Schon in Fünen, der Heimat von Carl Nielsen, der Insel seiner Kindheit, ist seine seine Ehefrau Anne Marie, geborene Brodersen, präsent. Im jetzt als Museum gepflegten Haus seiner Kindheit hatte Nielsen sie  zum ersten Mal seinen Eltern vorgestellt – das war kurz vor dem Auszug der Eltern aus diesem Hort der kindlichen Erinnerung. Was für ein Zusammentreffen: Die Eltern sitzen schon fast auf den gepackten Kisten – viele werden es nicht gewesen sein, der Haushalt der Familie Nielsen war den Berichten zufolge eher bescheiden –,  und Carl Nielsen selbst beginnt mit seiner Frau einen neuen Lebensabschnitt. Das Haus der Kindheit entschwindet im Moment eines größten Glücks: Kurze Zeit zuvor hatte er Anne Marie in Italien geheiratet – ein wahre Blitzheirat.

Der Geiger und Komponist Carl Nielsen reist mit einem Stipendium durch Europa – 1. Station Berlin, dann Paris. Hier lernt er am 2. März 1891 die Bildhauerin Anne Marie Brodersen kennen. Schon 18 Tage später, am 20. März, beschließen sie zu heiraten. Die Hochzeit findet am 10. Mai in der St. Mark’s English Church in Florenz statt – heute noch eine beliebte „Hochzeitskirche“ mit eigener Website und Facebook-Account, die beherrschende Farbe weiß. Nach einer Reise durch Italien kehrt das junge Paar nach Dänemark zurück – ins Haus seiner Eltern auf Fünen. Diese Begebenheit scheint wichtig. Überhaupt scheint dieses Paar als Paar wichtig. Das Nielsen-Museum der Hauptstadt von Fünen, Odense, gehört nicht nur Nielsen allein: Das Paar Nielsen-Brodersen, Carl und Anne Marie prägt die ganze Ausstellung. Ihrer beider Portraits empfangen den Besucher im Großformat.

Carl Nielsen und Anne Marie Carl-Nielsen, Fotos im Nielsen-Museum © Patricia Hofmann

Zwei Räume sind „historisch“ nachgebildet:  ein Atelierraum, mit großem Tisch und vielen Bildern an den Wänden, den anderen dominiert ein Flügel und eine Fülle an Teppichen. Neben der ersten Geige von Carl Nielsen, Notenschriften und einem Dirigierstab finden sich in den Vitrinen kleine Tiergestalten aus verschiedenen Materialien, Bronze, Stein, Gips. Immer wieder Kühe, liegen, stehend. Dies sind die Arbeiten der Bildhauerin, der Frau, die ihre Kunst in festem Material fasste, während der Mann an ihrer Seite versuchte, mit dem Flüchtigsten zu sprechen, der Musik. Gegensätzlicher können Künste nicht sein. Sieht man dies alles ausgebreitet, den geformten Gips oder Stein neben dem mit leichtem Bleistiftstrich beschriebenem Papier, wie gerne wäre man Zuhörer eines der Gespräche dieses Paares.

Das Atelier der Nielsens in der Kopenhagener Innenstadt sehen wir nur von außen. Es liegt zentral, an einem kleinen Kanal – wie schon am Haus der Kindheit in Fünen ist alles frisch und friedlich. Hier möchte man auch leben! Drei Kinder sind aus der Ehe hervorgegangen: Irmelin Johanne Nielsen, Anne Marie (mit dem Kosenamen Søs) und der Sohn Hans Børge. Schöne Bilder gibt es von dieser Familie. Aber es gab auch tiefe Krisen. Dazu gibt es seit jüngster Zeit im Museum in Odense ein ganz aktuelles Dokument, das einer unfassbaren Leidenschaft eines Mannes zu verdanken ist – John Fellow. Er ist der Herausgeber der 12 Bände umfassenden Ausgabe sämtlicher für ihn auffindbaren Nielsen-Briefe. Und John Fellow hat auch diesen Brief gefunden, der jetzt in einer Vitrine liegt und in dem Nielsen einen außerehelichen Sohn als den seinen anerkennt. Ein aufsehenerregendes Dokument für die Dänen und Zeugnis eines Ehedramas.

