„Wir sind wenige, aber wir tragen Matrosenhemden.“
Der Einstieg in die Berlinale 2016 wird ein Marathon, selbst im Haus der Berliner Festspiele, wo es für mich schon einige Marathons zu erleben gab, zum Beispiel Jan Fabres 24-Stunden-Event „Mount Olympus“ im letzten Sommer. Heute also Ulrike Ottingers „Chamissos Schatten“, von zehn Uhr morgens bis gegen Mitternacht. Zwölf Stunden Kino, plus drei Pausen, der längste Film, den ich jemals auf einer Kinoleinwand gesehen haben werde – wenn auch nur mit knappem Vorsprung vor „Evolution of a Filipino Family“ von Lav Diaz, vor einigen Jahren mit einem knappen Dutzend Mitstreiter an einem brennend heißen Sommertag im Berliner Zeughauskino gesehen und immerhin elf Stunden lang. Auch Diaz hat mit „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ einen neuen Film im Berlinale-Programm, diesmal ist er acht Stunden lang und ich freue mich schon sehr darauf. Jetzt aber erst einmal dieses Monument, diesen Tag überstehen. Insbesondere als Dokumentaristin schätze ich die Pionierin des queeren Kinos sehr, und „Chamissos Schatten“ ist ein Reisefilm. Auf den Spuren dreier historischer Expeditionen bereiste Ottinger Alaska, die Inselgruppe der Aleuten, Tschukotka, die Wrangel-Insel, Kamtschatka und die Bering-Insel – auf den Spuren von Bering und Steller, Captain James Cook und dem romantischen Schriftsteller Adelbert von Chamisso, dessen Peter Schlemihl dem Film Titel und Leitmotiv gab. Aber nicht der Verkauf des Schattens steht hier im Zentrum, sondern die Aneignung des fremden Schattens, die Reise in den Fußspuren anderer Reisender – ohne Schlemihls Siebenmeilenstiefel, sondern wie der historische Chamisso auf dem Seeweg.
13:15 Uhr, erste Pause
Der Gelehrte unterscheidet sich vom Affen vor allem durch eines, so erfahren wir aus einem der im Voiceover von Hanns Zischler gelesenen Texte Adelbert von Chamissos: durch Geduld. Nun denn, ein wenig Geduld wird man sicher brauchen in den zwölf Stunden. Aber wer will sich schon als Affe outen und frühzeitig aufgeben? Freilich, einlassen können muss man sich schon auf den entschleunigten Rhythmus, der „Chamissos Schatten“ prägt. Eines der ersten Bilder des Films blickt durch ein Bullauge auf die bewegte See, und das gibt in mehrerer Hinsicht Aufschluss über die Perspektive des Films, die von der Figur der Passage bestimmt wird. Die Seereise, jene jenseits der Kreuzfahrten des Massentourismus bereits nahezu ausgestorbene Reiseform, lässt im Gegensatz zur durch die Nicht-Orte der Flughäfen eingerahmten, von der Enthebung irreal gemachten Flugreise die Erfahrung von Entfernung spürbar bleiben. Für Ulrike Ottingers Film ist der Seeweg, so erscheint es nach den ersten drei Stunden, auch als Strukturelement von größter Bedeutung. Im Grunde reiht er sich in eine Folge großer Ozeanfilme ein, die in den vergangenen Jahren auf der Berlinale zu sehen waren: Lucien Castaing-Taylors und Véréna Paravels „Leviathan“ etwa, oder Evangelia Kraniotis „Exotica, Erotica, etc.“: Immer wieder wählt Ottinger die Perspektive vom Meer aus, immer wieder streift der Blick Küstenstriche, kaum jemals scheint er sich mehr als ein paar Schritte von der Küste fort zu bewegen. Immer wieder geraten Menschen hinein, so wie die Aleuten, die mal über ihre Familiengeschichte erzählen, mal bei ihrer Arbeit beobachtet werden, zumeist dem Fischen. Insgesamt aber ist dies in erster Linie unbedingt ein Film des Schauens. Gar nicht unbedingt zuerst auf Menschen, zahlreiche Einstellungen sind menschenleer. Rostiges Metall und verwittertes Holz sind immer wieder zu sehen, wenn das Kameraauge geduldig auf ruinös anmutende Industrieanlagen oder karge Behausungen schaut. Aber dann auch wieder: Ottern beim Spielen zusieht, oder, in der jedenfalls für mich eindrücklichsten Sequenz dieses ersten Teils, die Fütterung einer Schar von Seeadlern mit Fischabfällen beobachtet. Immer mehr riesige Vögel stoßen vom Himmel, sträuben ihr Gefieder, balgen sich um das Futter, und irgendwann fühlt man sich wie in einem Hitchcock-Film. – So, schnell noch ein letzter Schluck Kaffee, es geht weiter!
