Das Musikfest eröffnet mit der Hommage an einen der Großen in der Musik auf ihrem Weg durch die zweite Hälfte des 20. hinüber ins 21. Jahrhundert. Das Berliner Musikleben verdankt dem Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez viel. Seine Werke von den frühen Klaviersonaten über den „Marteau sans maître“ und „Pli selon pli“ bis zu „Répons“ und den späten Ausarbeitungen früher Entwürfe wie den „Notations“ wirkten in den Konzerten des Musikfest Berlin oft wie Kristallisationskerne der Programmgestaltung. In diesem Jahr führen Orchester wie die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Daniel Barenboim, die Berliner Philharmoniker mit Sir George Bejamin am Pult, das Boulez Ensemble und das von ihm selbst ins Leben gerufene Ensemble intercontemporain mit Matthias Pintscher zentrale Werke wie „Rituel“, „Cummings ist der Dichter“, „sur Incises“ und „Le Marteau sans maître“ im Rahmen des Musikfest Berlin auf. Der englische Musikkritiker und Musikschriftsteller Paul Griffith führt in seinem Essay in Leben und Werk dieses großen Komponsten ein.
Pierre Boulez, Komponist, Dirigent und provozierender Kritiker alt eingesessener Institutionen wie Schöpfer neuer Institutionen, hatte während der zweiten Hälfte des 20. und bis ins 21. Jahrhundert hinein enormen Einfluss auf die westliche Musik und das Musikleben.
Er wurde 1925 in Montbrison, in der Nähe von Lyon, geboren. Mit 18 Jahren verließ er unvermittelt und gegen den Wunsch seiner Eltern die Stadt, um am Pariser Conservatoire zu studieren. Als sich der Zweite Weltkrieg seinem Ende näherte, fühlte er die Notwendigkeit eines Neubeginns in der Musik, der von den Meistern der Moderne ausgehen sollte (zunächst von seinem Lehrer Olivier Messiaen und Arnold Schönberg, dann auch von Claude Debussy, Igor Strawinsky und Anton Webern), aber auch an die Klänge und Traditionen Afrikas und des Fernen Ostens anknüpfen sollte. Er kämpfte leidenschaftlich und war sich seiner Sache sicher – und diese Eigenschaftenbrachte er in seine Musik ein. Mit 25 Jahren hatte er zwei Klaviersonaten und ein Streichquartett komponiert sowie hoch aufgeladene Vertonungen seines Lieblingsdichters, dem post-surrealistischen Solitär René Char. Auch an der gewaltsamen Ästhetik und Fremdartigkeit Antonin Artauds fand er Gefallen.
Aus Arnold Schönbergs Serialismus entwickelte er eine Technik, die es ihm erlaubte, nicht nur Tonhöhen, sondern auch Rhythmus, Dynamik und Dichte genau zu organisieren. An ihre Grenze getrieben hätte diese Technik die Kunst des Komponierens nahezu automatisiert, und 1951 näherte sich Boulez mit einem Werk für zwei Klaviere, Structures Ia, tatsächlich dieser Grenze. Auch wenn er sich zwar gleich wieder von dieser Arbeitsweise abwandte, getrieben von seinem Wunsch nach Ausdruck, der genauso stark war wie sein Streben nach Logik in der Gestaltung, blieb er doch bei seinen Prinzipien, Musik aus kleinen Ideen zu entwickeln und Methoden, mit denen herkömmlicherweise Kontinuität und Kohärenz erreicht wurden, zu vermeiden.
Sein Frühwerk erreichte mit Le Marteau sans Maître (1955) seinen Höhepunkt: Hier vertonte er einige der kompaktesten und uneindeutigsten Gedichte Chars für Frauenstimme und ein Ensemble, das mit Flöte, Viola, Gitarre und Schlagzeug in der Lage war, Verbindungen mit instrumentellen Möglichkeiten aus aller Welt einzugehen und gleichzeitig der westlichen Tradition einen radikal neuen Klang zu verleihen. Schneidend und lyrisch, streng und üppig zugleich, etablierte diese Arbeit ihren Komponisten an der Spitze der internationalen Avantgarde und fand außerdem noch Strawinskys Anerkennung.
Als nächstes begann Boulez mit der Arbeit an großangelegten Projekten, die der Form nach variabel und unvollendet bleiben sollten. Bemerkenswert sind hier zwei Arbeiten, mit denen er 1957 begann: seine Dritte Klaviersonate und Pli selon pli, eine einstündige Vertonung von Gedichten Stéphane Mallarmés (der inzwischen zu seinem bevorzugten Autor geworden war), ein Werk für Sopran und ein Orchester, angereichert von funkelndem Schlagzeugklang. Beide Stücke boten den Interpret*innen Momente der Auswahl aus verschiedenen Pfaden und Wegen durch das notierte Material. Tonale Musik, so behauptete Boulez, verliefe in nur einer Richtung und folge einem vorbestimmten Weg zu einem vorbestimmten Ende. Posttonale Musik müsse, so wie diese beiden Werke es taten, ein offenes Ende haben und dürfe im Prinzip niemals gleich klingen.
