2019 jährt sich der Todestag von Hector Berlioz zum 150. Mal. Für das Musikfest Berlin Anlass genug, diesen zu ehren und seine Werke in den Konzertprogrammen des Festivals zu verankern. So wird nicht nur in einer halbszenischen Aufführung seine erste Oper „Benvenuto Cellini“ am Eröffnungsabend zu hören sein, sondern auch eine Reihe seiner symphonischen Werke wie die Symphonie dramatique „Roméo et Juliette“, die Symphonie mit konzertanter Viola „Harold en Italie“ oder die „Symphonie fantastique“. Abgerundet wird die Berlioz-Reihe des Musikfest Berlin mit seiner Oper „Les Troyens“, die in Ausschnitten aufgeführt wird, und der Lyrische Szene für Sopran und Orchester „La Mort de Cléopâtre“. Aber nicht nur Musik von Berlioz selbst wird dargeboten, auch Werke wie die von Richard Strauss, Edgard Varèse oder Olivier Messiaen, in denen Berlioz’ Visionen vom Orchester und seinen Instrumenten noch nachhallen. Der Musikwissenschaftler Klaus Heinrich Kohrs führt uns in seinem Essay in die romantische Klangwelt und Musikanschauung dieses so einflussreichen Komponisten ein.

„Jeder vom Komponisten verwendete klingende Körper ist ein musikalisches Instrument“

Mit diesem Satz beginnt Hector Berlioz das erste Kapitel seiner Instrumentationslehre von 1844. Mit den Konsequenzen dieses ebenso schlichten wie revolutionären Einstiegs eröffnet er einen zuvor ungeahnten Freiraum jenseits aller Konventionen und normativen Schranken. Diese sind in erster Linie Gattungsschranken. Noch der im Bereich der Harmonik so tollkühne Bruckner fragte sich, ob Harfen wohl in eine Symphonie gehörten. Und ästhetische Schranken wirken auch heute noch nach, wenn manche Dirigenten im Finale von Beethovens 9. Symphonie das Schlagzeug ängstlich zurückdrängen: Die große Trommel gehört in die Oper, die instrumentale Königsgattung wird „unsauber“ durch sie.

Freiheit der Orchesterfarben war aber für Berlioz nur ein Element im Programm einer sprechenden Instrumentalmusik, einer befreiten Sprache. Er nennt sie in einem programmatischen Aufsatz von 1830 das „genre instrumental expressif“ – und er zitiert Victor Hugo, der ein Jahr zuvor in der Vorrede zu seiner Gedichtsammlung „Les Orientales“ geschrieben hatte: „Für die Kunst gibt es keine Schranken,
keine Fesseln, keine Knebel; sie sagt zu Dir: Geh! und eröffne Dir jenen großen Garten der Poesie, in dem es keine verbotene Frucht gibt.“ Die romantischen Komponisten, so ergänzt Berlioz, schließen nichts aus. „Alles, was in den Bereich der Musik fallen mag, wird von ihnen verwendet.“

Im selben Jahr lässt Berlioz seine ägyptische Königin Cléopâtre auf eine imaginäre Bühne stürzen, die allein durch das Orchester mittels wilder, irregulärer Motivik und Metrik hergestellt wird: eine pantomimische Musik äußerster Verzweiflung und Wut. Die Instrumentalmusik wird hier in zuvor nicht erlebter Weise gestisch – besonders eindringlich, wenn sich Cléopâtre aus einem Zusammenbruch mit immer weiter sich spreizenden Intervallen erhebt und ihre erste Arie beginnt. Und am Ende der Kantate, nach dem Schlangenbiss, wird die Musik physiologisch: Konvulsivisch arbeiten die Streicher den vergifteten Körper buchstäblich zu Tode. Dies mit den 30 Jahre später komponierten Abschiedsszenen der Dido in „Les Troyens“ zu konfrontieren, kann sehr erhellend sein: Im klassizistisch gebändigten Opus summum des Komponisten kehren Pantomime und Physiologie wieder. Didos Puls schlägt irregulär in den Posaunen am Ende ihres Abschieds-Airs „Adieu fière cité“ – outriertester Ausdruck und Selbstbeherrschung zugleich.

„Man wird wohl über die Gattung des Werks nicht im Zweifel sein“, schreibt Berlioz mit unnachahmlicher Chuzpe in der Vorrede zu seiner dramatischen Symphonie „Roméo et Juliette“, die das Heterogenste vereinigt: Chorrezitativ, Romanze, vokales Scherzetto, Trauerzug, Opernfinale – dazwischen avancierteste Instrumentalsätze. Die allein dem Orchester anvertraute Liebesszene, deren „sprechende“ Instrumente schon Olivier Messiaen hervorgehoben hat, „übersetzt“, „paraphrasiert“ (so Berlioz’ eigene Worte) Shakespeares Text in eine elaborierte Instrumentalsprache. Streckenweise klingt sie vordergründig wie eine Interlinearversion. Aber die Musik – so Berlioz’ Paradox – entgrenzt gerade durch ihre Unbestimmtheit den positiven und damit immer begrenzten Sinn der gesprochenen Worte. Der bedeutende Berlioz-Forscher Ian Kemp hat vor 30 Jahren den ersten Versuch einer Analyse von Berlioz’ singulärem Verfahren gemacht, das Unaussprechliche im befreiten Sprechen vorscheinen zu lassen – und damals heftigen Widerspruch geerntet. Ist das, wenn die Deutung stimmt, nicht schlechteste Programmusik? Nein, so muss man klar sagen, denn sie illustriert ja gar nichts. Sie folgt nur, wie Messiaen es schon formulierte, den expressiven Modulationen und Inflexionen der Sprache.

