Manfred Weiß hat nicht nur das legendäre Konzert von Nico, Brian Eno und John Cale in der Neuen Nationalgalerie besucht, er besitzt auch bis heute seltene Erinnerungsstücke an dieses Ereignis: Zwei rot-gelbe Sitzkissen des MetaMusik-Festivals 1974. Für unsere Reihe #Festspielgeschichten erinnert er sich an diese Begegnung mit vertrauter Musik in unvertrauter Umgebung und erzählt von Konzertkonventionen im Wandel.
Im Rahmen des MetaMusik-Festivals war ich 1974 nicht nur am 5. Oktober bei „British Rock of the Avantgarde“ mit Nico, John Cale und Brian Eno, sondern ich war auch bei dem Konzert von Tangerine Dream unter dem Titel „Electronic Rock“ am 13. Oktober sowie bei Ustād Vilayat Khan und Ensemble am 20. Oktober dabei. Was die Konzerte dieser Reihe gemeinsam hatten, war ein kleiner Hinweis auf der Karte: „Der Raum ist unbestuhlt“. Für uns Rockmusik-Besucher*innen wäre das erstmal gar nichts Besonderes gewesen. Seit Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre war es schließlich bei größeren und ganz großen Rock-Konzerten – in Berlin in der Deutschlandhalle oder der Eissporthalle – üblich, dass der Saal nicht bestuhlt war. Die Tradition war, dass man sich erst im Stehen sammelte, und dann mit Konzertbeginn auf den Boden setzte. Es hatte sich eingespielt, dass die meisten sich Decken mitbrachten. Und so muss man sich den Innenraum der Deutschlandhalle dann vorstellen: Überall langhaarige Parka-Träger auf alten Decken und Fetzen sitzend, und die, die schon saßen, forderten dann auch die Anderen auf, sich hinzusetzen. Man saß unten und versuchte möglichst auch unten zu bleiben. Wenn dann die Zugabe kam, sprangen die meisten wieder auf, aber bis dahin wurde Disziplin gehalten. Das war natürlich auch insofern einfach, als dass das alles junge Leute waren. Die Konzerte damals waren nicht sehr gemischt, ältere Leute kamen in der Regel nicht.
Ungewöhnlich an den Konzerten bei MetaMusik war weniger der Hinweis auf die fehlenden Sitzgelegenheiten, als ein zusätzlicher Hinweis auf der Rückseite: „Im Eintrittspreis ist ein Sitzkissen enthalten.“ Das wiederum war ungewöhnlich. Es amüsierte uns, passte aber, denn auch der Veranstaltungsort war ein ungewöhnlicher: Die Neue Nationalgalerie. Dort hatten zuvor keine Rockkonzerte stattgefunden. Es war neu für uns, unsere Musik jetzt auch in den „heiligen Hallen der Hochkultur“ hören zu können. Bei dem Sitzkissen dachte ich zunächst gar nicht an einen Service für meinen Hintern – ich dachte, die Neue Nationalgalerie wolle so einfach ihre Fußböden schützen. Im Laufe des Abends stellte sich das dann aber als sehr angenehm heraus.
Man ging also hin, zeigte seine Eintrittskarte, erhielt das angekündigte Sitzkissen, und suchte sich einen günstigen Platz vor der Bühne. Als erfahrener Rockkonzert-Besucher achtete ich natürlich auch in diesem Saal darauf, möglichst im Dreieck vor der Bühne zu sitzen – stereo.
„British Rock of the Avantgarde“, das Konzert von Nico, John Cale und Brian Eno, begann um 20 Uhr. Im Vergleich zu großen Konzerten, wo die Stars gerne eine halbe oder gar ganze Stunde auf sich warten ließen, ging es einigermaßen pünktlich los. Obwohl John Cale zu der Zeit der bekannteste Name war, kann ich mich an seinen Auftritt kaum erinnern. An Brian Eno hingegen erinnere ich mich gut. Er war damals schon kein Unbekannter, man nahm ihn vor allem als den wilden, auffälligen Keyboard-Spieler bei der Gruppe Roxy Music wahr. Hier allerdings spielte er eine Solo-Show, mit der er musikalisch schon wieder einen Schritt weiter in die Richtung experimenteller, elektronischer Welten gegangen war.
Das herausragende Ereignis des Abends war allerdings der Auftritt von Nico, die als letzte dran war. Nico, die alte Berlinerin. Sie hatte bei den legendären Velvet Underground gespielt, das war Underground, das war Amerika – wir hatten Riesenrespekt! Ich hatte natürlich erwartet, ein bisschen was aus dieser Phase zu hören, von Velvet Underground, ein bisschen avantgarde-mäßiges, auf jeden Fall nicht gleichförmig oder wohlgeordnet. Nico trat also auf, setzte sich an ihr Harmonium am rechten Bühnenrand, und verbreitete gleich den ihr so eigenen, düsteren, vielleicht nicht negativen, aber doch sehr melancholischen Ausdruck.