Carl Nielsen war nicht treu. Von bis zu 10 unehelichen Kindern war die Rede, mehrere erhoben Ansprüche, davon konnten schon einmal zwei durch heutige Gentests ausgeschlossen werden – auch dank John Fellow. Übriggeblieben ist dieser eine Sohn, selbst Geiger, der irgendwann aus den USA zu seinem Vater reiste, um sein Glück zu versuchen, es nicht fand und fast lautlos wieder verschwand. Diese unehelichen Kinder sind Zeichen einer Ehe, die zunächst in der Rollenverteilung ganz klassisch erscheint – Mann geht fremd, Frau leidet, aber erträgt und bleibt. Doch die Ehe der Nielsens ist in der Grundkonstellation ganz anders, hochmodern. Sie arbeiten beide – eigentlich immer. Anne Marie ist häufig lange weg, um Projekte zu realisieren. Zeiten, die dem wartenden Mann nicht gut bekamen? Die Ehe eskaliert im Jahr 1914, als Anne Marie von der Affäre ihres Mannes mit einer ihrer Freundinnen erfährt. Acht Jahre lang lebt das Paar in Trennung, bis eine gravierende Herzattacke von Carl Nielsen 1922 die Frau an seine Seite zurückholt.

Die Zeit der Trennung war für den Komponisten Nielsen sehr produktiv: Es entsteht die umfangreiche Liedsammlung, die ihn den Dänen zum Volkskomponisten machte – seine Lieder kennt jedes Kind. Es entsteht die 4. Symphonie „Die Unauslöschliche“ – ein bedeutungsschwangeres Wort, das sich im Dänischen geradezu niedlich liest: „Det Uudslukkelige“. Doch der Ton dieser Symphonie ist dramatischer, schroffer als derjenige der drei vorhergehenden. Auch wenn die Anlage klassisch ist, und die kompositorisch visionärere Sinfonie seine 5. bleibt.

Es gibt ein wunderbares Bild von Nielsen aus dieser Zeit: er sitzt auf einer Bank mit Freunden und mit Strickzeug in der Hand. Auch im Museum in Odense liegt dieses Strickzeug. Es hat angeblich das aufbrausende Gemüt des Komponisten beruhigt, ihn in seinem Trennungsschmerz abgelenkt. Offiziell sollte das Stricken rein medizinisch seine Herzfrequenzen beruhigen. Mein Bild ist ein anderes, ein wunderbares Bild: Der verlassene Mann versucht sich seine Frau herbeizustricken.

Carl Nielsens Strickzeug, Nielsen-Museum © Patricia Hofmann

Anne Marie Brodersen kehrt 1922 an die Seite ihres Mannes zurück. Die wenigen gemeinsamen Fotos aus der späten Zeit zeigen kein unglückliches altes Paar. Im Atelier, im Garten. Die gemeinsamen Fahrten im neu erworbenen Auto genossen sie den Überlieferungen nach gemeinsam sehr…. Zuletzt hat Anne-Marie eines der berühmtesten Denkmale ihres Mannes geschaffen – ein Pferd mit einem Flöte spielenden Knaben auf dem Rücken. Die Entwürfe zeigen das Pferd mit Flügeln – sie wurden nicht realisiert, und dennoch hebt dieser Junge ab auf seinem Pferd, entrückt ganz offenbar in andere Zeiten und Räume.

Am 14. September führt das Royal Danish Orchestra unter Michael Boder im Rahmen des Nielsen-Porträts beim Musikfest Berlin 2015 Carl Nielsens 5. Symphonie auf. Orchester wie das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit Marek Janowski und die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle werden weitere Symphonien Nielsens aufführen und das junge Danish String Quartet alle seine Streichquartette. Seit dem 9. September ist außerdem die Ausstellung „Carl Nielsen – Music is Life“ im Foyer der Philharmonie für die Besucher des Musikfest Berlin zugänglich.