Das Deutsche Musikinformationszentrum, kurz MIZ, verzeichnet auf seiner Website unter dem Stichwort „Ensembles für Zeitgenössische Musik“ 199 Datensätze. Es sind nicht nur die großen Zentren wie z.B. Berlin oder Köln, in denen die Ensembles aus dem Boden schießen. Flächendeckend von Aachen bis Würzburg verteilen sich die Formationen, die sich fast ausschließlich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts verschrieben haben. Die Ausprägung dieser spezifischen Ensemblekultur – die natürlich nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt ist – beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts. Ihre Entwicklung ist eng mit der der Entwicklung der jeweils zeitgenössischen Musik verknüpft. Festivals wie MaerzMusik – Festival für Zeitfragen ermöglichen einen Einblick in in die aktuellen Arbeitsweisen unterschiedlicher Ensembles, ihr Repertoire, ihre Auseinandersetzung mit den Spielformen zeitgenössischer Musik.
Neue Musik und Kammermusik? Wieso nicht gleich „neue Kammermusik“? Oder besser noch: Neue Musik ist Kammermusik!
Der Eindruck entsteht jedenfalls, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die wesentlichen Inventionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die zur Entwicklung einer neuen Musik führten, in der Kammermusik vollzogen wurden. Die Weiterentwicklungen der zweiten Wiener Schule schlugen sich auch im neuen Konzertformat ihres Vereins für musikalische Privataufführungen nieder: Gegründet mit der Idee, „[…] daß seine Mitglieder die moderne Musik wirklich und genau kennen lernen.“, wurden Kritiker und öffentliches Publikum vor die Tür gesetzt, das Programm nicht vorher bekannt gegeben und Klatschen war verboten. Schönbergs Verein stellt damit die Keimzelle der Ensemblekultur der neuen Musik dar. Seine Aufführungen wurden größtenteils von jungen Musikern bestritten, die in umfangreicher Probenarbeit die Werke vorbereiteten und bei Bedarf diese auch mehrmals hintereinander in einem Konzert spielten.
Aber selbst der Verein für musikalische Privataufführungen konnte sich nicht lange in der selbst gewählten Abgeschlossenheit halten und begann früh damit, in öffentlichen Konzerten seine Ziele an ein breiteres Publikum zu vermitteln. Und so lässt sich, ausgehend von den kleinen Anfängen zu Beginn des letzten Jahrhunderts, auch die Entwicklung der neuen Musik anhand ihrer Ensembles ablesen. Nicht erst seit Ende des zweiten Weltkriegs stehen die Klangkörper aufgrund ihrer relativen „Ungebundenheit“ an feste Orte wie Donaueschingen oder Darmstadt stellvertretend für die ganze neue Musik. Sie sind Ausdruck einer lebendigen Musikkultur, einer zunehmenden internationalen Vernetzung und Zusammenarbeit. Und ihre Repertoires geben Auskunft über kompositorische Entwicklungen auch jenseits von deren Brutstätten in Festivals und Werkstätten. Ein wesentlicher Bestandteil der Ensemblekultur ist dabei die Institutionalisierung neuer Ensembles, ihr „Ankommen“ im öffentlichen Bewusstsein und die Ausdifferenzierung ihrer Identität, ablesbar an Repertoire, Konzertengagements und Vernetzung zu anderen Institutionen. Aber künstlerische Autorität schützt nicht mehr vor finanzieller Vernachlässigung, wie das 2006 gegründete Solistenensemble Kaleidoskop erfahren musste, das nur mit Müh und Not vorerst vor dem endgültigen Aus bewahrt werden konnte.
Festivals wie MaerzMusik – Festival für Zeitfragen, das bei den Berliner Festspielen beheimatet ist, sind dann die sicheren Häfen und Nährböden für eine lebendige und kreative Ensemblekultur, deren Aufgeschlossenheit auch in diesem Jahr wieder bewiesen wird. So spielt in der MaerzMusik 2016 mit dem KNM Ensemble Streichquartett ein Klangkörper auf, der sich die Neugier aufs Unbekannte explizit auf die Fahne geschrieben hat und sich dem neuen Untertitel des Festivals für Zeitfragen auch durch seine stete Auseinandersetzung mit den Themen der Gegenwart verbunden fühlt.
