„Iwan Grosny“ war eigentlich als Trilogie angelegt: Die erste Episode wurde 1942 mit verschiedenen Auszeichnungen, unter anderem dem Stalin-Preis ausgezeichnet. Er handelt vom Aufstieg Iwan IV. Der zweite Film wurde 1945 sofort in das Archiv der Zensurbehörde weitergeleitet und nie aufgeführt. Er handelt von der Vielschichtigkeit der Regierungsgeschäfte und Amtshandlungen Iwan IV. und davon, dass es keine klare Unterteilung in Gut und Böse gibt. Die dritte Episode wurde nie fertiggestellt, weil der Regisseur Sergej Eisenstein zu Beginn der Dreharbeiten 1948 verstarb.

Die Aufnahmen der Filmmusik von Sergej Prokofjew durch das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin und den Rundfunkchor Berlin unter der Leitung von Frank Strobel im großen Sendesaal des RBB sind sehr interessant und es wird deutlich, dass das recht schwierig ist: Musik exakt passend zum Film aufzunehmen, wie die Aufnahme eines Gesanges der Bassstimme zeigte. Der Bass Alexander Vinogradov singt unter Beachtung des Films, des Dirigenten Frank Strobel und der Noten – wenn das kein Multitasking ist. Interessant ist dabei zu sehen, wie sich der Sänger am Film orientiert: Mit durchweg derselben Verzögerung zur ihr hat er den exakt selben Gesichtsausdruck wie die Filmfigur und versucht, lippensynchron zu singen, was er nach dem vierten Versuch auch zur Zufriedenheit aller schafft. Nun wird der Gesang der Frau und später der Mutter des Zaren aufgenommen. Hierbei wird mir eine gewisse Symbolik im immer mitlaufenden Schwarzweißfilm bewusst: Die unschuldige Frau des Zaren ist immer weiß bzw. hell gekleidet, während die machtbesessene, böse Mutter des Zaren in schwarz auftritt. Das unterstreicht die Kritik am „Schwarz-Weiß-Denken“, das in der Sowjetunion propagiert und in „Iwan Grosny“ kritisiert wurde.

Die Altistin Marina Prudenskaya muss dieselbe Aufgabe lösen, genau passend zu den Lippenbewegungen der Filmfiguren zu singen. Diese Aufnahmen sind ganz ohne Orchester. Danach proben die Musiker weiter, jetzt die Krönungszeremonie Iwan IV. Später erklärt mir Rudolf Döbler, Flötist im Rundfunk Sinfonieorchester Berlin, dass die Filmmusik teilweise erst mit dem Film Spaß mache. Darauf, dass auch das Orchester den Film sehen könne, lege Frank Strobel großen Wert, sodass bei den Proben meist ein Bildschirm neben dem Dirigentenpult stehe, auf dem der Film auch für das Orchester sichtbar mitlaufe. Danach wurden noch einmal die schwierigeren Stellen der Krönungsszene geübt, hier aber taktweise und nicht im Zusammenhang, sodass ich mich fragte, ob die Musiker eigentlich den Filmzusammenhang noch wahrnehmen. Das beantwortete der Cellist Andreas Kipp: In dieser Kleinteiligkeit nehme zwar niemand den Zusammenhang des Films wahr, aber das Erlebnis im Konzert habe mit dem Film im Hintergrund einen großen Mehrwert.

Tags drauf besuche ich die Generalprobe im Konzerthaus. Das Bild ist an sich schon irgendwie beeindruckend: Auf der Bühne ist das Orchester, der Chor ist zum Teil in der hinteren linken Ecke der Bühne, zum Hauptteil aber auf den Logenplätzen darüber, und hinter der Bühne auf den Logen stehen viele Glocken verschiedener Form und Größe. Davor hängt die Leinwand, über dem Orchester. Nach vier Stunden Generalprobe zum ersten Filmteil – der zweite Teil wird am nächsten Tag vor dem Konzert noch einmal geprobt – nimmt sich Frank Strobel Zeit, meine Fragen zu beantworten.

Frank Strobel © Kai Bienert

Wie funktioniert eigentlich die Koordination von Film und Orchester? Ich stelle mir das total kompliziert vor.

