Habakuk Traber über drei Komponisten in einem Jahr der kontroversen Jubiläen.
Monteverdi und das Konzil von Trient
Für das Konzertdoppel des RIAS Kammerchors am 15. und 16. September wurden die Aufführungsorte mit Bedacht gewählt: hier der Pierre Boulez Saal, in Architektur und räumlichen Möglichkeiten ganz der Konzentration auf die Kunst zugewandt; wenige Gehminuten davon entfernt die St. Hedwigs-Kathedrale, die katholische Bischofskirche Berlins. In beiden wird Monteverdi gesungen und gespielt, im Boulez Saal die berühmt gewordene „Marienvesper“, welche die geistliche Musik mit Hilfe der weltlichen nachhaltig revolutionierte, in der Kuppelkathedrale die „Missa da capella“, ein Lehrstück konservativen, manche meinten gar: rückwärtsgewandten Komponierens. Beide Werke ließ Monteverdi 1610 zusammen veröffentlichten – wie Pole, zwischen denen sich sein Schaffen bewegt. Sie zeigen je auf ihre Weise die beiden Gesichter der Gegenreformation, der Stiefschwester der Reformation.
Beide entsprachen in einer Hinsicht den Beschlüssen des Konzils von Trient, des 18-jährigen Etappenkonvents (1545 – 1563) gegen die protestantische Reformation. Die Marienverehrung wurde damals zur Wiedergewinnung verlorener „Schafe” eingesetzt, denn sie fing starke Kräfte der Volksfrömmigkeit ein und fügte der seltsamen Gottespersonnage der Christen eine weibliche, mütterliche Komponente hinzu. Marienbilder und -musiken erlebten einen gehörigen Aufschwung. Da sie sich nicht im Kerngebiet, sondern in einem Außenbezirk der Dogmatik bewegten, wurden sie nicht unbedingt nach den strengen Verordnungen des Tridentinum bewertet. Die sechsstimmige Messe, die nur eine Generalbassgruppe als obligatorische Instrumente verlangt, hielt Monteverdi im alten, kunstvoll polyphonen „Palestrina“-Stil, wie ihn das Konzil als Kunstaußengrenze der offiziellen Kirchenmusik zuließ.
Beide Werke widersprechen zugleich auch den Konzilsentscheidungen. Die „Marienvesper“ nimmt nicht nur in musikalischer Gestik und Theatralik Anleihen bei den Tendenzen der damals modernen Oper; die Substanzgemeinschaft mit dem kurz zuvor entstandenen „Orfeo” reicht tief in die Details der Partitur. Konzertante Elemente, darunter rein instrumentale Abschnitte, holen ebenfalls eine ausgesprochen weltliche Form in die Musik. Dagegen hatte sich das Tridentinum ausdrücklich gewandt. Die Messe wiederum ist in einer Vollendung komponiert, die den Kunstanspruch wohl auch für damalige Hörer in den Vordergrund rückte; auch das sollte nach dem Willen des Konzils nicht sein. Die Musik behauptet ihr eigenes Recht.
Pfitzners „Palestrina“
In diesem Jahr der kontroversen Jubiläen fügt es sich günstig, dass zu den großen ein kleines hinzukommt: Am 12. Juni 1917 wurde im Münchner Prinzregententheater eine Oper uraufgeführt, die das Tridentinum als Folie für die Auseinandersetzung zwischen Kunst und Macht benutzt. Hans Pfitzners „Palestrina“ beruht auf der Legende, dass der greise Meister, der nach dem Tode seiner Frau nicht mehr komponieren wollte, trotz seiner ursprünglichen Weigerung eine polyphone Messe schrieb, die in der Endphase des Konzils von Trient aufgeführt wurde und die Mehrheit davon überzeugte, dass die kunstvolle Mehrstimmigkeit der geforderten Textdeutlichkeit nicht im Wege stehe; die Kirchenmusik als Kunst sei dadurch gerettet worden. Die Vorspiele zu den drei Akten der Künstleroper führen auf die nachfolgenden Handlungsschwerpunkte hin, sie formen symphonisch vor, was danach theatralisch durchgespielt wird. Das erste und dritte Vorspiel erweisen mit ihrer Textur dem Protagonisten Reverenz; Pfitzner kopiert den Alten Meister jedoch nicht, sondern vergegenwärtigt ihn in Kenntnis seiner kompositorischen Verfahren.
Bruckner
Marek Janowski und die Berliner Philharmoniker kombinieren das Ouvertüren-Triptychon Pfitzners mit Anton Bruckners Vierter Symphonie. Der Komponist nannte sie eine romantische, so wie Richard Wagner seinen „Lohengrin” als romantische Oper bezeichnete – nicht im Sinne eines Epochenbegriffs, sondern einer künstlerischen Haltung. Unter Bruckners Symphonie ist diese dem Musiktheater am nächsten, obwohl er in der Urfassung der Dritten wesentlich mehr Wagner zitierte. Sie trägt aber auch das transzendierende Moment des religiösen Denkens in sich, denn das Thema, mit dem sie beginnt, beschließt sie auch; es ist, aus elementarem Stoff geformt, das A und das O, der Anfang und das Ende, wie es in der Johannes-Apokalypse heißt. Mit verbalen Erklärungen seiner Musik hielt sich Bruckner zurück. Einen Satz wie Mahlers Bekenntnis: „Symphonie heißt mir eben, mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“, hätte er so nie formuliert. Aber seine Symphonien brachen solchen Auffassungen Bahn. Zur Achten, Neunten und Vierten äußerte er sich gleichwohl und stellte einen Weltbezug her – zum Traumreich der Romantik, zu Ereignissen der Gegenwart (im Angesicht der Ewigkeit) und schließlich zum „lieben Gott“ selbst. Die Musik war für Bruckner, den Mystiker, in jedweder Form ein Weg zu ihm, der „Majestät aller Majestäten“.
Im Rahmen des Musikfest Berlin 2017 (31. August – 18. September) sind Werke aller drei Komponisten zu erleben: Im Eröffnungskonzert am 31. August interpretiert die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Daniel Barenboim Bruckners Symphonie Nr. 8 in der Philharmonie. Am 6. September steht Bruckners Symphonie Nr. 9 auf dem Programm des Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, dirigiert von Daniele Gatti. Und am 14., 15. und 16. September verbinden die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Marek Janowski Bruckners Symphonie Nr. 4 mit Pfitzners „Palestrina“. Claudio Monteverdis „Vespro della Beata Vergine (Marienvesper)“ und „Missa da Capella: In illo tempore“ kommen am 15. und 16. September im Pierre Boulez Saal und der St. Hedwigs-Kathedrale zur Aufführung durch den RIAS Kammerchor mit zahlreichen Solist*innen unter der Leitung von Justin Doyle.