17:25 Uhr, zweite Pause
Nein, ein Postkartenfilm ist dies sicher nicht, und im zweiten Teil mutet Ottinger insbesondere dem westlichen, von Artenschutz und „Rettet die Wale“ geprägten Blick einiges zu. Zunächst gehen wir mit einigen der Bewohner von Tschukotka in gefühlt viel zu kleinen Booten auf Waljagd – die Ureinwohner der Regionen, die Ottinger bereiste, haben noch immer das gesetzlich verbriefte Recht zur Aufrechterhaltung der traditionellen Jagd auf Meeressäugetiere. Die See ist rau in dieser langen Sequenz, und auch die Kamera ist ihrem Gang ausgeliefert – man kann durchaus seekrank werden beim Zusehen. Tatsächlich wird dann auf der Jagd ein Wal erlegt, auch wenn es nicht gelingt, die Beute ans Ufer zu schleppen. Stattdessen sinkt der getötete Wal zum Meeresgrund, sein Tod bleibt sinnlos. Mehr Hemingway als Melville. Anders sieht es aus im Falle einer erjagten Robbe, deren Schlachtung und kulinarischer Zubereitung der Film im Anschluss mehr als eine Stunde lang beiwohnt. Aber nicht um Schockwirkung geht es hier, sondern um einen genauen Blick auf handwerkliche Prozesse: Jagen, Erlegen, Zerlegen, Zubereiten. Auch ein Becher frisches Blut wird vor Ort konsumiert: das Rohe und das Gekochte. Ganz weltlich freilich werden diese Arbeitsprozesse nie verstanden, spielt doch das Rituelle in ihnen stets eine relevante Rolle: Von jedem Fleischstück des getöteten Tieres wird ein kleines Stück abgeschnitten und der See als Opfer zurückgegeben. Denn am Meeresgrund, so will es der lokale Mythos, leben alle Meerestiere bei der Göttin Sedna, und durch diese Opfer besänftigt der Jäger die Seele des erjagten Tieres, sodass es zu Sedna zurückkehren und wiedergeboren werden kann. Durch diesen Reinkarnationszyklus wird in der Vorstellungswelt des Jägers also letztlich eine Subsistenzwirtschaft ermöglicht.