„Die Dame namens Nico ist eine faszinierende und mysteriöse Figur, hervorgegangen aus der ‚Multimedia Revolution der 60er Jahre‘ . Sie wurde in Köln geboren. In Paris, wo sie sich als Top Modell einen Namen machte, traf sie Brian Jones von den Rolling Stones und durch ihn den Stones-Manager Andrew Loog Oldham, der 1965 ihre erste Schallplatte produzierte. […] Damals traf sie Andy Warhol. Man erzählt sich, dass sie zu ihm sagte: ‚Ich möchte singen‘. Er führte sie bei seinen neuesten Protégés ein, den Velvet Underground.“
– Aus dem Programmheft von MetaMusik 1974
Sie lächelte nicht, begrüßte auch nicht das Publikum, beachtete uns eigentlich gar nicht. Das war ungewöhnlich. Üblicherweise begrüßten die Musikerinnen und Musiker bei Rockkonzerten ihr Publikum, oder sagten ab und zu etwas zwischen den Songs, lächelten, winkten, gaben kleine Erläuterungen zum Besten. All das hat Nico konsequent nicht gemacht. Allenfalls kündigte sie, auf Englisch, mit ihrer düsteren Stimme den ersten Song an. Und dann legte sie los. Spielte das erste Stück. Dann das zweite. Ich kannte ihre Songs damals nicht so gut, dass ich hätte sagen können, welche es waren. Ich hatte allerdings auch Schwierigkeiten, sie zu unterscheiden: Sie waren alle in einem ähnlichen Tempo gespielt, in einer ähnlichen Tonlage – natürlich, ein Harmonium hat einen bestimmten moll-lastigen Klang – und darüber die Stimme von Nico, auch immer sehr gleichförmig, auch immer sehr melancholisch, auch immer im selben Tempo.
Einen Konzertausschnitt finden Sie auf Berliner Festspiele On Demand. Öffnen Sie das Video „Channel Three. Arts 1970–1979, Part 2“ und navigieren Sie im Vollbildmodus mit der Zeitleiste auf 21min 32sek um Nicos Auftritt zu erleben.
Und das war’s dann auch: Das erste Lied war genau wie das zweite, das zweite unterschied sich nicht vom dritten. Und das Publikum wurde, man merkte es dann schon, allmählich immer ungeduldiger und unleidlicher. Das steigerte sich. Ab und zu Pfiffe, lustige Rufe. Es gibt ja immer Leute, die dann irgendetwas rufen wie „Ey, nun mach doch mal! – Jetzt mal ein bisschen schneller! – Spiel doch mal was anderes!“. Die Rufe häuften sich. Nico reagierte nicht darauf, das stachelte diese Leute noch weiter an. Irgendwann kippte die Stimmung merklich und immer mehr pfiffen Nico aus. Sie sagte weiterhin nichts. Das erreichte den Höhepunkt, als sie die ersten Töne eines Liedes spielte, das dann sogar ich erkannte: Die des „Deutschlandliedes“, auch genannt Nationalhymne. Auch das wieder im selben Tonfall, mit demselben Gesang, demselben Harmonium, denselben Molltönen und der gleichen Form. Was sollte das denn jetzt? Diese Form von Nationalismus – erst später habe ich dann gelesen, dass das von ihr gar nicht so gemeint gewesen sei – irritierte mich. Wir waren ja in den 1970ern, nationalistisch zu sein war schlichtweg nicht angesagt. Das Pfeifkonzert im Saal steigerte sich und dann war die Show auch ziemlich schnell zu Ende. Ich weiß nicht, wie lange Nico zu spielen geplant hatte, doch nach weniger als einer halben Stunde hatte sie die Bühne wieder verlassen, mit sichtlich schlechter Laune.
Für mich war das damals ein denkwürdiges, irritierendes Konzert, an das ich mich aber gerne erinnere. Zwei der Sitzkissen habe ich bis heute aufgehoben. Sie sind aus gelbem Schaumstoff, mit aufgedrucktem Schriftzug in roter Farbe. Das eine der beiden könnte man fast als Fehldruck bezeichnen, die Schrift ist blasser und sitzt nicht ganz mittig, sondern etwas zu weit rechts. Vielleicht ist es ja wie bei Briefmarken: Der Fehldruck wäre dann ein ganz besonders kostbares Sammlerstück.
Manfred Weiß ist Mitbetreiber der Wiki Rock in Berlin, die auch das hier beschriebene Konzert verzeichnet hat.
Mehr aus 70 Jahren Geschichte der Berliner Festspiele gibt es auf Berliner Festspiele On Demand zu entdecken.