15:31 Uhr

Eine halbe Stunde vor dem Beginn der 24-stündigen Performance betrete ich das Foyer im Haus der Berliner Festspiele, das heute ganz im Sinne der „Filoxenia“, der Gastfreundschaft, umgestaltet wurde. Wo vorher Garderoben waren, sind Feldbetten aufgestellt, im Rangfoyer kündigt ein mehrsprachiges Schild Sitzungen beim Orakel von Delphi an, unten gibt es eine Raki-Bar und direkt daneben einen Kiosk, der mit Zahnbürsten, Duschgel und zweierlei Gummis – Weingummis und Kondomen – allerlei Artikel des täglichen Bedarfs feilbietet. Was man halt so brauchen könnte, wenn man 24 Stunden in einem Theater verbringt. Die Artikel sind in drei Kategorien aufgeteilt: kaufen, leihen und gratis. (Okay, dass eine große Schale mit Tampons unter „leihen“ eingeordnet ist, wird wohl ein Missverständnis sein – jedenfalls möchte man hoffen, dass die damit versorgten Zuschauerinnen nicht angehalten werden, sie beim Verlassen des Hauses zurückzugeben.)

16:11 Uhr

Mit ein paar Minuten Verspätung beginnt der Theatermarathon. Bereits während des Einlasses stehen zwei von Jan Fabres Performern auf der Bühne, still, statuarisch, und empfangen die knapp 900 Zuschauer*innen im Großen Saal des Festspielhauses. Als dann die Lichter ausgehen, werden diese zuallererst mit einem überlebensgroßen Penis konfrontiert. Naja, nicht nur mit dem, auch mit dem zugehörigen Schauspieler Cédric Charron, dessen Aktporträt im Riesenformat auf die Rückwand der minimalistisch eingerichteten Bühne projiziert wird. Zwei weitere Performer kriechen als hechelnde Hunde auf die Bühne, gewissermaßen als Boten fungierend. Ihren Bericht tröten sie zwischen die Hinterbacken der beiden Wächter, die uns empfingen, diese wiederholen zwecks besserem Verständnis. Dann stürmt Bacchus mit einer Schar von Tänzern die Bühne, eine Art entfesselter Techno-Begrüßungssong versetzt das Publikum in erste Euphorien. Und das war nur die erste halbe Stunde!

17:50 Uhr

Nach nicht ganz zwei Stunden entschließe ich mich zu einer ersten Pause, obgleich das Verlassen des Zuschauerraums nicht leicht fällt. Zu groß ist die Sogwirkung, die das Geschehen auf der Bühne entwickelt. Ein Highlight dieser ersten Phase von „Mount Olympus“ ist eine lange Sequenz, die zwei Handvoll der Performer seilspringen lässt – mit Metallketten, und bis zur äußersten körperlichen Erschöpfung. Wie im militärischen Drill wiederholen die Springenden dabei immer wieder dieselben Strophen im Gruppensong, mit dem deutschen Schauspieler Gustav Koenigs als Drill Instructor.

What is the pain that hurts the most? The blade of a sword or the words of a ghost. What is the shame you can’t deny? The thighs of your mother or your father’s eye. What is the fear that haunts the night? The demons of sleep or the dreams that have died. What is the monster that eats the day? Unused talents and hair turning grey.

Dann eine Pause, eine andere Performerin bringt Eis am Stiel. Danach noch eine Runde Seilspringen. Das Publikum tobt vor Begeisterung, nur ein Einsamer buht hartnäckig aus dem Rang. Ein gutes Zeichen: wirklich große Kunst bietet immer die Möglichkeit, sie aus Gründen abzulehnen.

18:45 Uhr

Als ich den Saal betrete, schreit ein gutes Dutzend Performer*innen auf der Bühne verzweifelt durcheinander: „No! No! No! No! Fuck! Fuck! Fuck! Fuck! Take me! Take me!“ Das wimmelt und kreischt so für viele weitere Minuten wild durcheinander, bis sich die Akteur*innen im Gleichklang zusammenfinden: Aus Individuen am Rande des Wahnsinns wird – ein Chor. Draußen werden bereits die ersten Gläser mit Raki ausgeschenkt. Man nähert sich dem Exzess hier mit Bedacht, aber planvoll und zielsicher.

20:39 Uhr

Wir sind mitten im „Oedipus“, und sämtliche Darsteller rammeln in einer nächtlichen Waldidylle mit Hingabe kleine Bäume. „Horny nightly Dionysean woods“ heißt das im Programm. Dann stürmen unzählige Performer*innen mit verklebten Augen und Mündern die Bühne: ein Stotter-Chor. Stotternd gibt auch Gustav Koenigs als Oedipus seinen Schlussmonolog zum Besten.

