In den letzten Wochen häuften sich in allen Medien Berichte über eigentümliche Verhaltensweisen von jüngeren und auch nicht mehr ganz so jungen Menschen. Mit einem Smartphone ausgestattet zogen sie durch Bahnhofshallen oder Fußgängerzonen, sammelten sich auf Markt- oder Dorfplätzen, blockierten Brücken und Bürgersteige oder stürmten Geschäfte, bisweilen Kirchen sowie andere öffentliche wie nicht-öffentliche Gebäude. Es handelte sich dabei weder um neuartige Protestformen noch um Demonstrationen für ein bestimmtes politisches oder soziales Anliegen, es handelte sich schlicht um „Pokémon Go“-Spieler auf der Suche nach den „Pocket Monstern“, deren Kurzform „Pokémon“ dem Spiel den Namen gab.

„Pokémon“ war in den späten 1990er Jahren eines der erfolgreichsten Videospiele auf Nintendos Gameboy und verkaufte sich bis heute mehr als 200 Millionen Mal, es gab zudem eine Fernsehserie, zahlreiche Kinofilme sowie höchst erfolgreiche Sammelkartenspiele mit den kleinen Monstern. „Pokémon Go“ nun mobilisiert die niedlichen Monster und auch die Spielenden: Die Standort-Erkennung (GPS) des Smartphones registriert den genauen Standort des Nutzers und überblendet mittels „Augmented Reality“-Technik bei aktivierter Handykamera das Bild der realen Welt mit Darstellungen der kleinen Monster, die darauf warten, von den Spielern gefangen zu werden. Die Spieler können die Pokémon nur sehen, wenn sie in ihrer Nähe sind. Dabei reagieren die virtuellen Monster durchaus auf die reale Umgebung, so tauchen Wasser-Pokémon vor allem in der Nähe von Flüssen oder Seen auf.

Ein Straßenschild in Fontainebleau, Florida warnt vor dem „Pokémon Go“-Spielen am Steuer. © CC-BY SA 4.0, Foto: Cyclonebiskit

In Düsseldorf wurde die Girardet-Brücke wegen des hohen Spieleraufkommens zeitweise für den Verkehr gesperrt, in Niedersachen verirrten sich ins Spiel vertiefte Teenager auf einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr und gerieten, den Kopf aufs Handydisplay gesenkt, in eine Schießübung mit scharfer Munition. Und in den nie um einen pädagogischen Ratschlag verlegenen USA leuchtet Autofahrern über den Highways der Hinweis entgegen: „POKEMON GO IS A NO-GO WHILE DRIVING“. Die mehr oder weniger skurrilen Anekdoten, was alles beim „Pokémon Go“-Spielen passieren kann (vom Verkehrsunfall über den Hausfriedensbruch bis zum Fund einer Leiche) sind Legion und beleben eine diskursive Hysterie und einen medialen Hype, der technisch vermittelte Immersionserfahrungen schon immer begleitet hat, egal ob es sich im 19. Jahrhundert um die Panoramen und Dioramen handelte, im 20. Jahrhundert ums Kino oder Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts um Virtuelle Realität.

Der vermeintliche neueste, ultimative Schrei entpuppt sich mithin als leicht veränderte Wiederkehr des Vergangenen. Auch die Untergangsvisionen und beflissenen Kommentare, die derart immersive, das heißt Spieler oder Betrachter ganz in eine künstliche, virtuelle Realität hineinziehende Medien und Formate provozieren, erweisen sich als erstaunlich hartnäckige Vorurteile und medienkritische Stereotype, die so oder so ähnlich schon öfters erzählt bzw. beschworen wurden. Gerade angesichts des jüngsten „Pokémon Go“-Hypes also erscheint ein Blick in die Kulturgeschichte immersiver Erfahrungen und Techniken ratsam.

Was ist Immersion?

Immersion leitet sich vom lateinischen Verb immergere her, das ursprünglich das Eintauchen eines Körpers oder Gegenstands in eine Flüssigkeit bezeichnet und im übertragenen Sinn das Sich-Versenken, Sich-Vertiefen in eine bestimmte Situation. Während Immersion im Deutschen erst seit kurzem gebräuchlich ist, wird der Begriff im Englischen schon lange benutzt, um das (vollständige) Eintauchen in (künstliche) Welten oder Zeichensysteme zu beschreiben. Klassische Immersionserfahrungen sind beispielsweise die christliche Taufe oder auch der Spracherwerb, wenn Personen, zumeist Kinder, in ein fremdsprachiges Umfeld versetzt werden, um die Sprache zu lernen.

