15:52 Uhr

Aus dem Bürotrakt kommend, betrete ich das Foyer des Festspielhauses aus einer anderen Richtung als der Rest des Publikums – nicht die letzte Umkehrung für heute. Daniel Cremer ist mit seinem im Kollektiv entwickelten „TALKING STRAIGHT Festival“ hier, und schon der erste Blick lässt mutmaßen: Dieses Festival im Festival ist hier gelandet wie ein Ufo. Überall Plakate und Schilder in Cremers eigens entwickelter „Fremdsprache“, und dort, wo den Sponsoren (oder: Finanzhoggen) rituell gedankt wird: vertraute Logos mit ganz neuen Worten.

© Berliner Festspiele

16:21 Uhr

Das jedenfalls ist hier so wie bei anderen Festivals auch: Die Eröffnung verzögert sich um eine halbe Stunde, weil alle so kurz vorher erscheinen, dass die Schlangen an den Akkreditierungsschaltern nie zu enden scheinen. Ich lerne beiläufig mein erstes Wort in Fremdsprache: „sáliss“ heißt „danke“. Jeder Zuschauer erhält einen Festivalpass mit einem Fantasienamen – ich werde heute „Purs Fingsen“ heißen.

16:24 Uhr

Die erste Rede beginnt, natürlich wird den Finanzhoggen gedankt. Dr. Tucké Royale fasst sich kurz und bittet dann zur Eröffnungsperformance „#NOTHINGISCONTEMPORARY“ ins Foyer. Viele Menschen drängen sich vor den Durchgangstüren in die Kassenhalle.

16:42 Uhr

Ein Mädchen in einem Gymnastikanzug tanzte – die Performancekünstlerin Antje Prust. Ihr Körper war mit pinker Farbe bemalt, so dass sie aussah wie eines jener Mädchen in alten Kinofilmen – die, die Dank des unaufhaltsamen Verfalls des Filmmaterials leuchtend rosastichig von der Leinwand strahlen. Sie performt zu einem Ethno-Techno-Musikstück, irgendwo aus der enyaesken 90er-Jahre-Hölle. Am Ende knöpft sie ihren weißen Spitzenslip auf, präsentiert uns kurz ihren entblößten Unterleib. Knöpft ihn wieder zu. Eine Spaziergängerin späht, irgendwo zwischen interessiert und verstört, von draußen durch die Glastüren hinein, was unter den Zuschauern der Performance großes Amüsement auslöst. Aus. Applaus.

16:57 Uhr

Bonsel Grobvoss, einer der „Schirmhermen“ des „TALKING STRAIGHT Festival“ spricht eine Eröffnungsrede. Er ist wohl nicht von hier, denn er spricht deutsch. Erfreulicherweise dolmetscht eine Simultanübersetzerin im Hintergrund. „Warum eigentlich lieben es weiße europäische Menschen so sehr, Theater zu spielen?“, fragt er. Erzählt zwei, drei (zu) viele persönliche Anekdoten, sagt das, was kunstferne Sponsoren halt so sagen, wenn man ihnen bei ihren jeweiligen Artwashing-Feigenblattprojekten ein Mikrofon in die Hand gibt. Das dauert so lang, bis selbst die Dolmetscherin in ihr Mikro seufzt. Und es ist sehr lustig. Dann die erste zentrale Aufführung des Festivals: „HEN ZEK“, wir werden durch den Bürotrakt auf die Hinterbühne geführt.

17:41 Uhr

„HEN ZEK“ entpuppte sich als eine Art Musiktheater, sehr sensibel und mit bedeutungsschwerem Donnergrollen unterlegt. Wir sind noch nicht so ganz drin in den Codes des „TALKING STRAIGHT“, klatschen an den falschen Stellen – und bringen den sensiblen Hans Unstern dazu, wütend von der Bühne zu stürmen. Cremer stöckelt ihm auf seinen hohen Pumps hinterher und versteht gerade noch so, den Künstler zu beschwichtigen. Es geht weiter. Am Ende ein wirklich hübsches Musikstückchen, performt durch zwei Smartphones und beleuchtet durch die Displays. Dann Schluss. Nein, nicht ganz – vom Vertreter der „Finanzhoggen“, der stolz mit einem golden glitzernden und irgendwie klumpig wirkenden Preis auf die Bühne schreitet, kommt eine weitere Ansprache. Aber auch die geht irgendwann vorüber – zurück ins Foyer, und schnell zwischendurch an die Bar, denn es geht in wenigen Minuten weiter. Der Campus für die „Young White Talents“ beginnt!

