Ich sehe nur noch das Zucken des Dirigierstabs. Dann beginnt „Die Jakobsleiter“, ein unheimlich kraftvolles Stück mit vielen intensiven Höhepunkten und spannenden, ruhigen Stellen. Zuerst beginnen die Celli mit einem bombastischen Einsatz im Fortissimo. Kurz darauf kommt das ganze Orchester dazu und bringt die Spannung zur Vollendung.
Überraschend hört man den Rundfunkchor Berlin, der hinter dem Deutschen Symphonie-Orchester aufgestellt ist, mit klarer Artikulation flüstern und sprechen. So etwas habe ich noch nie von einem Chor gehört. Dabei entstehen neue Töne, die eine sonderbare Stimmung erzeugen. Das Orchester wird immer lauter, und auch Fernorchester in den entferntesten Ecken knapp unter der Decke, Fernchöre und Solostimmen setzen ein. Die Spannung, die daraufhin im großen Saal der Philharmonie entsteht, steigt bis ins Unermessliche, bis sie dann von einem Beckenschlag aufgebrochen wird und man nur noch den flüsternden Chor auf dem ruhigen Teppich der Streicher und Bläser hört. Diese Wechsel zwischen Forte und Piano kommen im Laufe des Stückes immer häufiger vor, und so wird es nie langweilig, denn wenn man gerade in einer etwas ruhigeren Stelle abzuschweifen droht, so kann man gewiss sein, dass man sogleich von einem kraftvollen Forte zurückgeholt wird.
Die Fülle der einwirkenden Eindrücke ist kaum noch zu fassen. Obgleich die Musik sich oft wirr und unkoordiniert anhört, entsteht doch ein allumfassender Klang, der den Zuhörer stets herausfordert, den Ursprung der einzelnen Töne zu ergründen. Während das Stück seinen Handlungshöhepunkt erreicht, beginnen auch die Solisten immer öfter zu sprechen und dabei auch ein bisschen zu schauspielern. Zumindest wirkt das Gesungene durch passende Gesten sehr überzeugend, wobei Vokale immer wieder intensiv betont werden. So übernehmen die Solostimmen und Chöre die Handlung, während das Orchester das Stimmungsbild wiedergibt und dabei oft einzelne, von den Solisten oder dem Chor gesungene Worte speziell und individuell betont.
Schließlich tritt eine sehr bekannte Frau vor das Solistenpult. Edda Moser war von den 1960er bis 1980er Jahren eine der wichtigsten Sopranistinnen in Deutschland und spielte in vielen Aufführungen von Mozarts „Zauberflöte“ die Rolle der Königin der Nacht. Ihre Aufnahme dieser Arie ist sogar 1977 an Bord der Interstellaren Raumsonde Voyager als „Botschaft an Außerirdische“ ins Weltall geschickt worden. In der „Jakobsleiter“ interpretiert sie die Rolle des Sterbenden und aus dem kraftvoll und klar gesungenen Rezitativ strömt die ganze Professionalität ihrer langen Erfahrung. Man spürt die Tragik und auch Intensität des nahenden Todes, den der Sterbende besingt.
Nachdem der letzte Ton von Edda Moser im Saal verklungen ist, setzt der Fernchor ein, der auf der rechten Empore über dem Publikum zu schweben scheint. Er leitet gemeinsam mit den Streichern in wilden, klagenden Tönen den Schluss ein. Hohe Klänge durchziehen den Raum und der Chor beginnt wieder zu flüstern, während die Geiger und Geigerinnen auf ihren Instrumenten zupfen. Nachdem ein letzter Orchesterton in den Weiten des Saales verklingt, setzt eine Sopranstimme ein. So hohe Töne habe ich noch nie gehört. Doch im Gegensatz zu den anderen Solisten singt Yeree Suh, deren Stimme alles Bisherige übertönt, keinen Text, sondern nur lange Töne, die zu einer Art „Tonböe“ werden, die durch den Saal weht, noch bis in den letzten Winkel.
Die Spannung steigt, als sich Streicher und Solosopranistin immer wieder abwechseln und gemeinsam immer lauter werden, bis zu dem Punkt, an dem die Sängerin das dreigestrichene f förmlich schreit und dabei dennoch Klarheit bewahrt. Ihr letzter Ton, und damit auch der letzte Ton der Jakobsleiter, verklingt majestätisch im Raum. Es folgt eine andächtige Stille, dann löst Ingo Metzmacher die Spannung auf und entlässt die Künstler in die Pause. Die beeindruckende Solosopranistin Yeree Suh hat glücklicherweise Zeit für ein Interview.
Frau Suh, ich habe Ihnen bei der Probe ganz beeindruckt zugehört. Wie lange singen Sie schon, dass sie solch hohe Töne so klar treffen können?