In den letzten Jahrzehnten waren Diskurse und Theorien der Immersion insbesondere im Zusammenhang mit Film, Video, Computerspiel und anderen medientechnischen Entwicklungen virulent. Allerdings ist nachdrücklich zu unterstreichen, dass Immersion keineswegs ein Signum der jüngeren Gegenwart darstellt oder gar ein Charakteristikum medientechnischer Errungenschaften ist. Im Gegenteil – wir können ganz in das reichlich „alte“ Medium eines Buches versunken sein (im Englischen ist die Leserin oder der Leser „immersed in a book“) oder wir vergessen Zeit und Umgebung bei der Betrachtung eines Gemäldes.

„Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz. Sie ist eine Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens und keine Ästhetik der kühlen Interpretation. Und: sie ist eine Ästhetik des Raumes.“
Laura Bieger „Ästhetik der Immersion“

Michel Foucault hat in seinen vielbeachteten Überlegungen zu „Anderen Räumen“, in denen er das Konzept der Heterotopie entwickelt, das 19. Jahrhundert als Epoche der Zeit, der Geschichte, des Fortschritts und des Denkens in historischen Prozessen charakterisiert, während er demgegenüber das 20. Jahrhundert als Epoche des Raums, der Platzierung, des gleichzeitigen Nebeneinanders und der Vernetzung bestimmte. Diese zentrale Rolle des Raumes, räumlicher Platzierungen und damit auch körperlicher Situierungen wird von den zahlreichen „Immersionsangeboten“ in der mediatisierten Alltagskultur ebenso aufgenommen wie in der Kunst. Immersive Formate und Situationen bilden derzeit einen markanten Teil der Ästhetisierung der Lebenswelt, die unsere Gegenwart in Ökonomie, Politik, Freizeitverhalten und Privatleben gleichermaßen prägt.

Für die Erfahrung der tiefen Versunkenheit, der intensiven Immersion ist insbesondere das Moment der Distanz, des Bruchs konstitutiv. Mit anderen Worten: vor allem die Spannung zwischen dem Ein- und Auftauchen in eine Situation oder eine (virtuelle, künstliche) Welt prägt die Immersionserfahrung. Gleichwohl gehört es zum Mythos der Diskurse des Immersiven, einseitig Erfahrungen des Eingetauchtseins, des vollkommenen Gebanntseins in einer anderen Welt zu betonen und das für das Erleben dieser Erfahrungen wesentliche Moment der Distanz und des Rahmenbewusstseins häufig zu unterschlagen. Entsprechend sind die eingangs referierten Beschreibungen von „Pokémon Go“-Spielern als scheinbar ausschließlich und beständig ins Spiel versunken nur ungenaue und einseitige Mythisierungen der stattfindenden Wahrnehmungs- und Erlebnisprozesse.

Insbesondere in künstlerischen Zusammenhängen wird deutlich, dass die bloße Hingabe an die Illusion, die Bereitschaft, sich verführen zu lassen und sich distanzlos der Sogwirkung einer Illusion emphatisch hinzugeben zur Erklärung immersiver Situationen und Erfahrungen nicht hinreicht: vielmehr geht es um eine subtile Choreografie von Eintauchen und Auftauchen, also ein Zusammenspiel von Illusionierung und Desillusionierung.