18:24 Uhr

Das Festival ließ im nächsten Programmpunkt, den Workshops im Rangfoyer, die Wahl – zwischen „Performskunst“, „Jass“ und „Post-Posthumensisme“. Ich entscheide mich für das Letztere, also für den akademischen Workshop von Alicia Agustín, denn zugegeben: in die Performskunst habe ich mich nicht getraut. Manche der bereitstehenden Stühle sind mit Zimmerpflanzen besetzt, die Agustín zufolge entweder uns willkommen heißen oder die wir willkommen heißen sollen, das wird nicht hundertprozentig klar. Erstes Untersuchungsobjekt ist ein Katzenvideo, später geht es um Bakterien und Viren, schließlich um „Superviren“. Wir heißen auch sie willkommen.

19:54 Uhr

„NARO“ stellte sich als ein Ensemblestück für die Seitenbühne im Festspielhaus heraus – drei Männer, drei Frauen, ein Raum und viele Konflikte, nicht immer ganz unprätentiös. Von (sehr) fern grüßt Ibsens „Nora“, aber generell gilt: Man kennt diese Art Stücke, man hat sie schon auf so ziemlich jeder Bühne gesehen. Meist dauern sie zweieinhalb Stunden, hier sind es gnädige 40 Minuten. Auch wenn sich die mitunter bereits etwas längen, aber das ist dem Gegenstand nur angemessen. Anschließend: „Kunstest Talk“. Das Ensemble und die Regisseurin, dargestellt wiederum von Daniel Cremer, im Gespräch mit dem Conferencier Dr. Tucké Royale – „Libhod skav’ Hetenkunst?“ – dann sogar mit dem Publikum. Mittendrin läuft jemand laut schimpfend heraus, Cremer ruft ihm irgendetwas mit Blackfacing hinterher. Man ist am Puls der Zeit im „TALKING STRAIGHT Festival“.

20:51 Uhr

Im Camp in der Kassenhalle füllt es sich zunehmend – das „TALKING STRAIGHT Festival“ neigt sich mit einer großen Podiumsdiskussion dem Ende zu. Oder, wie Daniel Cremer es selbst anlässlich einer früheren Ausgabe formulierte: „Six white people talk to themselves publicly. Plus one via Skype.“ Die Protagonist*innen der verschiedenen Programmpunkte des Tages versammeln sich inmitten der Camp-Arena: Neben Cremer sind dies Dr. Tucké Royale, Alicia Agustín, Antje Prust, Hans Unstern und René Michaelsen.

23:04 Uhr

Unerwartet ekstatisch ging mit „LOFIKH!“ der abschließende Programmpunkt des „TALKING STRAIGHT Festival“ zu Ende. Als die Eskalation entscheidend begünstigender Chaosfaktor entpuppte sich die Skype-Schaltung: Bei dem live zugeschalteten siebten Teilnehmer handelt es sich um den in der Schweiz lebenden Künstler Nils Amadeus Lange, der demnächst auch in Riebeek/Holzingers Performance-in-Progress-Projekt „Gonzo. The Making-of“ im Rahmen von Foreign Affairs auftreten wird. Für die Podiumsdiskussion hat Lange ein radikales Kunst-Manifest geschickt, das nun zur Diskussion gestellt wird. Eine der Thesen verlangt, dass alle Teilnehmer konzentriert Songs von Whitney Houston anhören sollen. Cremer als Moderator des Podiums versucht zunächst, diesen Programmpunkt stillschweigend unter den Tisch fallen zu lassen. Tränen fließen. Die vertrauten Rituale, auf deren scheinbar unverrückbarer Setzung ein Abend wie dieser erst funktionieren kann, geraten zunehmend aus den Fugen, und immer mehr rutscht das Bühnengeschehen in ein höchst vergnügliches Chaos ab. Am Ende gönnt man sich und dem Publikum ein Finish jenseits der „Fremdsprache“, die sich ansonsten konsequent durch das gesamte Tagesprogramm zog. Zu einer Melodie von Whitney Houston wird gesungen: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Festspiels!“ Dann ist Schluss. Jubel. Sáliss, Herm Kunstesthoggen Daniel Cremer, sáliss, TALKING STRAIGHT Kollektiv!

Daniel Cremers „TALKING STRAIGHT Festival“ war am 4. Mai 2015 als Teil des Stückemarktes 2015 im Rahmen des 52. Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.