Bei der Gründung einer „Griechischen Gesellschaft“ in Kopenhagen waren die Bildhauerin Anne Marie Carl-Nielsen geb. Brodersen (1863–1945) und ihr Ehemann Carl Nielsen (1865–1931), der Komponist, neben Dänemarks akademischen Giganten wie dem Mathematikhistoriker Johan Ludvig Heiberg, dem Philologen Anders Bjørn Drachmann und dem Philosophieprofessor Georg Brandes von Anfang an dabei. Dieser nordisch-hellenistischen Aktion von 1905 gingen Studienreisen des Künstlerpaares voraus. Schon 1893 schrieb Carl Nielsen in Athen in sein Tagebuch: „Wie seltsam! Die alten Griechen, die gesundesten, lebensfähigsten und lebensbejahendsten Menschen, die wir kennen, glaubten an ein Leben nach diesem, aber im ‚Reich der Schatten‘. Die Christen – unser Schlag, die schwächsten, lebensmüdesten und jämmerlichsten Menschen, die wir kennen, glauben an ein Leben nach diesem, aber in Herrlichkeit und Freude.“ Carl Nielsen wollte den „jämmerlichen“ Christen helfen, eine lebensbejahende Haltung zu finden, weitab des sorgenvollen Spekulierens mit einer Gerechtigkeit nach dem Tod. Das bekannteste Dokument seines Hellenismus ist die „Helios-Ouvertüre“ von 1903. Die symphonische Dichtung „Pan und Syrinx“ von 1918, die in Ovids „Metamorphosen“ ihren Ursprung hat, steht in derselben Tradition. In den meisten Fällen ist der hellenistische Einfluss bei Nielsen jedoch nicht am Sujet zu erkennen, sondern Bestandteil seiner Ästhetik, die durch und durch symphonisch (sýmphōnos) war.
1903 arbeitete Carl Nielsen als Gast des Athener Konservatoriums an „Helios“, während Anne Marie im Akropolismuseum antike Formen studierte und ihren nordisch-klassizistischen Stil weiter entwickelte. Derweil transkribierte er die Melodie des postlydischen „Seikilos-Liedes“, einem der ältesten notierten Musikstücke, das es gibt. Wie wunderbar, dass die von William Mitchell Ramsay 1883 in der Provinz Aydın an der Westküste der Türkei entdeckte Stele seit 1966 im Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen als Denkmal des skandinavischen Hellenismus aufbewahrt wird! Das auf die Stele gravierte Gedicht liest sich wie eine Synopse der Nielsens’schen Kunstanschauung:
„Wenn du lebst, scheine! Habe gar kein Trauergefühl! Das Leben dauert nur eine Weile und die Zeit verlangt ihren Tribut.“
(Übers. d. A.)
„Hoson zēs, phainou / mēden holōs sy lypou / pros oligon esti to zēn / to telos ho chronos apaitei.“
Für Nielsen ist Musik „Leben“, lebendig, keine Ideenvertonung oder Konzeptkunst, schon gar kein Philosophieersatz, höchstens Produkt einer philosophisch fundierten Haltung. Von der Antike nachhaltig begeistert, entwickelte er als Künstler eine lebensbejahende, Leben spendende Art. Zu einem seiner Meisterwerke, der Symphonie Nr. 4 von 1914–16, schrieb er während der Arbeit, dass sie „ausdrücken wird, was wir unter Lebensgeist oder Manifestationen des Lebens verstehen: alles, was sich bewegt, was leben will“. Auch Anne Marie Nielsen vertrat den für die Zeit typischen Vitalismus. Das zeigt sich in der von ihr angefertigten, wirklich sehenswerten Statue ihres Mannes, die 1939 in der Kopenhagener Grønningen-Straße aufgestellt wurde und heute noch zu den eindrucksvollsten Musikerdenkmälern weltweit zählt: Ohne Sattel und vollkommen nackt sitzt ein drahtiger Jüngling mit Carl Nielsens Gesichts und einer Panflöte in der Hand auf dem Rücken eines aufgeregten Pferdes – wie ein flötender Siegfried in zeitgemäß-heroischer Pose, aber nur mit einem Musikinstrument bewaffnet. Auf Fotos sieht Carl Nielsen meistens nicht ganz so aufregend aus, aber seine Frau kannte ihn natürlich besser.
Als Komponist legte Nielsen viel Wert auf „Temperament“. Er vermied Sentimentalität und Überfluss am „Akademischen“. Manche halten ihn deshalb für einen Antimodernisten und Vorreiter des „dritten Weges“, andere für einen Individualisten, manche sogar für einen Arnold-Schönberg-Epigonen, weil er zum Teil fast atonal und meistens polyphon schrieb. Er spielte Geige und seine musikalische Grundhaltung war kammermusikalisch, doch seine bekanntesten Werke benötigen eine Großbesetzung. Während ihn Musikhistoriker und Kritiker inzwischen fast einhellig für einen der spannendsten Tonsetzer neben den allergrößten Giganten des frühen 20. Jahrhunderts halten, sind Zuhörer und Musiker über seine Bedeutung noch nicht einig geworden. „Mögen Sie Carl Nielsen?“ taugt als Testfrage beim Speed-Dating – sogar bei Dirigenten! Wer die Frage bejaht, ist wahrscheinlich anspruchsvoll und lebensfreudig, eher sportlich als rauschlustig, frei von Ohrwurmsucht, dafür offen für ein Fest der Originalität und des nordisch-hellenistischen Natur- und Sonnenkults.
Am 9. September startet das Nielsen-Porträt mit einem Konzert des Mahler Chamber Orchestra unter Thomas Søndergȧrd. Orchester wie das Royal Danish Orchestra unter Michael Boder, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit Marek Janowski und die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle werden Nielsens Sinfonien 3-6 aufführen und das junge Danish String Quartet alle seine Streichquartette. Ab dem 9. September ist außerdem die Ausstellung „Carl Nielsen – Music is Life“ im Foyer der Philharmonie für die Besucher des Musikfest Berlin zugänglich.