Es ist auch kompliziert, weil der Film uns ja nicht folgt. Der macht ja nicht was ich will, nicht was das Orchester will oder der Chor will. Er lebt sein Eigenleben, um’s mal so zu sagen, und ich bin in der Tat der Einzige, der verantwortlich ist für die Synchronität zwischen Bild und der Musik, weil ja die Musiker mit dem Rücken zur Leinwand sitzen. Außerdem, wenn jeder seine eigene Meinung hätte, hätten wir ganz viele Einzelmeinungen. Die Koordination findet für mich komplett ohne technische Hilfsmittel statt. Damit meine ich z.B. einen Klick im Ohr, also eine Art Metronomklick, der das Tempo vorgibt. Bei modernen Filmmusikaufnahmen hat man Streamer, also senkrechte Linien, die in der digitalen Partitur mit der Musik mitlaufen und die exakte Stelle in der Partitur angeben, an der man zum jetzigen Moment ist, die zu bestimmten Momenten auf der rechten Seite ankommen. Oder Punches, die ebenfalls wie ein Metronom funktionieren. Ich finde das ganz schrecklich. Gerade bei einer Produktion wie hier, weil ein Film ja ganz einen eigenen Rhythmus hat. Einen eigenen Rhythmus durch die Montage, aber auch durch das, was im Film passiert. Ich versuche diesen Rhythmus aufzugreifen und in ein musikalisches Tempo zu überführen. Das heißt, ich versuche, aus der Bewegung des Bildes in die Bewegung der Musik zu kommen. Das Entscheidende ist dann, dass das natürlich nur funktioniert, wenn die Musiker und der Chor und die Solisten sehr flexibel sind. Also ganz, ganz aufmerksam jeden Moment dabei sind und auch mal eine aktuelle Handlung beschleunigen, oder mal kurz warten, auch da, wo man es nicht verabredet hat und wo es auch nicht in den Noten drinsteht, aber weil es eben aus filmischen Gründen notwendig ist. Ich habe aber zusätzlich in der Partitur eine obere Zeile, die sogenannte Synchronleiste, dort findet sich rhythmisch notiert eine Kurzbeschreibung dessen, was im Film passiert. Das ist eine Art musikalischer Fahrplan, und auch auf diese Weise kann ich sehen, ob wir nicht ein bisschen hinterher sind oder vorneweg.

Was fasziniert Sie so an Filmmusik?

Also eigentlich fasziniert mich die Filmmusik deshalb so, weil sie alles sein kann, von Renaissancemusik bis Techno, und man hat keine Grenzen. Es ist alles offen und für einen Musiker ist es – wenn man keine Scheuklappen hat – einfach spannend. Musik wird eigentlich erst dann zu Filmmusik, wenn sie rein funktional in Zusammenhang gebracht wird mit Film. Wir haben natürlich alle das Klischee „Fas klingt ja wie Filmmusik.“ Da denken wir aber nur an eine ganz spezielle Form der Musik, also die flirrenden Geigen bei der Spannungsszene oder so, aber das Entscheidende ist für mich Musik, die den Film miterzählt, also die nicht nur ein atmosphärisches oder ein illustratives Moment liefert, sondern die Geschichte miterzählt. Gerade bei „Iwan Grosny“ ist das nun eklatant, weil die Musik und der Film gemeinsam entstanden sind. Sergej Eisenstein und Prokofjew haben von Anfang an zusammengearbeitet, schon in der Drehbuchphase haben sie gemeinsam Skizzen gemacht, und das merkt man einfach, dass die Musik einen enormen gestalterischen Anteil hat. Und das ist es, was mich interessiert.

Was hebt „Iwan Grosny“ von anderen Filmen ab, musikalisch?