20:15 Uhr, dritte Pause
Die Perspektivierung von „Chamissos Schatten“ verschiebt sich allmählich, schleichend. Nachdem während der Robbenschlachtung im zweiten Teil des Films der Voiceover-Kommentar aussetzte und zeitweise durch das neu in den Film eingeführte Modell der kontextualisierenden Texttafel ersetzt wurde, schiebt sich nun die Stimme der Regisseurin selbst in den Vordergrund. Wo noch in der ersten Hälfte vornehmlich Zitate der historischen Reisenden Chamisso (gesprochen von Hanns Zischler), Cook (Thomas Thieme) und Steller (Burghart Klaußner) zu hören waren, eröffnet nun Ulrike Ottinger ein eigenes, formal an Chamissos Aufzeichnungen orientiertes Reisetagebuch. Ein Kreis schließt sich hier, wenn wir durch dasselbe Bullauge in derselben Kabine auf dasselbe Meer blicken wie vor gut sechseinhalb Stunden, am Beginn des monumentalen Films. Durch die Verschiebung der Perspektive auf eine persönlichere Sprechweise tut sich ein neuer Ansatz auf. An Land angekommen, blicken wir minutenlang auf eine schier endlose Rentierprozession, hunderte Tiere mit mächtigen Geweihen. Eines von ihnen wird von der Herde abgesondert und getötet, eine weitere Schlachtung beginnt, und nach der Erlegung des Wals und der Robbe kommt man nicht umhin zu denken: bitte nicht schon wieder … Aber diesmal machen Ottinger und der Film es kürzer. In diesem Abschnitt scheint sich „Chamissos Schatten“ vor allem für die Spuren zu interessieren, die der Sowjetkommunismus in der Lebenswelt der Tschktschi hinterlassen hat. Überall gibt es noch hauswandfüllende Propagandabilder, wir sehen ein aus Rentierfell gefertigtes Lenin-Porträt ebenso wie Verweise auf den 9. Mai 1945, den „Tag der Befreiung“, allüberall. Dem Ende des Kalten Krieges ist es zu verdanken, dass es nun den von Amerikanern und Russen gemeinsam initiierten Naturschutzpark Beringia gibt, der die Kultur der dort lebenden Völker bewahren soll. – Ich selbst stelle fest, dass es mir bei allem Interesse in diesem Abschnitt immer schwerer fällt, das Geschehen auf der Leinwand mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu verfolgen: Zwölf Stunden Kino, das ist ein Gewaltakt, und obgleich ich sehr glücklich bin, diesen großartigen Film auf exakt diese Weise zu sehen, muss ich doch auch feststellen, dass es Momente gibt auf dem langen Weg, den ich heute mit Ulrike Ottinger zurücklege, in denen ich ums Weitermachen kämpfen muss. Aber so ist das wohl auf jeder großen Expeditionsreise.
23:42 Uhr, geschafft!
Im großen Saal im Haus der Berliner Festspiele hat es sich inzwischen merklich ausgedünnt: Erwartungsgemäß waren nicht alle Zuschauer*innen den Strapazen der langen Reise gewachsen. Gleichwohl, es sind sicher noch mehr als hundert Menschen anwesend, nach fast 14 Stunden inklusive der drei Pausen scheint mir das bemerkenswert. Und, um ein im Film zitiertes Sprichwort aus Kamtschatka zu zitieren: „Wir sind wenige, aber wir tragen Matrosenhemden.“ Auch in den letzten Abschnitt des Films schreiben sich zunehmend Zerfallserscheinungen ein. In den Aufzeichnungen Stellers hören wir, wie immer mehr von Berings Männern am Skorbut zugrunde gehen. Und anstatt rituellen Schlachtungen am Strand beizuwohnen, sehen wir auf grell beleuchtete Fischtheken in russischen Supermärkten. Die soziale Realität auf der Bering-Insel – der Insel, wo das Schiff des Forschers strandete und wo er, wie der Großteil seiner Besatzung auch, starb – wird heute von einer korrupten Verwaltung und einem undurchsichtigen Handel mit Fischereilizenzen geplagt. Einigermaßen absurd mutet daher, nach all dem Gesehenen, die Frage im anschließenden Filmgespräch an, ob denn die Ureinwohner dort noch immer in einer Art ursprünglichen, naiven Unschuld vor sich hinlebten, oder ob sie nicht doch schon in der modernen Welt angekommen seien. Ulrike Ottinger wartet geduldig auf die nächste Frage und bringt den neugierigen, weltoffenen, unermüdlich immer weiter schauenden Gestus ihres selbst so definierten „Stationenkinos“ auf einen diesen langen Berlinale-Tag abschließenden Punkt: „Wir haben andere Bilder im Kopf. Die Dinge bedeuten oft etwas anderes.“
Im Rahmen der Berlinale 2016 war Ulrike Ottingers Film „Chamissos Schatten“ am 12. Februar 2016 einmalig in vollständiger Form im Haus der Berliner Festspiele zu sehen. Eine weitere Vorführung in drei Teilen wird am 4., 6. und 13. März im Haus der Kulturen der Welt stattfinden.