Im Rahmen der Pressekonferenz zum Musikfest Berlin am 23. August 2016 sprach der Künstlerische Leiter Winrich Hopp per Skype mit dem Komponisten Wolfgang Rihm, dessen Komposition „Tutuguri“ am 3. September 2016 das Musikfest Berlin 2016 eröffnet.

Wolfgang Rihm © Kai Bienert

Wolfgang, wir treffen dich in Luzern an, in deiner Eigenschaft als Nachfolger von Pierre Boulez als Leiter der Lucerne Festival Academy. Nun wäre es interessant zu hören, was du da so zu tun hast.

Ich verfolge unablässig meine neue Tätigkeit. Ich arbeite mit neuen Komponisten – denn das ist das Neue bei der Lucerne Festival Academy, dass wir dieses Jahr nicht nur Interpreten, sondern auch Komponisten eingeladen haben. Mit denen mache ich Seminare. Jetzt gibt es Proben, in denen die Interpreten die Stücke eben jener Komponisten zusammen mit ihnen, mit mir und mit jungen Dirigenten einstudieren. Das ist ein ineinander greifendes Begegnungswerk von jungen Leuten, die unter der drohenden Aufsicht eines Alten – nämlich meiner – das ihre tun können.

Wie viele junge Leute belagern dich denn da momentan?

An Komponisten haben wir „nur“ 12, nachdem sich über 140 beworben hatten. Die Auswahl habe ich in einem längeren Prozess zusammen mit Dominik Deuber, der die Lucerne Festival Academy organisiert – ohne ihn gäbe es sie in der Form nicht – sowie Mark Sattler, der für die Moderne in Luzern zuständig ist, getroffen.

Am 3. September kommst du zur Eröffnung des Musikfests nach Berlin, wo die Aufführung von „Tutuguri“ stattfinden wird. Das Werk ist vor rund 35 Jahren entstanden und wurde an der Deutschen Oper uraufgeführt. Wie fühlt es sich an, dem Werk in der Stadt zu begegnen, in dem es uraufgeführt worden ist?

Als du mir die ersten Meldungen in diese Richtung gegeben hast, war das ein sehr starker Affekt, denn diese Zeit kann ich ganz, ganz stark erinnern. Ich war 1980/82 – das ist ja schon ewig her, um Himmels Willen – sehr oft in Berlin, wo das Werk an der Deutschen Oper realisiert wurde. Das war damals ein ungeheurer Schritt für mich, damals war ich 28, das war nach dem „Jakob Lenz“ die entscheidende große Sache, die von mir aufgeführt wurde.

Künstlerisch verliert man sich viel eher im Sinne von Flucht als in jenem von Besitznahme.

Das Werk ist in seinen Dimensionen gewaltig, in seinem ganzen Zuschnitt, in seinem perkussiven Einsatz. Ich erinnere mich daran, dass Gerhard Schröder mal zu nächtlicher Stunde vorm Kanzleramt in Bonn gestanden haben, am Zaun gerüttelt und gesagt haben soll: „Da will ich rein!“ Deine Musik klingt eher so nach „Da will ich raus!“

Das wollte ich gerade sagen! Künstlerisch verliert man sich viel eher im Sinne von Flucht als in jenem von Besitznahme.

Lass uns darüber sprechen. Was für ein Werk ist „Tutuguri“, das zwei Stunden dauert, was für ein Tanztheater eigentlich eine totale Überforderung ist. Es ist aber auch keine Programmmusik mit einem vertonten Text – du hast ja allenfalls ein paar Silben aus dem Artaud-Poème herausgezogen. Es ist aber auch kein sinfonisches Werk, obwohl man es konzertant aufführen kann. Was für ein Massiv ist „Tutuguri“?

