot“ und schlug Miles Davis als die ideale Wahl für den Soundtrack des Films vor. Romano und Malle trafen sich. Eine Einladung wurde ausgesprochen und angenommen. Der Tourneeauftakt des Quintetts fand vor ausverkauftem Haus im Pariser Olympia statt. Hinter der Bühne begegneten sich Davis und Gréco wieder. Vier Tage später saßen er und die Musiker in einem abgedunkelten Poste-Parisien-Studion und sahen die Filmszenen an, für die Malle Musik brauchte.

Bei seinem Konzert und den Club-Auftritten hatte das Quintett bekannte Stücke wie „Woody’n You“, „A Night in Tunisia“, „What’s New“ und „But Not for Me“ gespielt. Die Arbeit am Soundtrack bot dagegen Gelegenheit, einen neuen Ansatz zu probieren, und Davis ergriff sie sofort. Er erkundigte sich nach der Handlung und den Figuren des Films und der Regisseur erzählte ihm, welche Art von Musik ihm vorschwebte. Auch Jeanne Moreau, die hier ihre erste Filmrolle spielte, war ins Studio gekommen, um das Projekt zu unterstützen. Das Filmmaterial wurde wiederholt gezeigt und die Musiker improvisierten dazu. Sie bedienten sich dabei der melodischen, harmonischen und rhythmischen Skizzen, die Davis vorgegeben hatten. Nach nur vier Stunden war der Auftrag erledigt und die stimmungsvolle Eleganz von Miles Davis‘ Trompetenspiel sollte ein genauso unverkennbares Merkmal des Films werden wie Moreaus kühler Blick oder die Szenen von Paris bei Nacht, die Malles Kameramann Henri Decaë so perfekt eingefangen hatte.

Louis Malle „Fahrstuhl zum Schafott” © Gaumont

Knapp über eine Stunde Musik war aufgenommen worden. Sie wurde bearbeitet und als 10-Zoll-LP zur Premiere des Films veröffentlicht. Bei ihrem Komponisten hatte sie jedoch tiefere Spuren hinterlassen. René Urtreger beschrieb sie als „… abstrakt, wie ein Gemälde … wie in einem Traum.“ Miles Davis bewahrte diese Stimmung und beschäftigte sich nach seiner Heimkehr weiter damit. Er versammelte seine Stammmusiker um sich, darunter der Saxofonist John Coltrane, und nahm mit ihnen eine Folge von Alben in kleiner Besetzung auf. Unter diesen Alben waren auch „Milestones“ und „Kind of Blue“, die nicht nur auf die Welt des Jazz einen enormen Einfluss haben sollten. Louis Malles beispielgebender Thriller brachte die Entwicklung des Kinos voran, seine richtungsändernde Wirkung für die Musik war sogar noch tiefgreifender.

„I never thought jazz was supposed to be a museum piece like other dead things once considered artistic.”
Miles Davis

Übersetzung: Elena Krüskemper

Im Rahmen des Jazzfest wird der Film „Ascenseur pour l’échafaud (Fahrstuhl zum Schafott)” in seiner Originalfassung mit deutschen Untertiteln am Samstag, 4. November um 12:00 Uhr im Maison de France / Cinema Paris gezeigt. Im Anschluss an die Filmvorführung findet im selben Haus, allerdings in der Salle Boris Vian um 14:15 Uhr ein Konzert mit dem Pianisten René Urtreger statt.  Vor dem Konzert wird der künstlerische Leiter des Jazzfest Berlin Richard Williams mit René Urtreger noch ein Gespräch führen.