Ich bin ich, wenn ich tanze, klar! Aber wer bin ich? Wie gut kenne ich meinen Körper? Wie definiere ich meine Identität? Bin ich nur ein Tänzer, der Bewegungen ausführt, oder stehe ich für eine Kultur oder eine politische Agenda? Kann ich „nur“ ein dynamischer israelischer Körper sein, der im Raum tanzt, ganz ohne weitere Bedeutungsschichten? Kann ein syrischer Tänzer in Berlin einfach als Tänzer wahrgenommen werden und nicht als Geflüchteter aus Syrien, der tanzt?
Natürlich ist unsere Nationalität die Grundlage dessen, wie wir auf der Bühne wahrgenommen werden. Aber was setzt mich von anderen ab – anderen Israelis, Syrer*innen, Deutschen, Japaner*innen …?
Ich bin überzeugt, dass unser Atemapparat ganz wesentlich zur Definition dessen beiträgt, wer wir wirklich sind. Ich bin ein Individuum, so viel ist klar. Aber was unterscheidet mich von anderen Tänzer*innen? Die Antwort liegt in der Art und Weise wie ich atme – und zwar in Beziehung zur Bewegung, zu meiner natürlichen Energie, sie liegt in der Art und Weise, wie ich eine körperliche Harmonie oder Disharmonie in Verbindung mit meiner Vergangenheit und meiner Gegenwart herstelle. Der „Gebrauch/Missbrauch“ meines Atem- und Bewegungsapparats veranlasst meinen Körper und meinen Geist, nach einer (ehrlichen) Verbindung zwischen diesen drei Elementen zu suchen: dem Nervensystem, dem Atemapparat und dem Geist. Je mehr wir uns mit den verborgenen Räumen unseres Körpers vertraut machen, desto mehr Leben können wir ihnen einhauchen, um die Identität unserer lebendigen Körper zu bestimmen. Dieser „Gebrauch/Missbrauch“ fordert mich ebenso wie andere Tänzer*innen dazu heraus, tiefer zu schürfen und führt so zu einer klareren körperlichen Definition, weil wir unsere äußeren Schichten abstreifen und nach unserem authentischsten, ehrlichsten Körper suchen. So spüren wir der Verbindung zwischen unserer somatischen Struktur und unserem Charakter nach. Und zudem tanzen wir die emotionale Interaktion zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten.
Egal, ob der Tanz abstrakt ist oder eine Geschichte erzählt – wir sind immer auf irgendeine Weise mit unseren Gefühlen verbunden! Wir alle sind Organismen mit einem Nervensystem, einem Atemapparat und einem Geist. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass der Atem für die Kommunikation zwischen diesen drei Systemen sorgt. Der Atem ist die Basis für das, was riesengroßen (emotionalen) Einfluss auf unsere Definition als Tänzer*in und Performer*in hat. Aus diesem Dreieck konstruiert sich die Komplexität unserer selbst als Individuen und spiegelt so nicht nur uns, sondern auch die Gesellschaft wieder. Wenn ich tanze, bin ich ein atmender Organismus der verschiedene Darstellungen und Schichten sowohl meiner Vergangenheit als auch meiner Gegenwart zeigt. Der Körper macht verschiedene Schichten sichtbar und eine ganz spezifische Energie. Diese Energie ist das Ergebnis des Ortes, an dem wir geboren wurden und aufwuchsen, unserer ersten Erinnerungen, ersten Traumata, aller Menschen, die wir kennenlernten und aller Orte, Filme, Bücher und Bilder, die für unsere selektive Erinnerung von Bedeutung waren. Wenn wir tanzen, vermischen sich alle diese Einflüsse mit unserer ganz spezifischen persönlichen Energie und bilden so die Gesamtheit des „Ich“. Manchmal holen wir einen bestimmten Moment ganz nah heran und bauen ein ganzes physisches Vokabular aus einer „verborgenen“ Erinnerung. Genau diese unerschöpfliche Quelle, dieses Archiv, konstruiert gemeinsam mit dem ständigen Rhythmus des Atems die ganz eigene, individuelle physisch-emotionale Identität, durch die wir uns von den anderen unterscheiden. WER ICH BIN, WENN ICH TANZE? Die Antwort auf diese Frage wandelt sich auf unserer fortdauernden physisch-geistigen Atemreise ständig. Das „Ich-tanze-Rätsel“ besteht aus einer lebenslangen Ansammlung von Ereignissen.
Die englische Originalfassung des Essays ist im Magazin zum 4. Tanztreffen der Jugend nachzulesen, das vom 22. bis 29. September 2017 im Haus der Berliner Festspiele stattfindet.