Immersion und Theater, eine lange Geschichte

Nicht erst der Begriff der Choreografie und auch nicht erst die Betonung räumlicher Dimensionen lässt an Theater denken. Überhaupt kann das Theater von Anbeginn an geradezu als Dispositiv der Immersion aufgefasst werden. Das erscheint auf den ersten Blick überraschend, verbinden wir mit Theater doch häufig die Vorstellung einer klaren Aufteilung und Abgrenzung von Bühnengeschehen und Publikumsraum und bescheinigen wir der kundigen Theatergängerin gerne die Rezeptionshaltung reflektierter, ästhetischer Distanz – mithin das Gegenteil von Immersion.
Dies liegt daran, dass unser Theaterverständnis nachhaltig geprägt ist von dem – mit Lessing gesprochen – „Theater des Herrn Diderot“. Trotz der Innovationen der Avantgarde-Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, trotz der Entgrenzungen in den Künsten des gesamten 20. Jahrhunderts, und auch trotz der Herausbildung der Performance-Kunst, des Postdramatischen Theaters sowie zahlreicher weiterer transgressiver, intermedialer wie interartiver performativer Formate Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts denken nicht wenige, auch kunst- und theateraffine Menschen bei Theater häufig noch immer zuerst an das dramatische bürgerliche Theater der Guckkastenbühne. Doch ein Blick in die Theater- und Kulturgeschichte zeigt, dass es sich bei dieser spezifischen Form des Kunsttheaters und der mit ihr assoziierten Rezeptionsform eher um eine – durchaus erfolgreiche – historische Ausnahme denn um die Regel handelt. Weit häufiger nämlich scheint man sich im Theater hemmungslos dem Geschehen hingegeben, in es quasi hineingesogen und von ihm verführt worden zu sein.

Ein kursorischer und unvollständiger historischer Abriss vermag das kurz zu verdeutlichen: Das antike griechische Theater bezeugt schon mit seiner baulichen Einbettung in die Landschaft, mit dem Blick des Zuschauers, der über Orchestra, Skene und landschaftliche Umgebung bis übers Meer schweifen konnte – Siegfried Melchinger hat das Meerbewusstsein als zentrales Moment des griechischen Selbstverständnisses herausgestellt – und mit der ausgeklügelten akustischen Verdichtung die kultisch-religiös-politische Dimension des damaligen Theatererlebnisses.

Für die Passionsspiele des Mittelalters, die mit einem ganz anderen räumlichen Setting und mit biblischen Geschichten als Inspirationsquellen der Darstellung arbeiteten, ist verbürgt, dass schauspielerische Darstellungen des Teufels als besonders problematisch galten, ging doch die weitverbreitete Auffassung und Angst um, der teuflische Charakter würde gleichsam den Schauspieler kapern und seine Persönlichkeit korrumpieren. Vergleichbare Befürchtungen (oder auch, je nach Perspektive, Hoffnungen) der „Ansteckung“ von Figur und Schauspieler*in, aber auch von Schauspieler*in und Zuschauer*in durchziehen als Überreste einer rhetorischen Wirkungsästhetik, die ein analoges und reziprokes Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern postuliert, die Theatergeschichte noch bis ins 20. Jahrhundert und feiern selbst in jüngeren Überlegungen zur Wirksamkeit von Theater beispielsweise in der Theaterpädagogik fröhliche Urstände.

Als ein Höhepunkt theatraler Immersion kann zweifellos das Barocktheater des 17. Jahrhunderts gelten, das mit ausgefeilter Bühnentechnik und Bühnenmaschinerie Bühnen unter Wasser setzte und mit hohem technischen Aufwand, Körpereinsatz unsichtbarer Bühnenarbeiter und perspektivischen Kulissen verzauberte Inseln, paradiesische Gärten und Phantasiewelten herstellte, in die sich die Theaterzuschauer geradezu hineinversetzt, hineingezogen fühlten. Unzählige Beschreibungen sind überliefert, in denen die Zeitgenossen verzückt und ergriffen den geradezu wundersam und magisch erscheinenden Realitätseindruck der Theaterszene als ununterscheidbar zu wirklich existierenden Gärten, Schlössern oder Innenräumen charakterisierten.

Doch nicht nur die visuelle Dimension von Theater, auch die akustisch-auditive Dimension wurde geschickt für die umfassende affektive Involvierung des Publikums genutzt. Im Bereich der Theaterkünste gehört entsprechend die Oper mit ihrer Fetischisierung der Stimme und des erotisierten Genusses stimmlich-musikalischer Darbietungen in einem hochartifiziellen Setting zu den besonders immersiven Theaterformen. Auch die Überlegungen zum Gesamtkunstwerk, die nicht erst mit Richard Wagner in der Theater- und Kulturgeschichte Konjunktur haben, zielen auf die Tilgung der Grenze zwischen künstlerischem Artefakt und Realität.