 

Portrait des jungen Hector Berlioz, gemalt 1832 von Émile Signol. Signol hielt sich zur selben Zeit wie Berlioz als Preisträger des Prix de Rome in Rom auf.

 

Metaphern der Entdeckungsreise und des Abenteurertums erscheinen in Berlioz’ Texten immer dann, wenn es gilt, sich gegen den großen Maßstabgeber Beethoven zu behaupten. In dessen Klaviersonaten und späten Quartetten erkennt Berlioz schon früh die Wurzeln des von ihm erträumten „genre instrumental expressif“. „Vielleicht gibt es für einen kühnen, freien Geist noch so viele große und neue Dinge zu tun; so groß sind die noch unerschlossenen Länder; wie ein neuer Kolumbus hat Beethoven ein anderes Amerika entdeckt, zu dessen Erkundung noch ein Cortez und ein Pizarro fehlen“, lässt er im später „Lélio“ genannten Monodram, das er als Komplement der Symphonie fantastique konzipierte, seinen Protagonisten sagen. Über den hybriden Opernplan „Le dernier jour du monde“ – Das Ende der Welt, in dem das Jüngste Gericht mit gigantischen orchestralen Mitteln (Haupt- und Fernorchester) evoziert werden soll, schreibt er im Frühjahr 1832 aus Rom seinem Librettisten: „Für die Musik werde ich einen brasilianischen Urwald abholzen, von dem ich mir großartige Reichtümer verspreche; wir werden als kühne Pioniere marschieren, soweit es uns die materiellen Mittel erlauben.“ Leidenschaftlich verschlang schon der junge Berlioz alle in der väterlichen Bibliothek vorhandenen Reiseberichte, und noch während der höchst konzentrierten Arbeit an „Les Troyens“ las er einen fantastischen Bericht über die Philippinen, den er dann sogar ausführlich rezensierte.

Die Entdeckung neuer Welten, wie sie die Reiseberichte verheißen, als Metapher für eine neue, schrankenlose Ästhetik: Groß ist die Verlockung, hier an Edgard Varèses 100 Jahre später entstehende „Amériques“ zu denken, von deren Titel der Komponist gesagt hat, er stehe eher symbolisch für die Entdeckung neuer Welten, auf der Erde, am Himmel oder im menschlichen Geist. Oder an seine „Arcana“, deren Paracelsus-Zitate auf dem Titelblatt ein imaginäres Reich der Geheimnisse beschwören. Messiaens „Éclairs sur Au-delà“ siedeln sich vollends in einer erträumten (oder geglaubten) Welt, in einer Ewigkeit jenseits unserer Zeit an, vor deren Gedanken noch Bruckner panisch verstummt war. Das Verstummen aber markiert exakt die Differenz: Berlioz’ Imaginationsräume, die er ins Gigantische ausdehnen wollte, bleiben immer Projektionsräume einer extrem expandierenden Subjektivität. Eine revolutionäre Ästhetik bleibt gebunden an die (klassizistische) „expression des passions“, an den Ausdruck menschlicher Leidenschaften. Seine Musik steht exakt auf der Grenze von Romantik und Moderne. Niemals wird sie bloßer Klang und kosmisches Spiel. Nichts macht das deutlicher als Berlioz’ paradoxes Fazit, „Roméo et Juliette“ bringe das Unendliche im Endlichen zur Erscheinung, „diese Offenbarung des Unendlichen in der Liebe und im Schmerz“; kein Abheben ins Au delà, ins Jenseits einer vom Subjekt befreiten Welt.

Mit „Mon cher Berliozzo“ redet Heinrich Heine den Freund in einem kürzlich erst wieder aufgetauchten Brief aus dem Jahr 1848 an. Der vor den Folgen der Februarrevolution und des Juni-Aufstands zurückschreckende, entmutigte Komponist wird da in paradoxer Volte, wie Heine sie so liebte, als unverzagter Freibeuter angesprochen. Schließlich ist dieser „Berliozzo“ der Komponist eines Benvenuto, des Florentiner Goldschmieds und Bildhauers, der sich jenseits aller Konventionen selbst das Gesetz gibt. Bewundernd hatte Berlioz in Florenz vor Cellinis Perseus gestanden und sich den Satz auf der Kartusche notiert: „Wenn Dich jemand verletzt, werde ich Dein Rächer sein.“ Und in Heines Anrede spiegelt sich auch Berlioz’ literarische Bewunderung für den wilden, aber edlen italienischen Bravo, zu dem sich der Protagonist des „Lélio“ hinträumt und der im vierten Satz von „Harold en Italie“, dem Gelage der Räuber, seinen großen Auftritt hat.

 

Die Berlioz-Aufführungen ziehen sich durch den gesamten Festival-Zeitraum. Zur Eröffnung des Musikfest Berlin am 31. August führt das Orchestre Révolutionnaire et Romatique und den Monteverdi Choir unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner Hector Berlioz’ Oper „Benvenuto Cellini“ halbszenisch und auf Instrumenten der Zeit auf. Die Symphonie dramatique „Roméo et Juliette“ wird von den Berliner Philharmonikern, dem Rundfunkchor Berlin dreimal vom 12. bis 14. September unter der Leitung von Daniel Harding gegeben. François-Xavier Roth und das von ihm gegründete Orchester Les Siècles spielen, ebenfalls auf den Instrumenten der Berlioz-Zeit,am 15. September „Harold en Italie“, eine Symphonie in vier Teilen mit konzertanter Viola. Solistin ist die Bratschistin Tabea Zimmermann. Die „Symphonie fantastique“ steht auf dem Programm des Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta am 16. September und das Orchester der Deutschen Oper Berlin widmet sich am 17. September der Oper „Les Troyens“ (in Ausschnitten) und der Lyrischen Szene für Sopran und Orchester „La Mort de Cléopâtre“.