Es wird wohl sein eigenes sein. Ich denke mir, dass solche Stücke, die man ja nicht zweimal schreibt, ihre eigene Form annehmen, was in diesem Fall eine durch und durch asymmetrische Gestalt ist, ein über eine Stunde währender Block von instrumentaler Emanation, Pause, und dann kein Fleisch mehr, nur noch die Knochen, das Rhythmische spricht allein, in der halben Stunde, in denen ausschließlich sechs Perkussionisten mit gelegentlichen Einspielungen von Chorstimmen spielen. In seiner Gestalt ist es in absichtlicher Form etwas Unausgewogenes, aber gleichzeitig Rundes als innerer Impuls – wenn ich mich recht erinnere. Denn das ist alles für mich sehr lange her und ich bin jetzt ein anderer. Ich bin ein viel zweifelnderer Mensch als ich es damals war, ein viel kritischerer Mensch. Aber in dieser Lebensphase war es auch eine Behauptung, das ist etwas, das aus meiner heutigen Sicht auch ganz ich-bezogen ist. Das könnte ich heute gar nicht mehr machen. Und deswegen ist es ganz gut, dass es mal wieder gemacht wird, wie ich überhaupt mit Freuden bemerke, dass das Interesse an meinen früheren Stücken enorm zunimmt. Das ist ja toll, wenn man eine Lebensphase durchmisst, in der andere Dinge ins Zentrum rücken und plötzlich ist wieder das Interesse an den Frühwerken da – wunderbar. Da wird man dann gefragt, ob man noch dazu stehe – natürlich! Natürlich!

Wie bist du damals auf Artaud und das Thema Mexiko gekommen? Es gibt eine versteckte Rezeption von Artaud-Texten durch zwei Komponisten – nämlich Edgard Varèse und Pierre Boulez – merkwürdigerweise zwei Komponisten, die diese Rezeption nie schöpferisch umgesetzt haben, es ist bei den Plänen geblieben. Du bist der erste Komponist, der sich mit Artaud wirklich auseinandergesetzt hat und es zu einem Werk hat werden lassen. Welchen Anlass gab es für dich damals?

Von heute aus gesehen sieht es so aus, als sei ich von Angstfreiheit besetzt gewesen, wie man das an dieser paradoxen Gestalt sehen kann. Ich habe die Texte in der Übersetzung gelesen, die damals durch den Matthes & Seitz Verlag zugänglich gemacht wurde. Und ich habe es verschlungen, ich habe darin eine primäre künstlerische Forderung gespürt, eine Forderung nach etwas Reinem, nach etwas Bewegendem und nach etwas, das nur sich selbst verantwortlich ist. Nichts, das Ordnungskriterien von woanders abholt. Diese Forderung, das in eine „tobende Ordnung“ zu bringen, wie es Artaud ja schreibt, die habe ich mir zu einer Arbeitshypothese gemacht. Sie ist in den damaligen Jahren zu einem Lebensmotto geworden. Ich habe diese Stücke gelebt. Als sie aufgeführt und dementsprechend kontrovers rezipiert wurden, habe ich das natürlich alles durchlebt, das ist klar.

Die tobende Ordnung in „Tutuguri“ wird vor allen Dingen perkussiv hergestellt. Pierre Boulez sagte einmal, dass das Schlagzeug, die Perkussion, die Instrumente bis heute noch kein integraler Bestandteil des Orchesterapparates und des Tonsystems, sondern immer eine gewisse extraterritoriale Sphäre seien, die eine andere Behandlung braucht und schwer in den Gesamtzusammenhang zu integrieren ist. Bei dir habe ich den Eindruck, dass du das in „Tutuguri“ umgedreht und das Orchester in den Perkussionsklang integriert hast. Es ist ja eigentlich ein perkussiver Apparat.

Es ist interessant, dass du das ansprichst. Damals habe ich den Begriff des „Kulturklangs“ und des „Kreaturklangs“ gegeneinander gesetzt. Das „Kreatürliche“ empfand ich im Perkussiven und das Kulturelle, das Gewordene, das Besetzte und mit historischen Argumentationen Umgehende fand ich instrumental im Orchesterklang wieder. Kulturklang, Naturklang, Kreaturklang gegeneinander gesetzt. Das waren solche Bilder, die ich beim Arbeiten hatte. Ich weiß nicht, wann Pierre Boulez das gesagt hat über die Integration des Perkussiven ins Orchester, aber heute scheint das überhaupt kein Problem mehr zu sein. Wenn ich gerade hier in Luzern sehe, wie jüngste Musikerinnen und Musiker gerade mit perkussiven Inhalten umgehen, dann ist es eine wahre Freude. Es ist ein internationaler Pool von Musikerinnen und Musikern, die da miteinander arbeiten, und es ist nicht so, dass das Perkussive am Lieferanteneingang klopfen muss, um Eingang zu finden. Das ist jetzt da, das ist zweite Natur, es ist im guten Sinne nichts Besonderes mehr.

Ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Wolfgang.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eröffnet mit der Aufführung von Wolfgang Rihms „Tutuguri“ am 3. September 2016 um 19:00 das Musikfest Berlin 2016.