Im 18. Jahrhundert betont das bürgerliche Theater eines Diderot in Frankreich und eines Lessing in Deutschland das theatrale Potential der Illusionierung. So führt Diderot die so genannte Vierte Wand als Theatermittel zur Herstellung von Unmittelbarkeit ein:

„Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen, an den Zuschauer ebensowenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne ein große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.“
Denis Diderot, „Das Theater des Herrn Diderot“

Weil die Schauspieler auf der Bühne so agieren, als würde niemand sie beobachten und als wären sie sich der Situation des Betrachtet-Werdens nicht bewusst, werde der Zuschauer, als unbeachteter und ignorierter Zeuge des Bühnengeschehens, gänzlich in dieses Geschehen hineingezogen. Als Spannungsverhältnis von Absorption und Theatralität hat der Kunsthistoriker Michael Fried diese Dialektik kritisch bezeichnet.

Im Zeitalter der Empfindsamkeit wurden ein christlich grundiertes Mitleid und eine daraus resultierende Sensibilität für die Schönheit sowohl von Natur als auch von Kunst zur wesentlichen Fähigkeit des Bürgers deklariert. Entsprechend erklärte Gotthold Ephraim Lessing in einem Brief an Friedrich Nicolai im November 1756: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste.“ Nach der Uraufführung von Lessings „Miß Sara Samson“ im Exerzierhaus in Frankfurt/Oder am 10. Juli 1755 schreibt Karl Wilhelm Ramler, der im Publikum anwesend war, „die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen und geweint“.

Und auch das 20. Jahrhundert ist trotz der historischen Avantgarde-Bewegungen keineswegs ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters, wie Bertolt Brecht dies postulierte. Während Brecht dem zu seiner Zeit noch immer vorherrschenden immersiv-illusionistischen Theater der Einfühlung und Identifikation den Kampf ansagte und mit seinem epischen Theater auf Distanzierung, Reflexion, Verfremdung und Ausstellung der Theatermittel setzte, optierte sein französischer Zeitgenosse Antonin Artaud für die gegenteilige Vision. Der Theaterrevolutionär forderte ein totales Theater, das den auf Drehstühlen sitzenden Zuschauer auf allen Seiten des Raumes umgibt. Dieses Theater sollte wie ein elektrisches Seelenbad sein, es sollte „den Zuschauer stofflich einhüllen, ihn beständig in einem Bad von Licht, Bildern, Bewegungen und Geräuschen festhalten.“ (Artaud, Das Theater der Grausamkeit) Die Wirkung sollte entsprechend schmerzhaft, schockierend und „grausam“ sein – grausam nicht im Sinne von blutig oder blutrünstig, sondern im Sinne von wahrnehmungsphysiologisch wie kognitiv irritierend, verstörend und grundstürzend.

Als vorletzte Station dieser kurzen Geschichte der Immersion im Theater könnte dann die Performance-Kunst seit den 1960er Jahren genannt werden. Hier wich die repräsentative Ästhetik des Als-ob einer Ästhetik der Präsentation des Hier und Jetzt im Hier und Jetzt. Nicht nur wurden die Räume des institutionalisierten Theaters zugunsten von Galerien, Museen, Ateliers oder öffentlichen Plätzen verlassen, auch die Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum ebenso wie diejenige zwischen Akteuren und Zuschauern wurde aufgehoben. Wer in Yoko Onos „Cut Piece“ (1964/65) mit der bereit liegenden Schere dazu beitrug, die Performerin zu entkleiden und zu entblößen, der war kein ästhetisch distanzierter und zurückgelehnt im Theatersessel das Geschehen bloß beobachtender und beurteilender Zuschauer mehr, ebenso wenig wie das Publikum, das zum Zeugen der unzähligen Ausdauer-, Selbstverletzungs- und Körperperformances von Performer*innen insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren wurde. Hier befand man sich plötzlich nicht mehr in einer klar abgegrenzten künstlerischen Situation mit festgelegten Zuständigkeiten, Verhaltensregeln und Konventionen, hier befand man sich plötzlich in einer Situation, die vom Publikum konkretes Eingreifen, aktive Beteiligung oder auch ein Einschreiten gegen die Selbstgefährdung der Performer*innen erforderte.

