Die Komposition Luigi Nonos (1924–1990) ist in einer Zeit entstanden, in der er größtenteils in Berlin gelebt hat. Zwischen 1986 und 1988 war er nicht nur Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, sondern auch Fellow am Wissenschaftskolleg und hat an der damaligen Hochschule der Künste eine Gastprofessur inne. „La lontananza“ wurde damals von den Berliner Festwochen beauftragt und 1988 im Rahmen der Komponistenportraits der Berliner Festwochen uraufgeführt. Überlegungen zum räumlichen Hören, zur Bedeutung des architektonischen Raumes, vor allem zur Ortsspezifik des Kammermusiksaals der Philharmonie sind in die Raum-Konzeption des Stückes mit eingeflossen. Am Vorabend des Musikfest Berlin 2016 wird die Geigerin Isabelle Faust dieses Werk am Ort seiner Uraufführung spielen.
Ist „La lontananza nostalgica utopica futura“ Ihre erste Begegnung mit der Musik Nonos?
Ich habe Luigi Nonos Musik erstmals ganz bewusst mit dem LaSalle Quartet erlebt. Damals war ich 11 oder 12 Jahre alt und nahm mit meinem Streichquartett bei den Meisterkursen in Basel teil. Die Interpretation des LaSalle Quartet von Nonos Streichquartett „Stille, an Diotima“ war damals spektakulär, und das hat mich schon sehr beeindruckt. Später habe ich dann „Varianti“ für Violine und Orchester sehr gerne gespielt.
Wie geht Nono in diesem Stück mit der Geige um? Gibt es da Momente, die ganz besonders sind, die Sie besonders anziehen?
Die Violine tritt in diesem Stück in einen Dialog mit der Musik von den Tonbändern. Diese werden vom Klangregisseur spontan eingesetzt, je nachdem welche der 8 Tonspuren zu welcher Art von Geigenspiel im jeweiligen Moment besonders gut passt. Die Violine erfüllt dabei eine deklamierende, dialogisierende, monologisierende und reagierende Rolle. Und obwohl sie einem vollständig ausnotierten Notentext folgt, kommt sie nicht umhin, die Tonbandklänge und das, was sich um sie herum ereignet, auf sich wirken zu lassen, davon brüskiert oder geschmeichelt zu werden, im Einklang oder Zwiespalt, reflektierend oder konstruktiv damit umzugehen. Es geht hier um echte Kammermusik, und nicht um einen Solopart und „8 Tutti-Spieler“. Geiger und Tonbandmusik beeinflussen sich gegenseitig, manchmal sind sie sogar nicht mehr vollständig auseinander zu halten. Und trotzdem folgt die Solovioline ihrem vorgegebenen, einsamen Weg, ohne sich davon abbringen zu lassen und entschwindet am Ende den Raumklängen, sich ins Nichts auflösend. Ich finde die Momente am spannendsten, in denen der Geiger auf das hört, was im Raum um ihn herum passiert und den richtigen Moment abwartet, um darauf zu antworten, während der Klangregisseur scheinbar genauso in „Lauerstellung“ verharrt, um einen unerhörten Moment der Einheit zu kreieren.
„La lontananza nostalgica utopica futura“ – Welchen Assoziationsraum eröffnet dieser Titel für Sie?
Für mich steht dieser Titel für eine unerfüllte Suche nach dem Weg in eine unerreichbare, bessere Welt. Bei der Aufführung dieses Werkes wird das Unerreichbare dieser Suche meiner Ansicht nach sehr spürbar gemacht, ebenso die subtilsten unterschiedlichen Zustände, in die die Interpreten und auch das Publikum geraten: Zwischenwelten, psychologische „Aggregatzustände“. Nono hatte seinen Wahlspruch des Wanderns in Toledo an einer Klostermauer entdeckt: „caminantes, non hay caminos, hay que caminar“ (Wanderer, es gibt keine Wege, es gibt nur das Gehen). In „La lontananza“ verkörpert die Musik Aufbruch, Suche, Ziellosigkeit. Der Widmungsträger Salvatore Sciarrino, Schüler Nonos, interpretiert den Titel als ästhetische Metapher:
„Indem die Vergangenheit durch die Gegenwart reflektiert wird (nostalgica), bringt sie eine kreative Utopie hervor (utopica); die Sehnsucht nach dem Bekannten wird zum Vehikel für das Mögliche (futura) durch das Medium der Entfernung (lontananza).“
Wie treten Sie in Interaktion mit diesen Klängen von den Tonbändern, die ja geprägt sind vom Spiel Gidon Kremers und natürlich von der Handschrift Nonos?
