„Der kinematographische Akt besteht darin, daß der Tänzer selbst in den Tanz eintritt, so wie der Träumer in den Traum.“
Gilles Deleuze, „Das Zeit-Bild. Kino 2“

Blickt man zurück an jenen filmhistorischen Wendepunkt, an dem das Kino aufhörte zu schweigen und der Stummfilm durch den Tonfilm verdrängt wurde, so scheint es nach wie vor bemerkenswert, dass dem Film das Singen näher zu liegen schien als das Sprechen. Der Siegeszug des Tonfilms begann 1927 mit Al Jolson (mit rassistischem Blackface-Makeup) als „The Jazz Singer“, und nahtlos schloss eine Jahrzehnte andauernde künstlerische Blüte des Filmmusicals an, die von Ikonen wie Busby Berkeley, Fred Astaire, Ginger Rogers, Judy Garland oder Gene Kelly geprägt wurde. Anlässlich des Deutschland-Debüts des John Wilson Orchestra beim Musikfest Berlin 2016, das unter dem Titel „A Celebration of the MGM Film Musicals“ zahlreiche klassische Songs der Broadway- und Kinogeschichte in die Philharmonie bringt, habe ich mich auf eine Erinnerungsreise begeben und sechs ganz persönliche Lieblingssongs aus mehr als drei Dekaden Musicalgeschichte zusammengestellt.

1935
Fred Astaire & Ginger Rogers: „Cheek to Cheek“ (aus: „Top Hat“)

Musik & Text: Irving Berlin, Choreografie: Fred Astaire & Hermes Pan

„When Fred Astaire danced, everything in this world was perfect“, schwärmte Stanley Donen, der Astaire als Neunjähriger erstmals auf der Kinoleinwand tanzen sah, davon inspiriert selbst zum Tänzer, Choreografen und Regisseur wurde und später mit Gene Kelly eine ganz neue, modernisierte Form für das Hollywood-Musical entwickelte. In der Tat ist die Eleganz Astaires berückend – und am besten war er, wenn er gemeinsam mit Ginger Rogers tanzte. Wie hier der sachte, fast beiläufige Gesang Astaires, anfangs noch im Paartanz einer Abendgesellschaft verortet, seine Partnerin in allmählicher, aber ganz fließender und auch zielstrebiger Bewegung dem gesellschaftlichen Szenario entrückt und sie in das Außen des ganz und gar artifiziellen Kulissen-Venedig führt, das belegt nachdrücklich: Für Tänzer*innen wie Astaire und Rogers wird jeder Raum am Ende zur Bühne.

1944
Judy Garland: „The Trolley Song“ (aus: „Meet Me in St. Louis”)

Musik: Ralph Blane, Text: Hugh Martin, Choreografie: Charles Walters

Judy Garland wird natürlich für alle Kinogeschichtsschreibungen stets zuallererst Dorothy aus „The Wizard of Oz“ sein? Noch näher ist mir aber „Meet Me in St. Louis“, der erste große Film von Vincente Minnelli, der in den folgenden Jahren nicht nur zu einem der bedeutendsten Regisseure des klassischen Hollywood, sondern auch zum Ehemann Judy Garlands wurde. Man spürt diesen Funkenflug zwischen Regisseur und Schauspielerin noch immer, wenn man den Film heute sieht, geradezu taktil scheint die Verliebtheit der Kamera in Garland, in ihre Szenen, ihre Songs, ihre Close-ups, fühlbar zu werden. Und was für ein schöner Film das ist, und wieviel vermeintlich Disparates er schlüssig zusammenbringt! Mitunter schon beinahe sozialrealistisch erzählt „Meet Me in St. Louis“ vom Innenleben einer bürgerlichen Familie in den Jahren 1903/04, zur Eröffnung der Weltausstellung in St. Louis hin – kleine Anekdoten und große Lebensentscheidungen stehen, allesamt mit derselben Warmherzigkeit ernst genommen, nebeneinander, und auch für die wundervolle Infantilität, die so vielen großen Musicals zueigen ist, bleibt noch Raum. Sie bleibt jedoch eine Klangfarbe in einem größeren Spektrum, und grundiert ist es mit Melancholie.

