„3–1“, und dann: „1–2–1“, und dann wieder: „1–1–2“, rufen die Tänzerinnen Sophie Camille Brunner und Kaya Kolodziejczyk den Jugendlichen immer wieder zu. Sie studieren beharrlich eine Choreografie von „Rosas danst Rosas“ auf der imposanten Großen Bühne des Hauses der Berliner Festspiele ein. Sie wiederholen die Bewegungen, die auf schier unendliche Weise immer wieder neu kombiniert werden können. Auf einem großen Blatt zum Ablesen ist die Kombinationsstruktur aufgeschrieben. Hinter den jungen Tänzer*innen ist der eiserne Vorhang hochgezogen, der Blick fällt in den Zuschauerraum der Großen Bühne mit seinen 999 Plätzen. Ein beindruckendes Szenario. Vor den Tanzenden: ein Kamerateam. Es filmt den ganzen Tag. Es zeichnet alles so auf, dass eine eigene Version der Choreografie entsteht, die als Tanz-Video auf der Projekt-Site Re:Rosas eingestellt wird.
Hier üben 60 Jugendliche, 11 bis 23 Jahre alt, Millennials, um die Jahrtausendwende Geborene, viele Mädchen und junge Frauen, ein paar Jungs und junge Männer – sie alle nehmen am Tanztreffen der Jugend der Berliner Festspiele teil, sie alle vereint eine gemeinsame Leidenschaft: tanzen. Christina Schulz, Leiterin des Treffens, erzählt mir, dass die Festspiele das Tanztreffen ins Leben gerufen haben, da es bis zu seiner Gründung 2014 keinen Ort für Heranwachsende in Deutschland gab, an dem zeitgenössischer Tanz im Mittelpunkt stehe: „Also kein Ballett, kein Hip Hop, keine Standardtänze, kein Musical, kein … – zeitgenössisch!“, denke ich. Ein Katalog von Fragen rattert durch meinen Kopf. Ist die außergewöhnliche, minimalistische, in den 80er-Jahren entstandene Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker, die mittlerweile tradierter Teil der Tanz-Geschichte ist, für die Jugendlichen zeitgenössisch? Man kennt den Plagiatsvorwurf an den Popstar Beyoncé im Jahr 2011 – sicherlich motiviert die Idee des Tanz-Videos Heranwachsende, sich zeitgenössische Tanz-Kunst einzuverleiben, überlege ich anerkennend. Und dann schleicht sich ein kleines „Warum?“ ein. Was heißt zeitgenössisch für eine Generation, die wie keine andere von sich behaupten kann, dass sie die ‚zeitgenössische‘, die gegenwärtige sei? Zu Hause angekommen klick ich mich durch die derzeit aktuellen Top Ten auf YouTube: Songs von Ellie Goulding, Felix Jaehn, Sido, Sigala, Namika, Louane, Glasperlenspiel und Adele. Viel Tanz und Groove, viel Sex und Hips und Hipsters – vermarktete Jugendlichkeit oder quirlig lebendiges Zeugnis von Heute? Was heißt zeitgenössisch, wenn Jugendlichkeit und junge Körper ein gesamtgesellschaftliches Ideal sind und wenn, wie zum Beispiel auf der letzten Fashion Week in Berlin, man 16-Jährige Kleidung präsentieren lässt, die von Mittdreißigern gekauft wird?
Der Blick auf das Battle
Am Sonntagabend findet das Dance Battle „Arena #1“ mit Tanz-Pärchen der verschiedenen Ensembles statt. Die Duos treffen per Los aufeinander. Hier ist er, der junge Life-Style, meine ich scherzend zu einem smarten, grauhaarigen Kollegen, der neben mir stehend im Rhythmus der Musik wippt. Die Hamburger Franklyn & Can – mit Basecap, Tattoos und Baggys – moderieren, DJane Reina legt auf. Spätestens bei einem Song mit Balkanbeats denke ich: Respekt! Hier ist keine Zeit darüber nachzudenken, ob man sich mit seinen improvisierten Tanzeinlagen blamieren kann, hier gilt einfach nur: Go for it! Die Jury: ein Team der Jugendlichen selbst. Spontan grooven alle mit, egal wie jung, mit- und gegeneinander, beeindruckend mit welcher Leichtigkeit und welchem Verve sie hippe Moves beherrschen, sich in die Arena schmeißen oder sich erstmal lässig die Jacke ausziehen, auch wenn der Beat schon brummt, sich selbst inszenierend und cool. Und dennoch: In keinem Augenblick ist die Aggressivität der Street-Shows oder vieler Tanzvideos zu spüren, in denen sich inszeniert Zicken anzicken und testerongeschwängerte Jungs sich gegenseitig das Feld streitig machen. Hier in Berlin, immer wieder kleine Momente der Scheu, in denen sich die Kids anschauen, mal kurz durchatmen, sich gegenseitig anfeuern. The winner is: ein junges Tanzpaar aus Düsseldorf. Der zweite Platz geht an die Jüngsten, ein Tanzduo der Kindercompagnie von Sasha Waltz. Respekt!
