Das Projekt JungeReporter wendet sich an junge Leute ab 15 Jahren, die Lust am Schreiben haben. Sie müssen nicht unbedingt selbst ein Instrument spielen, malen oder gern auf der Bühne stehen, sondern es kommt auf die Neugier für alle Kunstformen an. Für das Berliner Festspiele Blog besuchen sie Proben und Konzerte bei MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2016.
Freitagabend in Berlin. Dieses Mal geht es in die urige Location Sophiensaele unweit den Hackeschen Höfen. Wieder einmal ist es sehr voll – ausverkauft. Das verheißt so einiges an positiver Überraschung. Ich ergattere einen perfekten Platz, mittig, erste Reihe. Die Stufen hinter mir füllen sich schnell. In blauen Nebel getaucht, wirkt der großräumige Saal kühl, auch wenn mir meine Körpertemperatur in dem Punkt zu widersprechen versucht. Verstärkt wird der frostige Eindruck durch einen zentral platzierten Eisblock, der auf einem Tisch thront. Die neben ihm verteilten Geräte scheinen nur darauf zu warten, ihn genüsslich zu zerstückeln. Dennoch erschließt sich mir noch kein Sinn zwischen ihnen und den Keyboards, Gitarren, Turntables sowie dem Drumset. Ich bin gespannt, wie die Instrumente gespielt werden, denn auffällig ist, dass die Spieler sie mit dem Rücken zum Publikum bedienen müssten.
Das Licht dimmt herunter, die Leinwand wird heller. Zunächst transformiert sich das tiefe Schwarz nur in einen blassen Schimmer, der von bedrohlichem Rauschen untermalt wird. Dann erscheinen Luftblasen im Wasser. Es wirkt wie ein Action-Video eines Outdoor-Schwimmers. Manchmal geht er auf den Grund, verharrt im trüben Dickicht von Wasserpflanzen und aufgewirbeltem Sand. Lange schwimmt die fiktive Figur, deren Körper der Zuschauer sieht. Nun ist er näher an der Oberfläche, er trifft auf Eis, stößt vehement dagegen und bricht es schließlich. Der Blick auf eine große Schneefläche im eisigen Sturm eröffnet sich. Das Rauschen und Pfeifen des Windes bohrt sich in jede Zelle meines Körpers.
Im nächsten Schnitt sehen wir Wolfram Sander mit einem rot umhüllten iPad und einem Radio im Retro-Look durch den Schnee stapfen. Mit dem gleichen Outfit steht er hier live vor uns, nimmt das Licht hoch und nimmt spielt und lässt dasselbe Radio wie im Film ein Liebeslied vorspielen. Man versteht anfangs nur vokalisches Raunen, doch kristallisiert sich die Zeile „I love you“ heraus. Es knistert im Radio. Vielleicht auch im Menschen. Wieder hält er kurz inne, bevor die Figur im Film durch die endlose Eiswüste zu stapfen beginnt, während er sich an den Eisblock macht.
In das Zentrum des Eisblockes führt ein Kabel. Das Mikrofon am Ende verstärkt die Geräusche, die nun produziert werden. Schaber, Feile, Bohrer – so unterschiedliche Geräte erzeugen auch unterschiedliche Töne. Ein spannendes Hörerlebnis, während Sander seelenruhig und sicher das Eis formt. Es regt dazu an, die Töne im Alltag mehr wahrzunehmen, zu schätzen, zu verarbeiten. Das erste Dreieck ist aus dem Block gehauen. Sander hängt es an einem Fleischerhaken über dem Drumset auf. Durch ein Netz wird es daran gehindert, bei starker Schmelze auf die Trommeln zu fallen, bis dahin allerdings taut die Masse und kreiert ein unregelmäßiges Tropf-Pattern, das synthetisch und hart klingend verstärkt wird. Im Hintergrund läuft unentwegt der von hinten gefilmte Schneemensch durch die weißen Weiten.
Nacheinander und jedes Mal penibel, als wenn Größe und Form genau geplant wären, werden die nächsten eisigen Zufallsspieler geformt und über Snare, Tom und Crash gehängt. Schließlich muss auch der Bass dran glauben. Drahtstücke mit dickem Auffangende übertragen die hämmernde Schwingung der Tropfen. Es wird ein lauter Mix aus trockenen Lauten, die beliebig ihren Gang vollführen. Ein Blick auf die Leinwand eröffnet eine wundervolle Aussicht auf einen eisblauen Fjord, der von weißen Berghängen ummantelt wird. Es wird nicht langweilig, man verfolgt die Tränen der Eiskreaturen oder sieht dem konzentrierten Künstler bei seinem Handwerk zu, der nun auch immer grober werdende Eisblöcke auf die Keyboards legt und damit einen immer dichteren Klangteppich webt, der grob und doch hell erscheint.