Yeree Suh: Ich bin in Korea geboren und habe dort mit drei Jahren begonnen Klavier zu spielen. In den folgenden Jahren habe ich sehr fleißig geübt, obwohl ich eigentlich Schauspielerin werden wollte. So kam es dann auch oft, das ich in der Zeit, in der ich eigentlich üben sollte, vor dem Spiegel Theater spielte, bis meine Mutter dann schließlich kam und sagte: „Yeree! Übe wieder Klavier!“. Nach einigen Jahren machte ich dann eine schwierige Aufnahmeprüfung für ein Kunstgymnasium in Korea und bestand sie auch mit meinem Klavierspiel. Beim Üben begleitete mich damals eine Freundin, die Sängerin war und mir, als ich ihre Stimme nachmachte, sagte, ich solle unbedingt Sängerin werden. Da war ich 14, und seitdem nahm ich Gesangsunterricht, bei dem auch meine Lehrerin mich immer wieder lobte und mich motivierte, das Singen zum Beruf zu machen. So wuchs ein Traum, denn beim Singen kann man auch spielen und so konnte ich Musik und Theater gleichzeitig machen.
Wie ist es, in solch einem bombastischen Stück alleine zu singen? Ich stelle mir das sehr anstrengend vor, sich bei solch kraftvoller Musik durchzusetzen.
Klar ist es anstrengend. Aber wenn ich ehrlich bin, genieße ich es inzwischen eigentlich.
Was repräsentiert Ihre Stimme in dem Stück von Arnold Schönberg?
Ich bin eine Seele. Kurz vor meinem Einsatz singt der Sterbende, aus dem kurz nach seinem Tod die Seele entweicht und im Raum als hoher Ton verklingt.
Ist es für Sie schwer, derartig hohe Töne zu treffen?
Inzwischen nicht mehr, denn ich bin in meiner Lage (hoher Sopran) ziemlich sicher, wenn man aber ein hohes f wie das in Schönbergs „Jakobsleiter“ über viele Takte halten muss, dann ist das auch für mich eine echte Herausforderung.
Kommen sie eigentlich noch höher als bis zum hohen f?
Beim Üben komme ich oft noch zum dreigestrichenen a oder g.
Das heißt, Sie könnten auch die Königin der Nacht singen?
Ja. Sie gehört zu den Partien, die ich singe.
Wie fühlt es sich an, in der Höhe zu singen? Das muss ja unglaublich sein und ist für mich als Mann unvorstellbar.
Es fühlt sich in der Tat großartig an. Aber man muss auch sehr flexibel sein und die richtigen Atemtechniken haben. Ich verwende dabei meist Techniken aus dem koreanischen Tai Chi, um das tiefe Einatmen besser kontrollieren zu können.
Was singen Sie am liebsten?
Ich singe viel Barock und Moderne. Sehr gerne singe ich aber auch Mozart. Deutsche Komponisten mochte ich schon in Korea sehr gerne. Obwohl ich zugeben muss, dass ich die Worte damals nur nachgeahmt habe. Aber gut. Das meinte zumindest meine Gesangslehrerin. Nach Deutschland kam ich übrigens ursprünglich, um das deutsche Repertoire richtig zu lernen, doch es gefiel mir so gut hier, dass ich blieb und nun schon seit 2000 hier lebe.
Singen Sie lieber allein oder auch gerne im Chor?
Ich singe oft auch im Chor, zum Beispiel wenn ich Bach singe. Doch auf das Alleinsingen verzichten würde ich nicht. Das macht mir zuviel Freude.
Würden Sie jungen Menschen wie mir das Solosingen als Beruf empfehlen?
Ich bin mit meinem Beruf sehr zufrieden, deshalb würde ich es natürlich sofort empfehlen. Allerdings ist das auch ein sehr anstrengender Job, denn man ist dauernd unterwegs. Außerdem muss man als Solist immer sehr ruhig sprechen, sollte keinen Alkohol trinken, nicht rauchen und ich muss sogar auf Kaffee verzichten. Zu guter Letzt ist es auch ein sehr einsamer Beruf, denn du stehst immer wieder allein vor sehr vielen Leuten, die du nicht kennst und arbeitest immer wieder mit neuen Menschen zusammen.
Trotz alldem macht es einen höllischen Spaß, wenn man fleißig übt und einem das Singen Freude macht.
„Die Jakobsleiter“ wird, aufgeführt vom Deutschen Symphonie-Orchester unter Leitung von Ingo Metzmacher, im Rahmen des Programms „Erzengel Gabriel“ am 17. September 2015 gemeinsam mit Kompositionen von Iannis Xenakis und Gustav Mahler in der Berliner Philharmonie zu hören sein.