Nach der Preisverleihung. „Was geht ab! Jetzt könnt ihr weiter tanzen!“, spornen die beiden HipHopper an. Doch die meisten gehen nach Hause, ins Hostel. Die Tage bei den Festspielen sind anstrengend. Programm den ganzen Tag. Workshops – Krumping, Modern, Martial Arts Theatre etc. – jeden Tag Gespräche, Spezial-Programmpunkte wie Stadtrundfahrt und Konzert, abends die Aufführungen.
Am nächsten Morgen schließe ich mein Fahrrad draußen vorm Theater an – ein paar Jugendliche balancieren auf den in einer Reihe angebrachten Anlehnbügeln, ihre Füße finden für Sekunden Halt auf den schmalen Stangen der Bügel, ein Mädchen schwingt sich für einen Moment hoch, springt runter und rennt weiter. „Die sind schon länger wach … “, denke ich und freue mich an dem Spaß, den sie sichtlich haben.
Der Blick in den Zuschauerraum
Auf der Bühne dann, bei den abendlichen Shows, sind keine Parkour-Einlagen in Sicht. Sieben ausgewählte Gruppen aus sieben Bundesländern zeigen ihre Arbeiten (aus 68 eingegangenen Bewerbungen ausgewählt; Bayern und NRW liegen in der Anzahl vorn). Der Blick ins Programmheft verrät: Zum großen Teil kommen die Gruppen aus Tanz- oder Ballettschulen sowie den Theatern, seltener aus Schulen. Zeitgenössischer Tanz wird also in der Freizeit produziert. Ich werfe einen Blick ins Publikum, alle eingeladenen Tanzensembles sind da: Es gibt auffallend wenig Gruppen, die sichtlich bunt, multikulti sind, was mich für einen Moment irritiert. Mein Fragenkatalog macht sich mit einem BING!-Ton wieder laut bemerkbar: Ist zeitgenössisch kein Breitenphänomen?
Ich denke übers Theater der letzten Jahre nach, wo die Frage nach einer eigenen Ästhetik in der Arbeit mit den ‚Experten des Alltags‘ brisant und spannend war und immer noch ist. Auch weil sie dem pädagogischen Würgegriff entkommen will und gleichzeitig den Spagat schafft hin zu einer Kultur mit und von Heranwachsenden, die sie als Schöpfer ihrer eigenen Ausdruckskompetenz respektiert und dabei anspruchsvolle Formate wie biografisches Theater, Partizipationsspiele, Medienreflektion usw. hervorbringt.
Der Blick auf die Bühne
Die Woche wird mit „Tantalos“ vom Staatstheater Mainz eröffnet. Damit steht ein klassischer Erzählstoff der griechischen Mythologie im Zentrum der Arbeit. Im Netz finde ich das Bild der „Reach Machine“, ein zentrales Bild der Inszenierung, die an den in der Grube stehenden Tantalos erinnert. Eine Jugendliche kommentiert es wie folgt: „Jeder reicht nach etwas, jeder versucht, etwas zu erreichen. Wir wollen Dinge erreichen, die wir nie erreichen.“ Die Bewegungen seien alltägliche, individuell gefundene Routinebewegungen. „Jeder ist sehr individuell vertreten.“
Sie beschreibt hier das, was diese Inszenierung in ihrer brillanten Bildmächtigkeit ausmacht. Viele der Jugendlichen bringen keine tänzerische Vorerfahrung mit, aber sie bringen ihr Material ein, deren Qualität die Choreografen zusammen mit ihnen im Probenprozess herausschälen. Und es entsteht ein Abend über diesen Mythos mit sehr kraftvollen Körper- und Raumbildern. Körper, die durch einen Lichtkegel springen, Hände, die durch die Luft zittern, immer wieder Kontrastierungen einer Gruppe und eines einzelnen Menschen im Raum. Ein Stück, das in atemberaubender Stille beginnt, und den Mut hat, lange über die Schattenseite des Sich-Sehnens zu erzählen.