21:43 Uhr

Der berühmte „Schwanztanz“ aus dem finalen Akt der sophokleischen Tragödie wird performt. Eine Reihe von Performern lüftet die Lendenschurze und schwingt die Penisse im Takt der Techno-Beats. Das Publikum honoriert so viel Körpereinsatz mit rhythmischem Mitklatschen, als der Soundtrack in Mikis Theodorakis‘ berühmte Sirtaki-Komposition „Zorba’s Dance“ aus dem Film „Zorba the Greek“ übergeht. Nachdem der letzte Penis ausgeschwungen ist, sehe ich auf die Uhr und beschließe, eine Pause im Garten einzulegen, bevor in einer Viertelstunde die Street-Food-Trucks den Verkauf einstellen – die Nacht wird schließlich noch lang werden.

22:29 Uhr

Mit einem kleinen, portablen Telefon, das im Rangfoyer bereitsteht, rufe ich die „Mythenhotline“ an und lasse mir vom Callcenter aus den Traum der Hekuba vom Untergang Trojas erzählen. In einer kleinen Kabine nebenan laufen Videoaufzeichnungen von Fernsehsendungen, in denen der Schriftsteller Michael Köhlmeier Mythen nacherzählt. Vor dem Orakel von Delphi wartet bereits eine beachtliche Schlange, ich beschließe, die Sitzung auf eine sicherlich ruhigere Nachtstunde zu vertagen.

23:11 Uhr

Mozarts Arie „Ruhe sanft, mein holdes Leben“ wird intoniert, und im Anschluss daran beginnt die erste „Dream Time“ der 24-stündigen Performance. Das bedeutet: die Performer*innen dürfen sich für einen festgelegten Zeitraum auf der Bühne schlafen legen. Der größte Teil des Publikums strömt aus dem Saal, aber ich beschließe, nun erst recht zu bleiben. Eine seltsame Stimmung legt sich über die verbliebenen Zuschauer*innen – knapp hundert mögen es vielleicht sein, über die langen Reihen im Zuschauerraum verstreut. Gelegentlich kommt jemand von draußen herein, setzt sich und geht für gewöhnlich nach drei, vier Minuten wieder. Das Leben klingt von außen herein wie aus weiter Ferne, wir Verbliebenen sind traumschwer. Diese Traumzeit fühlt sich an wie ein Akt der Großzügigkeit – die Performer*innen müssen für eine gute halbe Stunde nichts machen und wir schenken ihnen unsere Zeit, für dieses eine Mal: bedingungslos.

01:46 Uhr

Bereits seit mehreren Stunden wird vor dem Eingang zur Seitenbühne ein ganzes Schaf gegrillt, jetzt ist es fertig. Der kiloschwere Braten wird vom Rost auf den Tisch gehievt, muss aber noch eine Viertelstunde ruhen, bevor er servierfertig ist. Ich gedulde mich, erhalte aber schließlich doch mein Stück Schaf, in ein Fladenbrot gerollt, mit Kräutersalat und Knoblauchjoghurt. Passend dazu kündigt sich auf der Bühne eine Episode an mit dem Titel: „Yoghurt women spoilt by the Gods“.

02:14 Uhr

Alle offiziellen Schlafplätze sind belegt, es bedarf also etwas Kreativität – wie sie zahllose Zuschauer*innen ohnehin längst an den Tag legen: Wo auch immer Platz ist für einen zusammengerollten Menschenkörper, da liegt bereits jemand – sowohl im Zuschauerraum als auch in den Foyers. Ich finde gleichwohl im Unteren Foyer noch einige letzte unbesetzte Sitzmöbel, auf denen es sich wundervoll ausstrecken lässt. Und werde recht bald vom Schlaf übermannt.

05:53 Uhr

Ich öffne die Augen. Es ist sehr still um mich herum, und sehr viele schlafende Menschen liegen, in Decken gewickelt, nun auch auf dem Teppichboden des Festspielhauses. Ein Blick auf den Zeitplan verrät mir, dass auch den Performer*innen gerade etwas Ruhe vergönnt ist: eine anderthalbstündige „Dream Time“ steht ihnen und uns bevor. Dieses Mal überlasse ich sie sich selbst und dem Schlaf und drehe mich selbst noch einmal um.

07:37 Uhr

Die Performer*innen sind bereits wieder am Werk, und auch ich entscheide mich zum Verlassen meiner improvisierten nächtlichen Ruhestatt. Auf der Bühne erklingt Massenets Arie „Pleurer mes yeux“, dann erscheint Agamemnon und wird lange von Klytemnestra und Iphigenie umtanzt. Alles wirkt unwirklich, als befänden wir uns alle miteinander noch immer in einer Traumzeit. Die sich noch gute acht Stunden weiter in den Tag tragen wird.

08:12 Uhr

Im Garten singen die Sirenen zur Gitarrenbegleitung, während ein griechisches Frühstücksbuffet Salat, Brot und Schafskäse anbietet. Und Kaffee, natürlich. Vor allem der ist bei den Unentwegten, die die Nacht hier verbracht haben, überaus begehrt. Auf der Bühne zuckt indes Kassandra wild im gesamten Raum umher, irgendwo zwischen Hysterie und Ekstase. Ich lasse mich nieder, gespannt, was der Tag noch bringen mag.

