Eigentlich vertragen sie sich ganz gut, die Film- und Theaterleute. Ob das daran liegt, dass das angereiste 3sat-/ZDF-Team bereits eine Vielzahl von Inszenierungen für das Fernsehen aufgezeichnet hat? Oder daran, dass der Anspruch, eine künstlerisch wertvolle Arbeit zu kreieren, in beiden Fällen der Gleiche ist?
Nicht das Gleiche sind auf jeden Fall die Vorbereitungen. Gleich zwei Vorstellungen von „89/90“ sind angesetzt – eine mit Publikum, eine ohne, an aufeinander folgenden Tagen. Dazu kommen An- und Abreise des Fernsehteams bzw. die technische Einrichtung und dann der Abbau. Damit umfasst das Projekt insgesamt vier Tage. Und das heißt, dass bereits am 25.4., dem Tag vor der Aufzeichnung der Inszenierung ohne Publikum, zwei Trucks um die Ecke des Schauspiel Leipzig biegen – ein Gerätewagen und ein Übertragungswagen (kurz: Ü-Wagen). Kabel werden verlegt und der Spielort wird in Augenschein genommen.
Am nächsten Tag geht es früh los für die Kolleg*innen von der Technik: Bereits um 6 Uhr startet der Aufbau des Bühnenbilds, und am frühen Nachmittag werden auch die 3sat-Kameras im Saal aufgebaut. Insgesamt 7 Stück sind es, die so im Saal verteilt werden, dass sie das Bühnengeschehen aus so gut wie jedem Winkel betrachten können, ergänzt durch die hausinterne Kamera des Schauspiel Leipzig. Natürlich sind bereits an diesem Punkt Entscheidungen der Regie zu treffen: Wird nur aus dem Saal gefilmt? Werden auch Handkameras eingesetzt? Filmt man auch von der Bühne in den Zuschauerraum?
Wir vom Social-Media-Team der Berliner Festspiele stoßen erst um 11 Uhr direkt vom Bahnhof kommend zur Truppe, treffen unsere Leipziger Kollegin Florence Römer und treiben uns als Trio Infernal ein wenig im Haus herum. Die Stimmung ist angespannt, aber nicht unangenehm, im Gegenteil: Das Haus vibriert, und wir versuchen einfach, möglichst wenig zu stören und ein paar Termine zu fixieren. Schnell merken wir, dass es keinen Sinn macht, für den heutigen Tag Interviews zu vereinbaren: Zu groß ist die Nervosität vor dem Dreh. Macht nichts: Wir spielen einfach Mäuschen während der Regiesitzung des Fernsehteams im Rangfoyer des Schauspiel Leipzig um 14 Uhr. Sofort fällt ein Riesenunterschied zu Regiesitzungen im Theaterbereich ins Auge: Hier ist es Thomas Vogel, einer der beiden Regieassistenten des Filmteams, der das Wort führt und die versammelten Kameraleute anhand von ausgewählten Szenen, die auf einem großen Bildschirm zu sehen sind, in das Stück und die Inszenierung einführt. Es geht viel um Kostüme und Positionen. Woran erkenne ich die Figuren? Wer tritt wann auf und wie schnell sind diese Auftritte? Wer bewegt sich wohin und gibt es einen Cue dafür? Zwischendurch und währenddessen erläutert Regisseur Andreas Morell sein Konzept für die Aufzeichnung der Inszenierung.
Gleich nebenan laufen zeitgleich weitere Vorbereitungen: Im Turmzimmer hat sich das Produktionsbüro eingerichtet, u.a. mit 3sat-Redakteur Wolfgang Horn und Produktionsleiterin Uta Bellmann. Wir schleichen uns um 15 Uhr raus aus der Regiesitzung und hinein in die Chorprobe im Garderobenfoyer, wo Daniel Barke mit über 30 Sänger*innen ausgewählte Sequenzen aus dem umfangreichen musikalischen Repertoire der Inszenierung probt. Er tut dies mit vollem Körpereinsatz und einer Leidenschaft, die später auch auf der Bühne zu sehen ist.