1949
Gene Kelly, Frank Sinatra & Jules Munshin: „New York, New York“ (aus: „On the Town“)

Musik: Leonard Bernstein, Text: Betty Comden & Adolph Green, Choreografie: Gene Kelly & Stanley Donen

„On the Town“ ist in vieler Hinsicht ein Debüt. Das Broadway-Musical, auf dem der Film basiert, ist das erste, das Leonard Bernstein schrieb. Die Verfilmung ist das Regiedebüt von Stanley Donen, der in der kreativen Partnerschaft mit Gene Kelly in den folgenden Jahre mehrere Meisterwerke des Genres schuf. Und der berühmte Eröffnungssong „New York, New York“ wurde als erste große Musicalnummer der Kinogeschichte an Originalschauplätzen rund um diverse New Yorker Sehenswürdigkeiten gedreht. In der amerikanischen Populärkultur ist er bis heute tief genug verankert, um bei den Simpsons parodiert zu werden – und das, obgleich der ikonische Vers „New York, New York / It’s a helluva town“ aufgrund der Anpassung an den Hays Code, der unbedarfte Kinozuschauer*innen vor moralischen Verderbtheiten jedweder Façon schützen sollte, geändert wurde, sodass Gene Kelly, Frank Sinatra und Jules Munshin nun nur noch eine „wonderful town“ besingen durften.

1952
Gene Kelly: „Singin’ in the Rain“ (aus: „Singin’ in the Rain“)

Musik: Nacio Herb Brown, Text: Arthur Freed, Choreografie: Gene Kelly & Stanley Donen

„Der Augenblick der Wahrheit stellt sich dann ein, wenn der Tänzer noch geht, aber schon wie schlafwandlerisch wirkt und dann von der Bewegung ergriffen wird, die ihn herbeizurufen scheint“, so schreibt Gilles Deleuze über den berühmtesten Tanz der Kinogeschichte, der „aus den Höhenunterschieden des Gehsteigs zu entstehen scheint.“ Und Izzy Maurer, der von Harvey Keitel gespielte Protagonist von Paul Austers Regiearbeit „Lulu on the Bridge“, nach dem Rückzug Gene Kellys sei das Kino für ihn freudlos geworden. Der berühmte Regentanz aus Kellys und Donens „Singin‘ in the Rain“ aber sei eines der schönsten Dinge, die je von einem Amerikaner geschaffen wurde, so schön wie die Unabhängigkeitserklärung oder „Moby Dick“. Oder sogar noch schöner, denn: „‚Singin‘ in the Rain‘ is forever.“

1958
Louis Jourdan: „Gigi“ (aus: „Gigi“)
Musik: Frederick Loewe, Text: Alan Jay Lerner, Choreografie: Vincente Minnelli

Der Titelsong aus Vincente Minnellis „Gigi“ beginnt mit einem Moment des Stutzens: „Oh no … but …“, bevor aus dem Sprechen ein Singen wird, das aber noch nicht sofort ganz im Rhythmus des Melodischen aufgeht. Es ist ein Erkenntnisprozess, dem wir hier beiwohnen – eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechsingen, eine allmähliche Verfertigung des Liebens beim Gehen, das, während die Sprechmelodie nur sehr bedächtig, aber doch unaufhaltsam zur deklamierenden Gesangsmelodie wird, eben gerade nicht in den Tanzschritt übergeht, sondern einem einigermaßen mit dem Alltag vermittelbaren Bewegungsrepertoire verpflichtet bleibt. Man kann, wenn man das sieht und hört, durchaus glauben, dass für den Augenblick des Sichverliebens nie vorher oder nachher derart makellose Kinobilder und -klänge gefunden wurden.

1967
Gene Kelly & Françoise Dorléac: „Concerto (ballet)“ (aus: „Les Demoiselles de Rochefort“)
Musik: Michel Legrand, Choreografie: Norman Maen

Der letzte Filmausschnitt fällt in doppelter Hinsicht aus dem Rahmen: „Les Demoiselles de Rochefort“ ist kein amerikanischer Film, und der Tanz nach der Filmmusik von Michel Legrand kommt ohne Worte aus. In gewisser Hinsicht aber ist Jacques Démys Film, obgleich in Westfrankreich gedreht, dennoch das letzte große Hollywood-Musical – eine europäische Liebeserklärung an ein Genre, das im amerikanischen Kino mit großen Schritten dem Ende seiner besten Schritte entgegentanzte, und ganz bestimmt und vor allem auch in dieser Szene ein Liebesbrief an Gene Kelly – den Fremden aus Amerika, auf den die „Demoiselles“ Catherine Deneuve und Françoise Dorléac bereits ihr Leben lang gewartet haben und der nun, wie aus einer anderen Zeit und einem besseren Kino, in weißem Anzug, rosa Hemd und im amerikanischen Cabrio in diesen Film, Démys schönsten, hineinfährt.

Das John Wilson Orchestra präsentiert sein Programm „A Celebration of the MGM Film Musical“ am 4. September 2016 um 19:00 im Rahmen des Musikfest Berlin 2016 in der Philharmonie. Mit „The Trolley Song“, „Gigi“ und „Singin’ in the Rain“ werden drei der hier vorgestellten Songs im Programm enthalten sein.