09:54 Uhr

Eine lange, somnambule Traumsequenz auf der Bühne. Es wird immer deutlicher, wie sich die unterschiedlichen Rhythmen der Performer*innen und Zuschauer*innen übereinander schieben. Die Erschöpfung derjenigen, die viele nächtliche Stunden im Saal verbrachten und die andere Form der Schlaftrunkenheit unter denen, die vielleicht noch immer mit dem Erwachen nach ein paar kurzen Stunden flüchtigen Schlafs hadern. Eine ganz eigenartige Schwere legt sich auf alle Köpfe, der Theaternebel, der von oben her die Bühne flutet, drückt auch so manches Augenlid nieder. Nach einem weiteren Monolog steht eine weitere halbe Stunde „Dream Time“ bevor. Was diese Pause mit uns machen wird, bleibt abzuwarten.

11:14 Uhr

Nach etwas Foyerschlaf aufwachen und feststellen, dass man unterdes mit (fremder) Weinflasche als Requisit fotografiert und getwittert wurde? Nun ja. Die Kolleg*innen waren da vorsichtiger und haben sich gleich in ihren jeweiligen Büros schlafen gelegt, aber der Verfasser möchte sich rückhaltlos der Gesamterfahrung dieser 24 Theaterstunden aussetzen. Nachtkritik schreibt, die nächtliche Stimmung habe etwas von einer „Flughafenhalle kurz vor dem Call für 6:50 Uhr nach Barcelona“ gehabt. Das mag sein, aber hier geht es nunmal nicht zuletzt um den Exzess, um die Erschöpfung und – das Loslassen ohne falsche Bedenken, ob man auch im Tiefschlaf auf einer Reihe von Sitzmöbeln noch fotogen sein mag.

13:10 Uhr

Drei Stunden noch – die Erschöpfung auf der Bühne und im ganzen Festspielhaus ist inzwischen geradezu mit Händen zu greifen. Und doch, der Exzess des tragischen Geschehens wird mit bewundernswerter Hingabe fortgesetzt. Das große Finale rückt näher, und wirklich jeder, der seit gestern Nachmittag durchgehalten hat, versucht sich dafür wieder fit zu machen. Vielleicht noch ein Bergtee?

14:16 Uhr

Der Chor schläft. Oder gähnt zumindest ausgiebig und kann sich demonstrativ nicht mehr auf den Beinen halten. Gleichwohl, knapp zwei Stunden dauert der Abstieg vom „Mount Olympus“ auch jetzt noch, und wie bereits im Vorfeld zu hören war, wird der Schlussteil spektakulär sein. Ich vertrete mir noch ein letztes Mal die Beine, bevor ich mich – zum letzten Mal für heute – in meinen Sitz fallen lasse. Dieses Mal entschlossen, erst wieder aufzustehen, wenn die 24-stündige Feier der Tragödie zu Ende gegangen ist.

16:10 Uhr

Das gesamte Publikum steht bereits seit zehn Minuten, applaudiert und johlt, während die inzwischen ganzkörperbeglitzerten Performer*innen ekstatisch tanzen. Dann ist der Tanz vorbei und nicht enden wollende Jubelstürme brechen sich Bahn. Was in diesem Fall schlechtes Timing ist, denn „Mount Olympus“ ist noch nicht vorbei. Dionysos – der nebenbei gesagt absolut überragende Andrew Van Ostade – kommt schlichtweg nicht mehr zu Wort, um seinen Schlussmonolog zu sprechen. Verwirrung auf der Bühne – was tun? Die Übertitel des kommenden Parts werden eingeblendet, und Dionysos zeigt in beide Richtungen auf die Saalwände. Es dauert eine Weile, aber irgendwann versteht das ekstatische Publikum und beruhigt sich jedenfalls zeitweise.

16:31 Uhr

Jetzt ist es wirklich vorbei! Der Schlussapplaus will kein Ende mehr nehmen, Euphorie und müde, glückliche Gesichter allüberall. Die obligatorischen Blumen für die Performer*innen werden nicht überreicht, sondern aus dem Zuschauerraum in hohem Bogen auf die Bühne geschleudert, so dass die tapferen Kämpfer*innen in einem Blumenregen stehen. Und dann beginnen diese, sie in den Zuschauerraum zurückzuwerfen, für eine Minute tobt eine Blumenschlacht zwischen den ersten Reihen und der Bühne. Auf das sichtlich überglückliche Troubleyn-Team wartet nun eine Premierenfeier, für den Rest von uns euphorischen Bergbesteiger*innen heißt es, sich mit dem seltsamen Gedanken vertraut zu machen, jetzt wieder nach Haus zu gehen. Einen ganz normalen Abend zu verbringen, morgen wieder ins Büro zu gehen. Und nächste Woche dann wieder Theaterstücke von normaler Länge zu besuchen.

Jan Fabres 24-stündige Performance „Mount Olympus. to glorify the cult of tragedy (a 24H performance)“ fand vom 27. Juni, 16:00 Uhr bis zum 28. Juni, 16:00 Uhr im Rahmen von Foreign Affairs 2015 im Haus der Berliner Festspiele statt. Eine Dokumentation des einjährigen Probenprozesses und Interviews mit den Beteiligten finden Sie in unserem Film „Roads to Mount Olympus“.