Als ob es nicht schnell genug ginge und genug Eindrücke in Tropfenform auf einen herniederprasseln würden, werden nun Heizstrahler an Gitarre, Bass und Drums angeschaltet. Das Ergebnis kann sich jeder denken. Aus einer weiteren Schatzkiste zaubert Sander zwei Eisscheiben heraus, um sie auf den Turntables zu installieren und mit dem dadurch erzeugten Knistern eine Gänsehaut hervorzurufen. Aber nicht nur die, auch die Sehnsucht nach dem Winter, nach Kühle und Ruhe kommt hoch in diesem heißen Saal voller Menschen. Ich frage mich, ob das Stück ein Pendant der Neuzeit zu der kalten von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ darstellt. Doch Parallelen gibt es nicht viele. Eventuell eine Kritik am Klimawandel – das kann man schon sehr offensichtlich herleiten, denn so froh ich bin, dass die Zeit der lauten Geräuschabfolgen mit der zunehmenden Schmelze ein Ende finden wird, so traurig wird mir bei dem augenscheinlichen Gedanken die Vergänglichkeit der polaren Eismassen. Diese werden dramatisiert durch die immer schneller dröhnenden Pauken und clusterartigen Akkorde von Keyboards und Bass, die durch das beschleunigte Schmelzen des Eises hervorgerufen werden. Die Gitarre ertönt nur selten als hohes Solo, da erst ein Auffangbecher wollaufen und schließlich kippen muss, um das Instrument zu „spielen“. Das Tropfen in den Becher wirkt wie das Ticken einer Uhr. Aber unregelmäßig, so dass man nicht vorhersehen kann, wann die Gitarre erklingt.
Auf der Leinwand, auf der unser Protagonist dem Wasser immer näher kommt, gesellen sich weitere Figuren hinzu, die seinen Pfad teilen. Doch er liegt hinter ihnen zurück. Der erste Brocken Eis fällt von der Stange. Das Eis wird weniger. Sander beeilt sich, noch viele Klötze regelrecht auf die Keyboards zu werfen, um unter anderem eine atmosphärische Basssphäre zu kreieren. In dieser hektischen und zugleich pedantischen Weise fetzt er mit einem elektrischen Schleifgerät auch die letzten Kanten vom Eis ab. Nur noch das Ende des Kabels bleibt umhüllt. Die Menschen im Video sind angekommen an den brandenden Wellen des Fjords. Auf groben Steinen laufen sie um ein kleines Lagerfeuer herum, was trotzig dem Wind standhält. Das Radio liegt im Schnee. Sander packt auf der Bühne das vom Block übrig gebliebene Eis in eine Truhe und schüttet den Inhalt in den Nebelwerfer, der daraus eine dichte Wolke in die Richtung der Zuschauer bläst.
Noch einmal ertönt das knisternde Liebeslied vom Beginn als rauschendes Duett. Ich kann kaum noch etwas sehen, alles scheint verschleiert. Plötzlich werden sämtliche Scheinwerfer aktiviert, helfen jedoch nicht bei der Sicht, da sie direkt auf uns gerichtet sind. Das Licht lässt das kühle Eis vergessen, wirkt wie die Sonne an Frühlingstagen und doch nach einiger Zeit unangenehm. Es wird erst heruntergedimmt, als Sander sich selbst schon mitten unter uns ins Publikum geschlichen hat und aus einer Truhe Eis in kleinen, weißen Papiertütchen verteilt. Die Figuren auf der Leinwand wärmen sich immer noch am Feuer. Plötzlich sind wir zurück in der Realität. Die Aktion wirkt beinahe kindlich, einfach gefrorenes Wasser ohne Geschmack zu schlecken.
Wahrscheinlich kann sich jeder seinen Teil zu dem Vollbrachten denken. Die Eismassen schmelzen bedrohlich. Die LIEBE sollte nicht nur den Menschen gelten, ebenso der Natur, die doch unser Lebensraum ist und so die Grundlage für Existenz schafft. Sander appelliert mit dieser natürlich-musikalischen Aufführung, der ernsthaften Ausführung und dem doch hoffnungsvollen Schluss, dass es nichts nützt, Liebeslieder zu singen, wenn die wertvolle Schöpfung dabei vergessen wird.
„LIEBE – Ökonomien des Handelns 3“ ist am 16., 17. und 18. März im Rahmen von MaerzMusik um 20:00 Uhr in den Sophiensaelen zu sehen.