Wären The Tiger Lillies Vögel, so wären sie vermutlich keine stolzen Adler, sondern Spatzen, die mit schiefem Grinsen, einer langen Narbe über dem Auge und abgerissenen Schwanzfedern von der kopfsteingepflasterten Gosse aus die Tragikomödie Mensch kommentieren, während sie an einem undefinierbaren Lebensmittelüberrest herumpicken. Möchte man die klangliche und inhaltliche Gestalt der Tiger Lillies allerdings noch etwas anschaulicher beschreiben als mit der eines abgehalfterten Straßenvogels, so könnte man Martyn Jacques’ Gesang mit dem Klagelied eines Waschweibs vergleichen. Mit einer im heißen Wasserdampf nachlässig freiliegenden Brust und schwer und langsam im Takt von Jacques‘ Akkordeon oder Gitarre atmend erzählt das Waschweib Geschichten aus vergangenen Zeiten. Es streicht sich geduldig mit dem Handrücken immer wieder die Haare aus der feuchten Stirn und hält gelegentlich traurig inne, bevor es, getrieben von Adrian Stouts Bass und Mike Pickerings Schlagzeug, weiter schmutzige Wäsche wäscht.
The Tiger Lillies, Video: Mark Houlthusen
Seit ihrer Gründung haben The Tiger Lillies 35 Alben veröffentlicht, von denen einige die musikalische Grundlage für Musicals waren. Bei den Produktionen der Bandhandelt es sich überwiegend um Konzeptalben, die Bezug auf literarische Vorlagen nehmen. Die Liste der von The Tiger Lillies in die Sphäre von Melodie und Reim gestemmten Vorlagen liest sich wie ein tête-à-tête zahlreicher bekannter Renegaten der europäischen Literaturgeschichte. So werden etwa Bertolt Brechts „Mackie Messer“ (2001), Georg Büchners „Woyzeck“ (2011), William Shakespeares „Hamlet“ (2012) und Frank Wedekinds „Lulu“ (2014) zusammen mit anderen unter so vielversprechenden Titeln wie „Bad Blood and Blasphemy“ (1995), „Death and the Bible“ (2004), „Sinderella“ (2009) oder „Freakshow“ (2009) veröffentlichten Alben in das musikalische Kabinett des Dr. Caligari gestellt, und mit ihrer Vertonung von Ewald André Duponts von der Murnau-Stiftung frisch restauriertem Klassiker „Varieté“ wenden sie sich nun erstmals dem Genre der Stummfilmmusik zu.
© Murnau-Stiftung
In dem von Emil Jannings verkörperten Protagonisten hätten die Tiger Lillies, die im Rahmen der Berlinale zu Gast im Haus der Berliner Festspiele sind und ihre Neuvertonung des Films live vortragen werden, keinen besseren Verbündeten in ihrer Sache finden können: Der ehemalige Trapezkünstler „Boss“ Hully führt mit Frau und neugeborenem Kind ein beschauliches Leben als Schaubudenbesitzer in Hamburg, bis eines Tages der Funken erneut überspringt und er das Essen seiner Frau kalt werden lässt, um nicht seinem Kind, sondern sich selbst wieder das Laufen auf seinen einst bei einem Trapezunfall gebrochenen Beinen beizubringen. Als Mitglied eines Trio Mortale wagt er sich wieder in die Lüfte, die Hullys Feuer zu einem fatalen Flächenbrand anpeitschen und den Sturz in seinen eigenen menschlichen Abgrund dort enden lassen, wo er zum Absprung angesetzt hatte.
© Murnau-Stiftung
Martyn Jacques, der stets mit einem zu einer weiß-schwarzen Fratze geschminkten Gesicht auftritt, könnte glatt als Dr. Frank N. Furters kleiner, diabolischer Bruder durchgehen. Für das sensible Zuschauerherz kommt er so zwar etwas bürgerlicher gekleidet daher, praktiziert in seinen epischen Schauerballaden aber nicht weniger derbe und ungehaltene Agitation als der Sonderling aus dem transsexuellen Transsilvanien. So weiß man, wenn Adrian Stout mit dem Theremin den Beginn des Albums „The Rime of the Ancient Mariner“ (2012) einleitet, auch gar nicht so richtig, ob aus dem thereminschen Nebel gerade ein altes Geisterschiff auftaucht oder ob da nicht vielmehr ein UFO landet, das einen mit in vergessene Parallelheimaten nehmen soll.
Die restaurierte Fassung von „Varieté“ mit der Filmmusik der Tiger Lillies erscheint im Anschluss an die Premiere im Haus der Berliner Festspiele bei edel als DVD.