In der Münchener Arbeit „RAUSCH“ sind es die Typen, die mich faszinieren, einzelne Interpretationen, Solos und auch Duos. Und auch hier ist der Ausgangspunkt ein Klassiker der deutschen Literaturgeschichte: Goethes „Faust“. Elf junge Tänzer*innen improvisierten im TheaterLabor Tanz des Junges Resi zu Motiven der Vorlage und gelangten schließlich zu Choreografien und persönlichen, zum Teil sehr intensiven Darstellungen von Verführung, Rausch und Ausbruch. In ihrer 20-minütigen Inszenierung zeigen sie das verdichtete Material in einem durch Licht klar abgegrenzten, kalt wirkenden Raum. Nicht immer schöner Tanz, nicht immer perfekt. Oft sehr sinnlich in seinen Zwischentönen, wenn man etwa hört wie zwei Tänzerinnen sich riechen und den Atem dabei tief einsaugen, oder pulsierende Muskeln eines Rückens zu sehen sind. Die Aufführung hört plötzlich auf, zu kurz das Ganze, ein fahler Nachgeschmack bleibt. Eine Zuschauerin meint: „Wie nach einem Rausch. Passend, so mit Lust auf Mehr zurückgelassen zu werden.“
Bei „Alice“ erlebe ich dann eine feingliedrig gebaute, tanztechnisch ausgefeilte und fast ohne Musik auskommende 20-minütige Inszenierung des neunköpfigen Jugendensembles Saltazio aus Hildesheim. Der Tanz bewegt sich in einer Kreisstruktur im Raum, die etwas Zwingendes hat, etwas wird eingekreist und festgehalten. „Das steht im Widerspruch zu den Erwartungen, die der Titel auslöst … Alice, Wunschwelt, Träume …“, denke ich. Und dann poppen in dieser Strenge der Choreografie einzelne, von den Jugendlichen gesprochene Sehnsuchtssätze auf wie: „Stellt euch vor, die, die man mag, blieben für immer.“ Und dann grinsen und posieren die Tänzer*innen wieder fakend für ein Selfie. Mir wird klar, hier geht es um eine innere Welt voller Wünsche, Gefühle und Hoffnungen und eine äußere, in der Privates nicht öffentlich werden darf.
Wie wäre es, wenn man sagen könnte, was einen wirklich bewegt – Eltern trennen sich, Freunde ziehen weg…? Wenn man wahre Wünsche äußern könnte, ohne Angst. Der Bühnenraum ist in leichte Grüntöne getaucht, die die klaffenden, fein gebauten Bruchstellen zwischen Wünschen, Zurückhalten und Nicht-Äußern mit einer hoffenden Färbung unterlegen – manchmal wünschte ich sie mir eisiger, frontaler, unerbittlicher.
Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Teenage Riot aus, es wird kein Stein geschmissen, keine Messerspitze in die Haut geritzt oder Körper gegen die Wand gedonnert, es gibt keinen Cyberspace oder digitalen Overflow, keine Texte gegen die Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Katastrophen. Stattdessen leise und intensive Töne über menschliche Sucht- und Sehnsuchts-Abgründe, über eine andere, offene, ohne gesellschaftlichen Druck funktionierende Wünsch-Wunder-Welt. Oder aber eklektischer Mediengebrauch, der eine zusammengestückelte Welt mit Bewegungen und Musik aus Film- und Musikwelt ergibt wie bei „Tabi“, einer Recherchearbeit zum Thema Japan vom Tanzhaus NRW Düsseldorf. Die Woche erstreckt sich vom Thema (körperliche) Identität, wie in „Selbstbaukasten“ der tjg.theaterakademie Dresden, über Kontakt in „Dritte Art“ des Tanzstudios Danzon in Tübingen bis hin zu im Raum angesiedelten, regelgeleiteten Improvisationen zu verschiedenen Energiezuständen in „Feuerblume“ der Kindertanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Alle beim Treffen gezeigten Arbeiten sind Stückentwicklungen. Auf der Bühne bleibt während der ganzen Woche der Flash Mob aus, keine Fernseh-Show-Parodie, kein Partizipationsspiel … es wird getanzt: auf der Bühne, es wird zugeschaut: im Zuschauerraum. Es wird frenetisch geklatscht. Und aftershow: wird kollegial gestritten und eine Menge Spaß gehabt.
Eigentlich ganz erschreckend: dunkle Stücke ohne Aufschrei – ist das nun doch die Ohnmacht, dass man noch nicht mal mehr schreien kann?
Diese Frage blitzt für einen Moment auf, als ich die letzte Aufführung in meiner Woche beim Tanztreffen zusammen mit meinen Töchtern und ihren Freunden sehe. Alle sind Anfang zwanzig, eine lustige Runde mit kanadischen, italienischen, kurdischen und rheinländischen Wurzeln. Meine Denke sei ihnen zu politisch, meinen sie. Sie selbst seien nicht unpolitisch. Für sie sei das alles eher eine Frage von Konsum, Ethik oder Lifestyle und nicht von einer zu verändernden Gesellschaftsordnung. Sie wollen nach ihren eigenen Vorstellungen leben. Sie sind noch verabredet, checken die Adresse von dem Club in Kreuzkölln aus – ich bleibe noch einen Moment bei einem Bier sitzen und schaue in die Runde, zu den Tischen, an denen die jungen Talente sitzen. Vielleicht macht genau diese Haltung sie zu heimlichen Revolutionären, die auf ihre Weise auch den Tanz verändern.
Das 3. Tanztreffen der Jugend findet vom 23. bis 30. September 2016 statt. Bewerbungen sind bis zum 31. März 2016 möglich.