Der Schluss des Werkes zog noch jeden in seinen Bann. Fast vierzig Minuten haben ein großer Chor, acht Solisten und ein Riesenorchester ein geistiges Drama ausgetragen – mit prägnanten Wortwechseln, glühenden Bekenntnissen, heftigen Anklagen und scharfen Entgegnungen. Zwischen eindringlichem Sprechen und ekstatischem Singen wurden alle stimmlichen Ausdrucksformen mobilisiert. Das Orchester hielt den Gang der Dinge musikalisch zusammen, trat manchmal in den Vordergrund, blieb oft wie eine Induktionsschleife in die vokalen Texturen eingewoben. Dann plötzlich ertönt Musik von ganz woanders her. Vier Ensembles an der äußersten Peripherie des Saales greifen in das Klanggeschehen ein, kleine Instrumentalgruppen und hohe Frauenstimmen, die textlos singen. Der Raum scheint geweitet, nach oben offen. Der Chor auf der Bühne schweigt, das Orchester nimmt sich immer weiter zurück, schließlich ziehen die Fernensembles die Musik ganz an sich. Sie verklingt mit zwei Sopranen in höchsten Höhen. Arnold Schönbergs Oratorium „Die Jakobsleiter“ (Hörbeispiel) endet mit „einem der eindrucksvollsten Schlüsse, die es in der abendländischen Musik gibt“ (Winfried Zillig).

In der Tiefe ließ der Komponist sein Werk beginnen. Die Musik durchläuft den Prozess, den der Titel andeutet: von weit unten empor zu Höhen, die nicht mehr ganz von dieser Welt sind. Jakob, dem Erzvater des Volkes Israel, soll Ähnliches im Traum erschienen sein: eine Leiter, die auf der Erde stand und bis in den Himmel reichte, aus dem Gottes Stimme drang; Engel stiegen an ihr auf und nieder. Auch die andere Jakobsgeschichte, sein nächtlicher Kampf mit einem Engel, ist in den Gang des Oratoriums eingearbeitet; Rollen wie der Erzengel Gabriel und ein „Ringender“ weisen darauf hin. Schönberg wollte mit dem Werk, das er während des Ersten Weltkriegs dichtete und komponierte, darstellen, „wie der Mensch von heute, der durch Materialismus, Sozialismus und Anarchie gegangen ist, […] schließlich dazu gelangt, zu Gott zu finden“ – nicht um der puren Religion willen, sondern auch als Antwort auf die Katastrophe, als die er, wie andere Künstler auch, den Krieg erlebte.

Die einzigartige Erfahrung, dass die Musik suggestiv einen Raum schafft, in dessen Höhen sie wie in einem Himmel entschwindet, verdankt sich seltsamerweise der Tatsache, dass „Die Jakobsleiter“ Fragment blieb. Schönberg plante ein zweiteiliges Oratorium, in dessen Mitte ein „symphonisches Zwischenspiel“ stehen sollte. Für beide Teile schrieb er zwar das Textbuch, die Komposition aber endet mit dem großen Interludium, das vieles musikalisch vorwegnimmt, was er im zweiten Teil genauer ausführen wollte. Die Verheißung, die in dem Orchesterstück mit Fernensembles liegt, verleiht dem Fragment seine zwingende Wirkung.

Beim Musikfest wird Schönbergs Oratorium mit zwei Werken kombiniert, die es von verschiedenen Seiten beleuchten. Gustav Mahlers „Kindertotenlieder“ bewegen sich, bildlich gesprochen, um das untere Ende der Jakobsleiter, dort, wo sich Leid und Schmerz sammeln. Einmal aber schwingen sie sich auch musikalisch auf zu „jenen Höh’n“, in denen der Tag „schön“ ist, weil ihn der Morgenglanz der Ewigkeit überstrahlt. Iannis Xenakis‘ „Shaar“ (Das Tor) ist durch eine kabbalistische Legende inspiriert. Die intensive Studie über die Potenziale des Streicherklangs endet offen, aber resolut – als würde ein Tor aufgestoßen, doch nicht durchschritten.

Einmalig wird das Erlebnis der „Jakobsleiter“ jedoch nicht nur durch die musikalischen Kontexte, sondern auch durch eine aufführungspraktische Entscheidung. Wenn Schönbergs Oratorium zu hören war, dann wurden in der Regel die Fernmusiken vorproduziert und über Lautsprecher eingespielt. Am 17. September 2015 werden sie live erklingen. Ingo Metzmacher: „Die Berliner Philharmonie bietet ideale Möglichkeiten, die Fernensembles wirkungsvoll aufzustellen. Ich finde, man sollte die besonderen Vorzüge dieses phantastischen Saals nutzen und mit Live-Ensembles arbeiten. Das wird mit Sicherheit eine wesentlich intensivere Erfahrung sein.“

„Die Jakobsleiter“ wird, aufgeführt vom Deutschen Symphonie-Orchester unter Leitung von Ingo Metzmacher, im Rahmen des Programms „Erzengel Gabriel“ am 17. September 2015 gemeinsam mit Kompositionen von Iannis Xenakis und Gustav Mahler in der Berliner Philharmonie zu hören sein.