Wie schon beschrieben gibt die Solovioline viele Anstöße bei diesem Werk, auf die die Live-Elektronik bzw. der Klangregisseur reagiert und wiederum die Violine beeinflusst. Anfang und Schluss gehören der Elektronik, die „Wander-Violine“ taucht erst nach einer Weile in das Meer der Klänge und Geräusche ein, am Ende vermischt sich der Geigenton mit der Elektronik und die Geige blendet sich aus, der Wanderer geht von dannen. Kremers aufgenommenes Spiel wurde von Nono minutiös elektronisch bearbeitet, er benutzte dabei unter anderem Harmonizer, Nachhall, Filter oder Verzögerung. Dadurch ist enormes re-komponiertes Material entstanden, das einen großen Teil dieses Stückes ausmacht. Aber das wirklich Entscheidende für die jeweilige Aufführung ist, in welcher Art und zu welchem Zeitpunkt was wo eingesetzt wird. André Richard, mit dem ich die Ehre habe, dieses Stück nun zum zweiten Mal aufzuführen, war Nonos Vertrauter und hat die Entstehung dieses Werkes miterlebt. Es ist ein großes Privileg, mit ihm in Nonos Welten und Subtilitäten, in seine Gedankengänge einzutauchen, er hat mir die Tore hierzu ganz weit geöffnet.
Ein zentrales Thema von Nonos kompositorischer Arbeit war die Auseinandersetzung mit dem Raum, der Architektur und dem räumlichen Hören. So ist „La lontananza“ in Bezug auf den Kammermusiksaal entstanden. Welche Erfahrungen machen Sie in Bezug auf den Raum als Solistin des Stücks?
Ich finde es extrem spannend, den Raum in allen akustischen Varianten zu erforschen und zu erkunden. Zudem kommt die Live-Elektronik ja auch ständig aus anderen Ecken des Raumes, was die Interpretin oder den Interpreten unablässig in andere Relationen setzt, der Wanderer muss sich permanent in Frage stellen und neu orientieren. Für das Publikum ist es nicht anders, es hört den Solisten immer wieder aus einer anderen Perspektive, manchmal nah, manchmal entfernter, manchmal von der Elektronik fast vollständig überdeckt. Ich bin sehr neugierig darauf, wie dieses Werk in dem Saal, in dem es am 3. September 1988 uraufgeführt wurde, funktionieren wird, welche Raumerfahrung hier möglich sein wird. Ich liebe diesen Konzertsaal sehr, er klingt fantastisch und ich fühle mich immer ganz besonders wohl hier. Sicher bringt er durch seine offene, runde Anordnung besondere Vorteile mit für ein Stück, das den Raum gänzlich ins Hörerlebnis mit einbezieht. Wir werden sehen, inwiefern sich Konzentration und Intimität trotz des Umherwanderns in einem doch großen Raum herstellen wird.
Wie die gegliederten Räume
der Kleinen Philharmonie
den originalen Klängen von Gidon
andere Räume eröffnen:
der Ferne – der Nähe –
der Begegnungen – der Zusammenstöße – der Stille
des Innen – des Außen
der sich überlagernden Konflikte.Luigi Nono, Venedig 1988
Das Konzert mit Isabelle Faust findet im Anschluss an das Konzert des GrauSchumacher Piano Duo am 2. September 2016 um 21:30 Uhr im Kammermusiksaal der Philharmonie statt.