Immersives Theater

Kommen wir nunmehr zur derzeit letzten Station in diesem passagenartigen und daher verkürzten historischen Durchlauf zum Verhältnis von Theater und Immersion. Was zeichnet immersive Theaterformen aus, die in den letzten 10 bis 15 Jahren entwickelt und breit rezipiert wurden? Mehr noch: Was ist immersives Theater?

Immersives Theater – dieser Begriff ist hier nicht als Gattungsbegriff gemeint, wie die englische Bezeichnung immersive theatre, sondern als Charakterisierung einer bestimmten Spielart der performativen Gegenwartskunst. Immersive Theaterformen bespielen häufig urbane Räume, welche nicht als Orte von Kunst institutionalisiert sind, wie leerstehende Fabrik- oder Bürogebäude, Brachflächen, U- oder S-Bahn-Bögen etc. Sie kombinieren Darstellungsmuster aus Schauspiel-, Performance- und Installationskunst mit Elementen aus der Populärkultur, aus Film, Fernsehen und Unterhaltungsindustrie, aber auch mit Elementen aus der Arbeitswelt, dem Gesundheitssystem, der Psychotechnik, der Rechtsprechung und Bürokratie oder auch der Sexindustrie. In durchgestalteten, atmosphärisch dichten Räumlichkeiten, die nicht nur visuell, sondern auch akustisch, olfaktorisch, gustatorisch und materiell bezüglich der verwendeten Gegenstände, Stoffe und Texturen einen ganzheitlichen Wahrnehmungseindruck erwecken und perfekt durchinszeniert sind, werden begehbare Parallelwelten erzeugt, in denen sich die Besucher häufig für mehrere Stunden aufhalten, wobei sie mit den Performern ebenso wie mit anderen Besuchern interagieren (können) und bisweilen auch müssen.

Prägnant könnte man die unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen immersiven Theaters wie folgt auf den Begriff bringen: es mobilisiert die Zuschauer in einem umfassenden Sinn und es schafft die Bühne als einen klar abgegrenzten, besonderen Ort ab, ja totalisiert sie. Damit befragt immersives Theater die Grundbedingungen von Theater überhaupt: Was ist, woraus besteht, und was charakterisiert diesen gemeinsamen, geteilten Raum des Theaters, der ja immer von Topographien und Hierarchien durchzogen ist? Was ist das für ein Publikum – und ist das überhaupt noch ein Publikum? –, das da zum Teilnehmer, zum Zeugen, zum Komplizen und häufig gar zum Akteur des Geschehens wird und in dem plötzlich jeder Einzelne für sein Theatererlebnis selbst verantwortlich zu sein scheint? Was für eine Gemeinschaft – wenn man hier überhaupt von Gemeinschaft sprechen kann – bildet diese temporäre Zufallsgemeinschaft einer Aufführung, in der Einzelne zudem in sogenannten one-to-ones ausgewählt, zufällig oder auch aus bestimmten, zumeist nicht ersichtlichen Gründen isoliert und separiert werden? Dies geht so weit, dass manche Aufführungen, beispielsweise der belgischen Gruppe Ontroerend Goed, nur noch mehr oder weniger intime Begegnungen zwischen einem Performer und einem Zuschauer konstellieren, so dass das Publikum nicht mehr als temporäres Kollektiv erscheint, sondern vielmehr einer kollektiven Vereinzelung Vorschub geleistet wird. Und von welcher Aufführung können wir hier überhaupt noch gemeinsam sprechen, wenn es die Aufführung gar nicht mehr gibt, sondern nur jeweils höchst individualisierte und partielle Aufführungserfahrungen, deren Differenz darauf beruht, dass nicht nur jede Zuschauerin und jeder Zuschauer anders wahrnimmt, sondern dass jede Zuschauerin und jeder Zuschauer auch wirklich etwas anderes im Sinne von: ein real und objektiv anderes Geschehen wahrnimmt?