Doch auch hier verweilen wir nicht allzu lange: Wir suchen Wolfgang Horn, um ihm zu fragen, ob wir jemandem aus dem Kamerateam während der Aufzeichnung über die Schulter schauen und auch einen Blick in den Ü-Wagen werfen dürfen. Auf dem Flur läuft uns Andreas Morell über den Weg, den wir gleich um ein Interview bitten, das wir am nächsten Tag mit ihm und Claudia Bauer, der Regisseurin des Stücks, führen möchten. Beschwingt durch die Zusage in der Tasche laufen wir wieder hoch ins Turmzimmer. Wie viele Schritte wir bisher zurückgelegt haben, kreuz und quer durch das Schauspiel Leipzig? Keine Ahnung. Aber es müssen eine Menge gewesen sein, denn das Verlangen nach Zucker oder wenigstens Koffein wird langsam übermächtig. Egal, erstmal zu Wolfgang Horn. Beide unserer Anfragen gehen klar, und außerdem zeigt und Regieassistentin Johanna Hasse auch noch das Dreh- bzw. Konzeptbuch für die Aufzeichnung der Inszenierung! Große Freude bei uns und kurz Zeit, um in der Kantine zu verschnaufen.
Auf der Bühne ist inzwischen einiges los: Der Chor und die Spieler*innen stecken mitten im Soundcheck, während noch letzte Lichtkorrekturen vorgenommen werden. Denn die Fernsehkameras benötigen intensiveres Licht für die Aufzeichnung, was eine eigene Lichtprobe mit der Anpassung der bestehenden Licht-Presets des Schauspiel-Leipzig-Teams notwendig macht. Wir nehmen hinter Kamerafrau Gisela Dienersberger Position ein und beobachten die kurz darauf folgende Aufzeichnung der ersten Hälfte der Inszenierung, die fast ohne Unterbrechungen vonstattengeht. Uns fallen die extreme Konzentration Giselas auf – und manchmal uns überraschende Kameraschwenks. Was geht hier vor?
Nach 1,5 Stunden stehlen wir uns aus dem Saal, um einen Blick in den Ü-Wagen zu werfen. Nur einer von uns kann rein: aus Platzgründen! Und tatsächlich ist der Ü-Wagen proppenvoll – nicht so voll, dass man sich nicht mehr darin bewegen könnte, aber mindestens 10 Menschen sind hier gleichzeitig am Arbeiten, auf engstem Raum. Eine Vielzahl von Bildschirmen flimmert an den Wänden. Sie zeigen live alle Kamerabilder, die im Saal aufgenommen werden. Andreas Morell führt zeitgleich Regie und einen ersten Rohschnitt durch – er ist via Funk mit allen Kameraleuten verbunden, dirigiert die Kameras und wählt mit ruhiger Stimme die Kamera aus, die gerade das spannendste Bild liefert. „Achtung für die 5, auf die 2, auf die 7 …“ – fast beruhigend ist es, diesen Anweisungen zu lauschen. Und nun erklärt sich auch, warum Gisela manchmal für uns überraschend agiert hat – denn nicht immer geht es gemütlich zu im Ü-Wagen. „Folge ihr!“ ist da auch mal zu hören, und „Näher ran!“. Parallel dazu ertönt die Stimme von Thomas Vogel, der die Kameraleute auf Positionswechsel der Spieler*innen aufmerksam macht. Und auch Claudia Bauer, die Regisseurin der Theaterinszenierung, ist mit dabei im Ü-Wagen und macht auf Details und Besonderheiten einzelner Szenen aufmerksam. Es kommt nicht häufig vor, dass die Theaterregisseur*innen bei den Fernsehaufzeichnungen mit im Ü-Wagen sitzen, erklärt uns Andreas Morell später – aber es sei so gut wie immer eine große Bereicherung!
Es ist spät geworden: Um 22 Uhr ist Drehschluss, und wie das gesamte Team sind auch wir ziemlich geplättet. Aber hilft nichts: Wir sichern noch das heute gesammelte Material, bereiten den einen oder anderen Post vor und machen uns dann hungrig auf die Suche nach einem Restaurant, das noch warme Küche bietet. Um 1 Uhr sind wir im Bett – erschöpft, aber zufrieden.
