Das Projekt JungeReporter wendet sich an junge Leute ab 15 Jahren, die Lust am Schreiben haben. Sie müssen nicht unbedingt selbst ein Instrument spielen, malen oder gern auf der Bühne stehen, sondern es kommt auf die Neugier für alle Kunstformen an. Für das Berliner Festspiele Blog besuchen sie Proben und Konzerte bei MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2016.
Es ist ein Experiment der besonderen Art. Für knapp 15 Stunden werde ich mich durchgehend mit Musik der nicht alltäglichen Art beschallen lassen. Als Abschluss der MaerzMusik 2016 stellt dieses Event mit einer Gesamtdauer von 30 Stunden wohl zumindest längentechnisch den Höhepunkt dar. Ich habe bereits die riesigen Betongemäuer des Kraftwerks Berlin inspiziert und mir eines der vielen Feldbetten in unmittelbarer Nähe zur Main Stage gesucht, als pünktlich um 19 Uhr der Pianist Marino Formenti den Abend einleitet. Er spielt Musik von Morton Feldmann und John Cage. Der Gemütszustand der zahlreichen und vielfältigen Zuschauer im Saal schwankt zwischen einem ruhigen Barpegel des Flüsterns, angeregten Gesprächen in den Pausen und schlafender Gemütlichkeit in den langen Passagen der ungewohnt, doch nicht hässlich klingenden Akkorde, die lange im Raum nachhallen.
Auch das nächste Projekt – ebenfalls komponiert von Cage – bietet genug Material zum genauen Schauen und Hören. Manuel Nawri hat hierfür 58 Windinstrumente im Raum verteilt. Es entsteht ein faszinierender Fluss aus augenscheinlich wohl dosierten Tönen unterschiedlicher Klangfarbe. Durch die jeweils unterschiedliche Position des Hörers im Raum, kommt es nie zu einem gleichen Hörerlebnis. Zwar stechen einige Instrumente wie hohe Flöten heraus, doch lässt sich schwer sagen, woher ein jeder weiß, wann er zu spielen hat.
Rashad Becker und Moritz von Oswald präparieren und checken noch kurz ihren technischen Aufbau, bevor es ohne eine lange Pause weitergeht. Schließlich darf man sowieso hören, machen und lassen, was und wann man es will. Bei dieser Weltpremiere werden die Töne des Klaviers verwendet, geradezu geraubt, um sie mit allen Mitteln der Technik zu modifizieren und damit zu entfremden. Zwar wird fast ausschließlich die gleiche Taste angeschlagen, doch gelingt es auf eine Weise, die dem Zuhörer verborgen und in den Kabeln und Geräten liegt, diesen Ton in seine Ober- und Untertöne aufzuspalten, was eine gelungene Mischung zwischen klassischen und modernen Gestaltungsweisen schafft.
Ich habe nun doch schon eine Weile ausgehalten, ohne dass es langweilig wurde, doch der langwierige, aber auch bewusst für die Nacht entspannter konzipierte Teil sollte erst noch folgen.
Der Saal ist immer noch voll, aber nicht überfüllt. Das Licht ist bis auf ein minimales Level gedimmt und bietet so dem Körperkreislauf einen Ersatz der absoluten Nachtruhe. Nacheinander gestalten vor dieser Kulisse die Klangkünstler Dan Vincente, Dalhous, Biosphere sowie Robert Curguven organische Töne, die sich für ihre Entfaltung alle Zeit der Welt nehmen. Es ist noch nicht zu spät für einen Samstagabend, doch die Musik lässt einen träumen. Während ich anfangs noch versuche, besondere Merkmale oder Veränderungen zu charakterisieren, stellt sich mit der Zeit eine Gleichförmigkeit ein, welche zwar die Gestaltung durchaus wahrnimmt, diese aber auf Grund ihrer hingezogenen Dauer lieber einfach wirken und fließen lässt. Ausgesprochen viele Naturgeräusche sind auszumachen, Vogelzwitschern, Meeresbrandung und gefühlt auch Walgesänge. Auch wenn die Musik übernatürlich laut und dennoch klar durch die basslastige Anlage des Kraftwerks pulsieren, wirkt sie perfekt als Schlafmusik.
Ich döse meist für eine halbe Stunde weg, werde wach, lausche der Musik und laufe ein wenig umher, um anschließend diesen Rhythmus von vorne beginnen zu lassen. Auf einigen meiner kleinen Rundgänge statte ich der Schaltzentrale einen Besuche ab, in welcher unter passender Beleuchtung die gesammelten Liebesschnipsel von Masha Tupitskyns in Form der 24-Stunden-Installation „Love Sounds“ abgespielte werden. An die hintere Wand ist für eine bestimmte Zeit die Unterkategorie von Liebe in einem Schriftzug projiziert, zu der die Tonaufnahmen zu hören sind. Hierbei handelt es sich um amerikanische Dialoge aus Liebesszenen unzähliger Filme, unterbrochen von Liebesliedern. Es ist eine interessante Erfahrung, lediglich die Dialoge eines visuellen Mediums zu vernehmen, zudem ist es in diesem kleinen Raum etwas ruhiger, wärmer und leerer als in der großen Halle.
Ein Konzert zu hören ist nicht schwer. Auch zwei oder drei hintereinander sind noch zu ertragen. Auf einem Festival beispielsweise fällt dies durch die Atmosphäre und die Abwechslung deutlich leichter als in sehr ruhiger und konzentrierter Situation. Wichtig ist also nicht nur, was gespielt, sondern auch in welcher Form und wie lange. Meist sind es die Phasen der Mitte, in denen nicht mehr der Zauber des Anfangs und noch nicht das Licht am Ende des Tunnels glänzt. In diesen Stunden verging die Zeit langsam. Durch das ewige Wabern der Klänge war kein deutliches Vorankommen spürbar, was uns als effiziente Menschen und mich persönlich schnell ungeduldig macht. Es kommt das Gefühl auf, etwas zu verpassen. Doch irgendwann – und auch das ist das Ergebnis von Ausharren – stellt sich eine Ruhe ein, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mehr zu genießen.
Um 8:30 Uhr verlasse ich das Kraftwerk, meine Ruhestätte der letzten Nacht. Ich atme die nasskalte Berliner Morgenluft ein, die meinem zerschundenen Körper neues Leben einhaucht. Schritt für Schritt setze ich meine schwer gewordenen Füße Richtung S-Bahnhof, zurückblickend auf ein einzigartiges Erlebnis einer Symbiose von Musik und Zeit, zwei Dingen, die so unterschiedlich wahrgenommen werden können. Aus Vorfreude auf das leckere Frühstück und den nächsten 3-Minuten-Song, entfliehe ich aus dieser Blase zurück in die Realität.
„The Long Now“ beendete am 19. und 20. März MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2016 im Kraftwerk Berlin.