So unterschiedliche, zwischen den Künsten und Gattungen angesiedelte Produktionen wie Rimini Protokolls „Situation Rooms“, Mona el Gammals „HAUS//NUMMER/NULL“, Interrobangs „Callcenter Übermorgen“, Signas „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ oder auch die rezenteren „Söhne & Söhne“ oder „Wir Hunde“ können als Beispiele immersiver Theaterformen angeführt werden. Auch Arbeiten u.a. von Artangel, Blast Theory, Lundahl & Seitl, den schon genannten Ontroerend Goed, Punchdrunk, Shunt, Slung Low, You Me Bum Bum Train oder Zecora Ura sind als immersives Theater beschrieben worden.

Spezifisch für Immersionserfahrungen ist ihre Intensität sowie ihre körperliche Dimension, egal ob es sich um Desorientierung, Schwindel, Schock oder auch (den Eindruck perfekter) Körperbeherrschung handelt. Dabei sind durchaus mediale wie historische Unterschiede von Immersionserfahrungen zu differenzieren. So scheinen sich künstlerische immersive Welten von außerkünstlerischen dadurch zu unterscheiden, dass scheinbar parallele immersive Welten des Konsums, der Arbeitswelt und des Computerspiels eher das Gefühl der Autonomie und Selbstversicherung befördern, während künstlerische Entwürfe demgegenüber eher dystopische, verunsichernde und irritierende Aspekte in den Vordergrund stellen. Ein Spezifikum immersiver Theaterformen ist dabei die konkrete körperliche Bewegung und Einbindung in einen real gestalteten Raum, nicht nur der wahrnehmungsphysiologisch und kognitiv erzeugte Eindruck, sich in einem gänzlich anderen Raum zu befinden.

Immersion als Symptom des neoliberalen Kapitalismus

Immersion ist ein zentraler Bestandteil der allumfassenden Ästhetisierung unserer Lebenswelt. Während die Künste häufig technische, mediale oder auch gesellschaftlich-soziale Entwicklungen vorwegnahmen und in experimentellen Settings erprobten, gilt für immersive Räume und Situationen, dass es sich bei ihnen kulturhistorisch zunächst um kultische Räume, ab dem 19. Jahrhundert dann vor allem um Räume des Konsums handelt. Literarische Zeugnisse belegen die Faszination und den Rausch, welchen die ersten Warenhäuser mit ihrer Möglichkeit, in die im Überfluss dargebotenen und ausgestellten Waren geradezu einzutauchen, auf die Zeitgenossen ausübten.

Ein beständiger Vorwurf begleitet immersive Situationen und Erfahrungen nicht nur des Konsums – nämlich der Vorwurf der anti-aufklärerischen Manipulation. Unabhängig davon, ob es sich um die Atmosphäre einer Shopping Mall, um cineastische Bildwelten oder um die Strategie eines Computerspiels handelt, das wahrnehmende und erlebende Subjekt wird vielfach als eines beschrieben, das sich dem verführerischen Sog nicht wirklich zu entziehen vermag, ja ihm geradezu ohnmächtig ausgesetzt ist. So nimmt es kein Wunder, dass auch „Pokémon Go“ als ultimative Verblendung kritisiert wurde. Der nie um starke Thesen verlegene Slavoj Žižek verglich das Smartphone-Spiel gar mit dem Mechanismus der nationalsozialistischen Ideologie. Statt die Menschen aus der realen Welt herauszureißen und in einen künstlichen virtuellen Raum zu führen, verbinde „Pokémon Go“ beide Welten miteinander, so seine Argumentation. Sowohl das Bild der Wirklichkeit als auch der Umgang mit ihr werde mithin nach dem Fantasiebild des Virtuellen, in diesem Fall des digitalen Bildschirms geformt.

Diesem Verdikt, insbesondere in seinem historischen Vergleich, muss man sich nicht anschließen. Zweifellos aber ist das kritische Potential einer Ästhetik der Immersion erst noch zu entwickeln. Ein Ansatzpunkt in unserer vernetzten, globalisierten Welt könnte sein, dass die künstlerische Gestaltung immersiver Räume dafür sensibilisieren kann, dass es einen gleichsam archimedischen Punkt der Weltbetrachtung, einen richtigen Standpunkt nicht mehr gibt und wie diese Vielzahl von Perspektiven und Positionen miteinander verwoben ist, bisweilen auch im Widerstreit miteinander liegt.

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