Natürlich erstmal, dass er dem Klischee entgegenwirkt, das wir eben genannt haben, weil wir es bei Prokofjew mit einem der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts zu tun haben. Das heißt, wir haben eine Musik von sehr, sehr hoher Güte. Das ist das eine. Das andere ist tatsächlich die Art und Weise, wie Regisseur und Komponist zusammengearbeitet haben. Die Musik ist in weiten Teilen vor den Dreharbeiten entstanden, Eisenstein hat mit der Musik seine Dreharbeiten gestaltet! Er hat auch teilweise danach inszeniert, also das heißt, es war nicht wie sonst üblich Filmmusik, die sozusagen als letztes Glied in einer langen Produktionskette hinzukommt, sondern sie wurde von Anfang an mitgedacht. Das kann man in dem Film erleben, diese ganz klare Form, dieses ganze Ineinandergehen. Es ist eigentlich von der ganzen Struktur wie eine Filmoper gedacht und das ist es, was dieses Werk auszeichnet und was mich natürlich darüber hinaus einfach immer wieder beschäftigt hat in der Auseinandersetzung mit „Iwan Grosny“. Und neuerdings immer mehr in dem Gedanken: Das ist nicht nur ein zeitloses Werk, es ist auch ein ganz aktuelles Werk.

Singen die Schauspieler oder sprechen sie?

Die Schauspieler sprechen ganz normal. Es gibt zwei Lieder, wo die Schauspieler auch singen, aber üblicherweise sprechen sie. Diese Stellen sind besonders schwierig, weil man dann Lippensynchronität erreichen muss.

Wenn man sich so lange so eingehend mit der Musik beschäftigt, so intensiv und in so kurzen Fragmenten, nimmt man dann den Film noch als Gesamtkunstwerk wahr?

Ich glaube, ich war bis eben vor der Generalprobe der Einzige, der alles irgendwie im Kopf hatte, wie sich alles zusammenfügen muss. Keiner von uns sonst– auch von all meinen Kollegen, auch von denen, die schon lange mit dem Werk gearbeitet haben, oder auch von den Musikern oder den Solisten – hat eine Vorstellung davon gehabt, wie sich alles zusammenfügt, wie sich das alles zusammenfügen muss. Ich habe das die ganze Zeit im Kopf getragen, auf zwei Ebenen. Man hat auf der Musikebene einerseits den Prokofjew, ausgeführt durch zwei Solisten, Chor und Orchester. Dazu die ganze russisch-orthodoxe Liturgie, also dieses ganze Thema der Kirche, die ja für Iwan IV. ganz wichtig war, weil er sich ja als Autokrat verstanden hat, der beides beherrscht, also die gesellschaftliche Macht und die kirchliche Macht zugleich innehat. Das wird ausgedrückt durch diese russischen Liturgien, die ja ein eigenes Element sind. Dann haben wir da auch noch die räumliche Wirkung, diese Phase mit den Glocken. Bislang haben wir alles getrennt aufgenommen. Und heute ist das zum ersten Mal alles zusammengekommen und in die Abfolge gestellt worden. Das war für uns auch sehr schwierig, mit all den Anschlüssen, weiß jeder wo wir dann eigentlich sind und so. Ich fand es fast schon beängstigend, dass es wirklich keine Irrtümer gab bei diesem ersten Durchlauf heute, wo ich schon dachte: „Mein Gott, hoffentlich funktioniert das bei der Aufführung dann auch noch mal.“

Wieso jetzt beängstigend?

(lacht) Weil wir alle abergläubisch sind, Musiker sind abergläubisch. In der Generalprobe müssen gravierende Dinge passieren, wenn das nicht passiert, wird die Aufführung nicht gut. Aber wie mir ein Kollege gerade vorhin sagte: Wir haben ja noch eine zweite Generalprobe.

Wie sehen Sie das Publikum während des Konzertes? Viele Musiker sagen ja, das Publikum trägt uns und hat großen Anteil an unserem Konzert. Ist das hier auch so?

Absolut, es unterscheidet sich um nichts. Ganz im Gegenteil, ich finde es manchmal fast noch intensiver, weil die Leute – das zieht sie so rein, diese Verbindung von einem Film auf einer großen Leinwand, diese visuelle Kraft; fast müsste man sagen, in Verbindung mit live gespielter Musik macht man eine ganz außergewöhnliche Erfahrung. Und das spüren wir. Das ist auch das, was mich immer an diesem Genre fasziniert hat.

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin präsentierte beide Teile von Eisensteins „Iwan der Schreckliche“ mit der Musik von Sergej Prokofjew in einem Filmkonzert am 16. September 2016 im Rahmen des Musikfest Berlin.