Wenn es jemals den Anschein hatte, dass Boulez’ Kreativität nachließ, so könnte das an zwei Umständen gelegen haben. Seit Ende der 50er-Jahre war Boulez ein immer mehr als Orchesterdirigent gefragt, wobei er sich zunächst auf neue Musik und die Klassiker des 20. Jahrhunderts konzentrierte, bald aber auch Werke des Standardrepertoires in seine Arbeit als Dirigent mit aufnahm. Während eines Großteils der 70er-Jahre war er Musikalischer Leiter von Klangkörpern auf beiden Seiten des Atlantiks, nämlich des BBC Symphony Orchestra in London und des New York Philharmonic Orchestra. Außerdem war er überzeugt davon, dass er für seine musikalischen Ideen hochentwickelte elektronische Instrumente brauchte: Seine Experimente mit Tonbandmusik in den 50er-Jahren hatten ihn nicht zufrieden gestellt, dafür aber davon überzeugt, dass darin die Zukunft liegen würde.
Die wenigen Werke, die in dieser Zeit entstanden, hatten jeweils einen besonderen Anlass, so etwa die leuchtenden Wolken und Vogelgesänge von Cummings ist der Dichter (1970) für seinen Freund, den Chordirektor Clytus Gottwald, und fünf Jahre später Rituel, ein beeindruckendes orchestrales Denkmal für seinen einstigen Kollegen Bruno Maderna. Eine Arbeit, die für Orchestergruppen geschrieben ist, die sowohl getrennt als auch vereint Varianten einer feierlichen Melodie intonieren.
Fortwährender Wechsel:
Wie Sang und Gegensang für eine
imaginäre Zeremonie.
Zeremonie des Gedenkens, daher die
ständige Rückkehr zu denselben
Formeln, jedoch mit abgewandelten Zügen
und in neuer Sicht.
Zeremonie des Absterbens, Ritual
des Vergehens und des Fortbestehens:
So prägen sich die Bilder dem
musikalischen Gedächtnis ein,
gegenwärtig / vergangen, immer im Zweifel.
Aus: Pierre Boulez, Rituel in memoriam Bruno Maderna, Partitur Universal Edition London / Wien, 1975 / 1987
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Konzept der offenen Form in einen Impuls zur Überarbeitung verwandelt, mit der Folge, dass die Kompositionen potenziell für immer unvollendet bleiben sollten. An Pli selon pli, das er 1965 zum ersten Mal präsentierte, nahm er bis in die 90er-Jahre Veränderungen vor. Andere Arbeiten, wie zum Beispiel Cummings, kündigte er als ersten Teil von Projekten an, die niemals fertiggestellt wurden. Im Idealfalle würde alles im Schwebezustand verbleiben, zwar lebendig und anschaulich realisiert, aber doch nicht gänzlich definiert. Und alles sollte in Bezug zueinander stehen: Ein Großteil seiner späteren Arbeiten basiert entweder auf Material aus explosante-fixe, das er 1971 im Gedenken an Strawinsky veröffentlicht hatte (Rituel gehört auch zu dieser Familie), oder auf einer Akkord-Sequenz, die er vom Namen Paul Sachers ableitete, des großen Schweizer Mäzens der neuen Musik.
1977 erhielt Pierre Boulez die technischen Mittel, die er so dringend gefordert hatte: Das Computermusik-Studio IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) wurde auf Kosten des französischen Staats in Paris für ihn eingerichtet. Dort arbeitete er bis Mitte der 90er-Jahre an Kompositionen wie Répons für sechs Solisten, Orchester und Live-Elektronik. Während dieser Periode reduzierte er zudem drastisch seine Verpflichtungen als Dirigent.
Dennoch führte ihn seine akribische Beherrschung des Klangs bald wieder zurück auf das Konzertpodium und zu den herkömmlichen Instrumenten, in großen Konstellationen(wie Notations, das auf frühen Klavierstücken basierte) ebenso wie in kleinen. Ein Beispiel für letztere ist sur Incises (1995/96), eine charakteristisch überwältigende musikalische Zentrifuge, angetrieben von drei Klavieren, drei Harfen und drei Perkussionisten. Anders als jede Musik zuvor absorbierte sie Klänge ferner Kulturen wie karibische Steeldrums und indonesische Gongs. Mit dieser Arbeit erfüllten sich die Hoffnungen des einst jungen Mannes mehr, als er es sich je hätte träumen lassen.
An folgenden Tagen finden die Konzerte mit Werken Pierre Boulez statt: Rituel am 1. September in der Philharmonie mit der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Daniel Barenboim; Cummings ist der Dichter am 8. und 9. September ebenfalls in der Philharmonie mit den Berliner Philharmonikern und Sir George Benjamin am Pult; sur Incises am 9. September im Pierre Boulez Saal mit dem Boulez Ensemble, das von Daniel Barenboim geleitet wird; Le Marteau sans maître am 10. September mit dem Ensemble intercontemporain unter der Leitung von Matthias Pintscher.