Am nächsten Tag treffen wir uns vormittags mit unserer Social-Media-Kollegin Florence und sichten das gestern gesammelte Material. Unmengen an Fotos und Videos sind entstanden – in die erste Vorauswahl schaffen es knapp 300 Elemente, wie wir dann auf gut 30 reduzieren. Und es geht gleich weiter: Interviewtag! Um 13:30 Uhr treffen wir Claudia Bauer und Andreas Morell zu einem Doppelinterview im Ü-Wagen und sind begeistert von der Offenheit und angenehmen Art der beiden Regieleute. Uns interessieren vor allem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Fernseh- und Theaterregie, und tatsächlich bekommen wir neben einem Einblick in die Arbeits- und Denkweisen der Beiden als Gimmick noch Claudia Bauers Hund dazu, der sich auf dem Schoß von Andreas Morell einrollt und so dem Ganzen eine fast häusliche Atmosphäre gibt.
Nach dem Gespräch stürzen wir hoch ins Turmzimmer, um Wolfgang Horn und Uta Bellmann zu einem Interview zu bitten. Denn was macht eigentlich ein Fernseh-Redakteur? Und was sind die Aufgaben einer Produktionsleiterin beim Fernsehen? Sofort stellen wir fest, dass wir es hier mit zwei begeisterten Theatergängern zu tun haben, und man könnte stundenlang sprechen über Inszenierungen, gemeinsame Interessen und Wünsche, aber das geht nicht: Wir müssen weiter!
In diesem Fall ins Büro der Öffentlichkeitsarbeit, wo uns Rebecca Rasem, die Leiterin der Abteilung, einen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt hat. Wir posten, sortieren, bereiten vor. Dazwischen das nächste Interview: Chorleiter Daniel Barke ist da, und wir fangen ihn ab, bevor seine Probe beginnt. Wieder fällt uns die unendliche Energie des Musikers auf, und aus den zwei Fragen, die zu stellen wir uns vorgenommen haben, werden fünf oder sechs. Und inzwischen werden einzelne Szenen auf der Bühne nachgedreht, und wir wollten eigentlich noch mit dem Schauspieler Wenzel Banneyer, dem Erzähler in „89/90“, sprechen! Den Plan müssen wir verwerfen – zu knapp ist die Zeit zwischen dem Ende des Nachdrehs und dem Beginn der Abendvorstellung: Schließlich müssen die Schauspieler*innen noch in die Maske und zwischendurch auch mal Pause haben. Wir machen uns auf die Suche nach Gisela Dienersberger, um sie um ein Kurzinterview zu bitten. Wo könnte sie sein? Wir eilen durch die Gänge des Schauspiel Leipzig, die Treppenhäuser, die Kantine, das Konferenzzimmer, das Garderoben- und Rangfoyer, den großen Saal. Und verschieben das Interview in die Stückpause – denn der Publikumseinlass hat bereits begonnen! Während das Stück läuft, posten und twittern wir, was das Zeug hält – und rennen schließlich, nach unserem Pauseninterview mit Gisela und einem großen Dankeschön an Florence und die Teams von 3sat und Schauspiel Leipzig zum letzten Zug nach Berlin.
Was sind also die Unterschiede zwischen Film- und Theaterarbeit? Was haben wir mitgenommen aus diesen beiden vollgepackten Tagen? Erstens und vor allem die schöne Erkenntnis, dass am Theater und im Film zwar mit unterschiedlichen Medien umgegangen wird, der Kern der Arbeit aber der Gleiche ist – Teamarbeit. Eine Gruppe von Menschen arbeitet auf ein gemeinsames Ziel hin und bleibt dabei nicht isoliert: Denn am Ende der Drehzeit ist aus dem Theater- und dem Filmteam längst ein einziges großes Team geworden, das zusammenarbeitet und sich gegenseitig stützt. Und zweitens, angeregt durch ein leichtes Ziehen in der Schultergegend, haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass ausgiebige Social-Media-Arbeit jedes Fitnessprogramm ersetzt. Und drittens nehmen wir mit: Schöne Erfahrungen, angenehme Begegnungen und spannende Einblicke in die Filmarbeit.
Danke an die Kolleg*innen vom Schauspiel Leipzig und die Kolleg*innen von 3sat/ZDF für ihre Unterstützung und die tolle Zusammenarbeit.