Das Projekt JungeReporter wendet sich an junge Leute ab 15 Jahren, die Lust am Schreiben haben. Sie müssen nicht unbedingt selbst ein Instrument spielen, malen oder gern auf der Bühne stehen, sondern es kommt auf die Neugier für alle Kunstformen an. Für das Berliner Festspiele Blog besuchen sie Proben und Veranstaltungen und schreiben darüber.

Menschen mit erwartungsvollen Gesichtern drängen sich vor dem Eingang in den Saal. Einlass ist über den Seiteneingang, man könnte fast sagen, die Hintertür. Kartenkontrolle, erste Schleuse. Ohrstöpselverteilung gegen die Lautstärke, zweite Schleuse. Erste gedämpfte Klänge dringen durch die Stahltür. Tür auf, Klangschwall, eintauchen. Es ist, als würde ich in den angesagtesten Club der Stadt gehen wollen und noch kurz vor dem Eingang zweifeln, ob die Türsteher nicht sagen: „Stop, nur für Special Guests!“ Tatsächlich befinde ich mich im Haus der Berliner Festspiele auf dem Eröffnungskonzert von MaerzMusik, dem Festival für Zeitfragen.

„Liquid Room“ – flüssiger Raum heißt das Konzertformat dieses Freitagabends. Das Publikum kann sich im Saal zwischen den drei abwechselnd bespielten Bühnen frei bewegen. Da sind Papp-Klapp-Hocker, mit denen sich jeder beliebig platzieren kann. Alternativ gibt es die einladend beleuchtete Tribüne, gesessen wird auch auf dem Bühnenrand oder dem Boden. Ich fühle mich frei, mich einfach treiben zu lassen. Hier ein wenig zu verweilen, jede Perspektive auszutesten. Ich messe den Saal mit meinen Schritten, meinen Blicken und noch viel mehr mit meinen Ohren. Hast du dich auch schon mal gefragt, wie ein Konzert direkt vor der Bühne klingt und ganz hinten, sodass du kaum noch sehen kannst, was vorn geschieht? Ob es einen Unterschied macht, ob du sitzt, stehst oder tanzt? Ich probiere es aus. Ich weiß, dass ich nicht Gefahr laufe, stirnrunzelnd von der Seite beäugt zu werden – denn alle anderen machen es genauso.

Es kommt immer wieder zum Stau, zum Beispiel dann, wenn alle gleichzeitig zur neuen Bühne streben, wie magisch angezogen, neugierig auf das, was dort passiert. Aber aus dem Stau bilden sich Stauräume, dann Freiräume. Es ist Platz für gelassene Bewegungen bis hin zu ausgelassenem Tanz und Jubelrufen. Die Musik schwebt über allen – doch da ist Luft für Geräusche, Gelächter, Gespräche darunter. Manchmal hängt dezent der Geruch von Bier oder Wein in der Luft. Smartphone-Displays schweben über den Köpfen.

Ich werde das Gefühl, mich in einem Club zu befinden, nicht los. Allerdings habe ich noch nie ein in sich unterschiedlicheres Party-Publikum gesehen. Quergeschnitten durch alle Altersklassen, in Anzug und Krawatte bis zur Jogginhose, allein, zu zweit, in der Gruppe – sie alle eint der Spaß an der Musik, an Neuer Musik, sollte ich präzisieren. Doch auch hier stelle ich eine großartige Varianz fest: große Ensemblebesetzung und Solowerke, schräge Töne und schöne Melodien, rhythmische Beats und metrenfreie Phrasen, überlaute Klänge und zartleise Schwingungen – all das erlebe ich in den 4 Stunden Konzerterlebnis. Wahrscheinlich gerade deshalb wurde mir nie langweilig. Das beinahe kindlich anmutende Ausprobieren von Instrumenten in epischer Breite eröffnet neue Klangerfahrungen. Hast du schon einmal mehrere Minuten einer Triangel zugehört, einem großen Gong, einer Donnerröhre? Ich hatte zuvor nicht geahnt, wie spannend das sein könnte.

Der musische Dialog findet quer durch den Raum statt, über Bühnen, Ebenen, Leinwände und Lautsprecher. Einmal spielen die Musiker mit dem Rücken zum Publikum, weil sie ihre Partitur von der Wand ablesen und auch alle Zuschauer die Noten verfolgen können. Das Publikum klatscht artig zwischen den Stücken. Aber manchmal ist der Schluss nicht eindeutig, das Publikum zu früh oder nicht darauf vorbereitet, die Präsentationen fließen ineinander über. Selbst die Raumkonturen werden aufgehoben. Im Programmheft hieß es, die vierte Wand der Bühne würde fehlen – jetzt hebt sich eine Saalwand, während das Publikum zur entgegengesetzten Bühne gewandt ist. Dahinter erscheint ein weiterer Saal mit einer großen Leinwand. Fließend sind auch die Klänge, die Bewegungen, die Zeit. Bald schon habe ich kaum noch Zeitgefühl. Ich lebe von einem Stück zum nächsten, mein Blut pulsiert im Takt, wenn da noch einer ist, mein Herz bebt mit dem Boden. Nur auftauchen will ich nicht, aus diesem Treiben. Als ich mir nach zweieinhalb Stunden die erste Pause gönne, erwache ich wie aus einem Traum. Das Stimmengewirr scheint mir sehr laut, das Licht ziemlich hell, die Bewegungen hektischer. Dennoch tut mir der Kontrast gut, und nach einiger Zeit fällt es mir schwer, den Schritt zurück zu wagen. Diesmal kommt mir das Bild eines Freibads in den Sinn und die träge Frage: Soll ich noch einmal springen, noch einmal eintauchen und schwimmen?

Am Ende bin ich froh, es getan zu haben. Die letzte Konzertstunde ist ein zugleich intensives und entspanntes Klangerlebnis. Das Konzert endet punkt Null Uhr. Woher ich das so genau weiß? Weil in den letzten fünf Minuten die Uhrzeit gesungen wurde. Angesagt im 10-Sekunden-Takt, pulsierend gesteigert bis zum Schluss. Black.

Die Autorin Tabea Gesche besuchte den „Liquid Room“, der am 16. März 2015 MaerzMusik – Festival für Zeitfragen eröffnete.