Beim Jazzfest Berlin 2018 traten einige der prominenten Vertreter*innen des musikalischen Afrofuturismus auf: Nicole Mitchell mit ihrem Black Earth Ensemble. Mit ihrem Werk „Mandorla Awakening“ eröffnete sie das Jazzfest Berlin. Die Musikerin, Sprachkomponistin, Punkerin und politische Aktivistin Camae Ayewa aka Moor Mother war sowohl mit Irreversible Entanglements zu hören, als auch in einem musikalischen Zwiegespräch mit dem Saxofonisten Roscoe Mitchell. Auch das legendäre Art Ensemble of Chicago war nach 27 Jahren endlich einmal wieder in Berlin. Darüber hinaus konnte man sich bei den diversen Panels weiter über die Bedeutung der afrofuturistischen Bewegung informieren. Die Autorin Sophie Jung spürte den verschiedenen Ausdrucksformen des Afrofuturismus beim Jazzfest Berlin nach.

Jazzfest Berlin 2018, Moor Mother & Roscoe Mitchell © Camille Blake

Es war der konzentrierteste Moment am Freitagabend: Moor Mother auf der Bühne mit Roscoe Mitchell. Die tiefe Wut ihres Sprechgesangs, ihr anklagendes „How long are we supposed to stay under your gun?“ war versponnen mit seinem in die atonale Abstraktion abgeglittenen Saxofonspiel. Zum ersten Mal traf die in Philadelphia lebende Musikerin, Sprachkomponistin, Punkerin und politische Aktivistin Camae Ayewa aka Moor Mother musikalisch auf den Chicagoer Altmeister. Das kurze musikalische Aufeinandertreffen schien zufällig, was es natürlich nicht war. Dennoch löst es die Vorstellung einer schicksalhaften Begegnung aus, aus der vielleicht noch mehr entstehen kann.
Das sind Spekulationen. Diese fanden auf dem Jazzfest dieses Jahr häufiger statt. Nicht nur weil beim Jazz der eine oder andere Fingergriff eines Solisten gleich die Wendung des Konzerts ändern kann, sondern weil während des diesjährigen Festivals immer wieder Motive einer Kulturbewegung aufflammen, die eine Spekulation mit Vergangenheit und Zukunft zu ihrem Gegenstand macht. Der Afrofuturismus ist eine emanzipative Haltung. Die britischen Journalisten Mark Dery und Kodwo Eshun waren die ersten, die darin eine regelrechte Bewegung erkannten, die gleichermaßen Musik, Mode, Kunst und Literatur umfasst: Aus der Erfahrung der afrikanischen Diaspora, der Sklaverei und der Rassentrennung in den USA, entwickelte sich ab den Sechzigern unter afroamerikanischen Künstler*innen jene kulturelle Technik im freien Raum der Kunst spekulativ in ihre Geschichte einzugreifen und sie für die Zukunft zu ändern. Im Roman „Kindred“ etwa lässt die Science-Fiction Autorin Octavia Butler ihre Protagonistin Dana aus dem Los Angeles der Siebzigerjahre in die Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg zu ihren schwarzen Vorfahren in den Südstaaten reisen, um vielleicht doch noch etwas an der Zukunft zu ändern, aus der sie selber kommt.

Jazzfest Berlin 2018, Art Ensemble of Chicago © Camille Blake

„Uns wurde die Vergangenheit genommen, wir wussten nicht, woher unsere Vorfahren stammen“ sagte die afroamerikanische Wissenschaftlerin Priscilla Layne bei einem Panel während des Jazzfest Berlin. Deswegen müsse man sich die Geschichte neu und selber aneignen. Das Art Ensemble of Chicago, mit dem Roscoe Mitchell am Freitagabend noch einmal auftrat, war eine der frühen Formationen, die den Jazz wieder auf die Melodik und Rhythmen seiner afrikanischen Wurzeln zurückbrachten. Auf der Bühne stellten sich die Musiker schon in den Sechzigerjahren als rituelles Figurenkabinett mit afrikanischen Trachten, Kitteln, und mit kriegsbemalten Gesichtern auf. Am Freitagabend, dem zweiten Tag des Festivals, zeigte sich das Art Ensemble of Chicago in gewandelter Aufstellung. Nur noch Mitchell und der Schlagzeuger Famoudou Don Moye kamen  als ursprüngliche Mitglieder auf die Bühne. Als am Sonntag die Sängerin Jazzmeia Horn im Batikgewand und mit hochgeknotenen Batikturban die Szene betrat, holte sie wie einst Mitchell und Don Moye ihre afrikanischen Ahnen wieder in die Gegenwart.

Jazzfest Berlin 2018, WDR Big Band feat. Jazzmeia Horn © Camille Blake

Der Griff in die schwarzafrikanische Geschichte ruft ganz eigene Symbolismen hervor. Der experimentelle Jazzkomponist Herman Poole Blount aus Chicago eignete sich die Bilder Altägyptens an und wendete sie in den Sechzigerjahren ins Utopische. Sein Alter Ego Sun Ra schmückte sich als Pharao und Sonnenprediger, der eine schwarze egalitäre Zivilisation auf dem Planeten Saturn verkündete. Sun Ras Vision, wenn auch ganz irdisch, schwingt bei Rob Mazureks Exploding-Star-Projekt am Donnerstag während des großen Eröffnungskonzerts des Jazzfests mit. Bei Mazurek hat der Afrofuturismus schon längst die Hautfarbe überschritten, doch seine wechselnden Bandformationen tragen Sun Ras saturnisches Motiv der Gleichheit musikalisch und politisch weiter.

Moor Mothers Blick auf die afroamerikanische Geschichte ist dunkel. Sie spekuliert nicht mehr, sie will nicht mehr auf eine unbestimmte Zukunft verweisen. Diese Musikerin ist wütend, erschüttert, böse und klagt die Gegenwart an. „The War in Chicago/ The War in Philadelphia/ The War in Palestine“ ruft sie auf der Berliner Bühne in das rastlose Spiel von Irreversible Entanglements hinein.
Schwarze Körper fließen, knallen, wischen, brennen oder tanzen auch in hoher Frequenz durch die Videoarbeiten des Künstlers Arthur Jaffa, dessen Ausstellung in der Julia Stoscheck Collection Teil des Nebenprogramms des Jazzfest Berlin war. In seinem wohl bekanntesten Montagefilm „Love is the Messsage, the Message is Death“ stellt er neben Aufnahmen von der Verwahrlosung in schwarzen Vierteln und Polizeigewalt einen regelrechten Katalog berühmter Figuren auf: Malcolm X, Michael Jackson, John Coltrane, Ella Fitzgerald. Auch Jaffa hat sich von der Spekulation losgelöst, auch er bewegt sich im Jetzt. Seine Assemblagen aus Youtube-Videos sollen „Schwarzes Kino“ sein, und eine schwarze Wirklichkeit aufzeigen, jedoch „mit der Kraft, Schönheit und Entfremdung von schwarzer Musik“, wie Jaffa selber in einem Essay zu seiner Arbeit schreibt.

Menschen mit afrikanischem Hintergrund, so meint Priscilla Layne bei dem Panel während des Jazzfests, würden letztlich immer auf ihr schwarzes Äußeres reduziert. Nationalität, Kultur spiele keine Rolle, sondern nur das Aussehen. Camae Ayewa hat diese nüchterne und harte Erkenntnis in ihrer Künstlerfigur umgewandelt. Mit Moor Mother – im Deutschen Mohrenmutter – hat sie ihr Schwarzsein zu ihrem Namen und zu ihrem Sound gemacht.