Ihm ist mit dem Ensemblekollektiv Berlin und dem Zafraan Ensemble, den anderen beiden Berliner Gruppierungen, die zur diesjährigen Ausgabe der MaerzMusik eingeladen wurden, die enge Beziehung zur Kulturszene der Hauptstadt gemein. So wurde das Zafraan-Ensemble 2009 von Absolvent*innen der Hochschule für Musik Hanns Eisler gegründet und zählt mittlerweile Musiker*innen aus zehn Nationen zu seinen Mitgliedern, die in Workshops ihr Wissen an junge Komponist*innen und Instrumentalist*innen weitergeben. Kennzeichnend für das Ensemble sind die Versuche, die übliche Konzertform durch dramaturgische Elemente aufzuwerten, zum Beispiel durch die Verknüpfung von Tanz, Malerei, Dichtung und Performance.
Gleich aus vier verschiedenen Klangkörpern – dem Ensemble Adapter, dem Sonar-Quartett, dem Ensemble Apparat und dem ensemble mosaik – setzt sich das Ensemblekollektiv Berlin zusammen. Die erfahrenen Mitglieder dieses Novums der Berliner Kulturlandschaft können so die Grenzen gängiger Kammermusik überschreiten.
Wie fruchtbar die Zusammenarbeit mit Gastmusiker*innen ist, zeigt auch das belgisch-britische Plus-Minus Ensemble. Das Repertoire des Oktetts reicht von den „Klassikern“ der Moderne bis zur Aufführung junger, unbekannter Komponist*innen, die Besetzungsfragen offen lassen, so dass das Plus-Minus Ensemble regelmäßig auswärtige Gäste einladen kann und ähnlich dem Zafraan-Ensemble mit dem Konzertformat experimentiert.
Ein Kuriousum der diesjährigen MaerzMusik ist das Aleph Gitarrenquartett. Selbst in der klassischen Musik kaum zu finden, haben sich die vier Musiker das Ziel gesetzt, in enger Zusammenarbeit mit Komponist*innen ein zeitgenössisches Repertoire für diese Besetzung zu schaffen. Mit mehr als 30 Werken im Repertoire scheinen sich diese Bemühungen bereits auszuzahlen.
Für alle Ensembles charakteristisch ist die hohe künstlerische Qualität, ihre Verwurzelung im anerkannten Repertoire und die Aufführung alter und neuer, noch unbekannter Werke. Dabei gewinnt nicht nur die dramaturgische Gestaltung der Aufführung zunehmend an Bedeutung, auch die Erweiterungen des traditionellen Konzertformats in Richtung Performance, Installation, audiovisueller Komposition und musiktheatralen Formen nimmt seit einigen Jahren aber auch breiten Raum in der Arbeit der Ensembles ein. Die von MaerzMusik 2016 eingeladenen Ensembles versprechen spannende und aufregende und künstlerisch wertvolle Aufführungen bei der MaerzMusik 2016. Klatschen ist erlaubt.
Das KNM Berlin Streichquartett wird bei MaerzMusik – Festival für Zeitfragen das String Quartet No. 4 „Illiac Suite“ von Lejaren Hiller & Leonard Isaacson, eines der ersten von einem Computer komponierten Werke aufführen, und zwar am 12. März, 20:00 Uhr. Das Aleph Gitarrenquartett spielt – am 13. März, 21:00 Uhr – „The Cold Trip pt.1″ aus der Monadologie XXXII von Bernhard Lang. Gleich drei Aufführungen bestreitet das Plus-Minus Ensemble am 14. März, um 19:30 Uhr mit Joanna Bailies „Artificial Environments“, um 20:30 Uhr mit Matthew Shlomowitz‘ „Lecture about Bad Music“ und um 22:00 Uhr mit Werken von Johannes Kreidler, Simon Loeffler, Natascha Diels und Alexander Schubert. Werke von Eduardo Moguillansky udn Timothy Mc Cormack wird das Ensemblekollektiv Berlin am 17. März, 20:00 Uhr, uraufführen. Am 18. und 19. März, jeweils um 19:00 Uhr, wird das Zafraan Ensemble in dem Konzertexperiment „alif::split in the wall“ im Radialsystem V zu sehen und zu hören sein.