Fabian Hinrichs hat als diesjähriger Juror des Alfred-Kerr-Darstellerpreises Benny Claessens als Preisträger ausgewählt. Hier ist seine ungekürzte Laudatio zum Nachlesen!

Fabian Hinrichs © Piero Chiussi

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor wir zur Freude des Gebens und der Tugend des Annehmen-Könnens gelangen und vielleicht auch dorthin, wo es wehtut, möchte ich mich bei der Alfred-Kerr-Stiftung, bei Torsten Maß und bei Frau Dr. Deborah Vietor-Engländer, bei Peter Böhme, bei Prof. Dr. Peter von Becker, bei Herrn Dr. Günther Rühle und bei Dr. Thomas (Oberender) für das geschenkte Vertrauen bedanken, den diesjährigen Träger des Alfred-Kerr-Darstellerpreises auswählen zu dürfen. Bei einer auch von mir dann und wann besuchten Rhetorikvorlesung offenbarte der diensthabende Professor uns, den Studierenden, der erfolgreichste und kürzeste Weg, sich beim Halten einer Rede, einer Laudatio, die Gunst und das Wohlwollen der Zuhörenden zu sichern, sei es, folgendermaßen zu beginnen: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss.“ Ich möchte diesen Schluss aber nun doch noch ein ganz klein wenig ausdehnen. Warum sollte jemand Schauspieler sein, sein wollen, wenn er nicht die Kunst anderer Schauspieler würdigen kann? Warum sollte jemand Maler sein, wenn er nicht die Kunst anderer Maler würdigen kann? Sie merken schon, die Reizwörter Kunst und Schauspieler werden tatsächlich in einem Atemzug genannt und dann sozusagen zusammen in ein Separée gesperrt, damit sie sich paaren und hoffentlich auch vermehren können – etwas mehr also als bloß eine sanfte Andeutung der richtigen Antwort auf die wichtigste Frage für Schauspieler im 21. Jahrhundert: Bist Du Künstler oder arbeitest Du im Service?

Es gibt in der nearktischen und paläarktischen Region, also grob gesagt Nordamerika, Grönland undsoweiter und die Nordhalbkugel, einen Fisch namens Stenodus leucichthys, den Weißlachs, einen Speisefisch, mit festem, öligen, schmackhaften Fleisch. Der Weißlachs hat einen schön-rätselhaften Trivialnamen – er heisst auch „ l’inconnu“, „der Unbekannte“ Die Amerikaner machen daraus natürlich etwas Anderes, sie nennen ihn einfach „Conny“. Als den Europäern dieser Fisch aus Sibirien und Nordamerika bekannt wurde, erweckten die Schilderungen der Reisenden den Eindruck unerschöpflicher Schwärme. Mittlerweile weiß man, dass Riesenschwärme großer Fische in der Arktis wegen temperaturbedingt geringer Produktivität besonders leicht überfischbar sind. Aber noch einschneidender auf die Größe der Weißlachs-Populationen und auf seine allgemeinen Lebensbedingungen wirkten spätere Maßnahmen wie Flussregulierungen, Dämme, Sperren, Begradigungen, Wasserkraftwerke. Connys Fortbestand ist stark infrage gestellt worden, die Lage wird noch weiter durch die Weigerung von Conny, dem Inconnu, verschärft, „Aufstiegshilfen“ in den Flüssen anzunehmen. Sie ahnen vielleicht, worauf ich hinauswill: Es liegt auf der Hand, der Inconnu aus der Arktis, dieses in seinem Da-Sein bedrohte Tier ist das fischige spiegelbildliche Gegenüber, der Sosias des deutschen Schauspielers im 21. Jahrhundert. Hier Conny, der Weißlachs, dezimiert und zurückgehalten durch den Kampf mit Sperren, mit Regulierungen, Mauern, eine gefährdete schmackhafte anmutige wilde Tierart von eigener Schönheit, und dort sein humanoider Verwandter, der Schauspieler als Künstler, ungefähr seit Beginn der Renaissance in einzelnen Exemplaren ausgestattet mit einer ganzen Welt in einem Kopf und in einem Körper, gesellschaftlich zwar geächtet als liederlich, nach seinem Tod verscharrt an Uferböschungen, dessen Lebensräume aber der Himmel und das Darüber-Hinaus, das nach oben Gespannte waren. Der künstlerische Schauspieler ist nun heute aber ebenfalls inconnu, ruhmlos, ein Träger von Talenten ohne Heimat, gefangen in den Rückhaltebecken der Regiekonzepte, in den begradigten Wahrheiten der flachen Ästhetiken, in trostlosen Betonbecken moralischer Selbstgewissheit. Eine gefährdete Spezies, dessen besondere Gefährdung aber auch weitgehend inconnu sein dürfte, unbekannt. Gäbe es so etwas wie den Europäischen Gerichtshof für Theaterrechte, könnten nahezu alle Inszenierungen des diesjährigen Theatertreffens als Beweismittel für die Wahrhaftigkeit derjenigen Zeugenaussage Egon Friedells dienen, die er Anfang des letzten Jahrhunderts zu Protokoll gab: Theater und Militär, dem Anschein nach höchstens durch eine Konträrfaszination miteinander verbunden, sind in Wahrheit Verwandte, Brüder im Geiste, geworden. Der deutsche Schauspieler des beginnenden 21. Jahrhunderts könnte berichten: So kam ich unter die Theaterregisseure. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt?

Ich muss schon sagen, es war ziemlich anstrengend, einen jungen Alfred-Kerr-Preis-würdigen Schauspieler aufzuspüren, einen jungen Künstler, einen souveränen Schauspieler, keinen Dar-Steller und Dar-Geher und Dar-Steher, einen, den auch Alfred Kerr selbst vielleicht als Persönlichkeit ausgemacht hätte, keinen, der mit den Fingern schnipst, weil ihm gesagt wurde, er solle jetzt mal schnipsen. Und sie waren bestimmt auch da in diesem Jahr, auf der Bühne, bestimmt, ich hoffe es, aber sie waren nicht zu sehen, unsichtbar, inconnu, denn es herrscht anscheinend weitgehend ein stillschweigendes Auftrittsverbot für den künstlerischen Schauspieler (bis auf wenige kräftige mutmachende leitbildhafte Ausnahmen, die allerdings alle schon etwas betagter und somit zwar voller Zukunft sind, aber nicht für diesen Preis infrage kommen: Sophie Rois, Joachim Meyerhoff, Martin Wuttke zum Beispiel) und was Anderes bleibt dem heutigen deutschen Schauspieler zunächst (!) übrig, als sich zu fügen und sich die Uniform anzuziehen, die man ihm in den Spind gehängt hat, wenn er weiter in Lohn und Brot stehen muss. Es war anstrengend und diese Anstrengungserfahrung kann eigentlich nicht überraschen, denn es sind anstrengende Zeiten, auch am und im Theater, nicht zuletzt für Angehörige dieser alten selektionserfahrenen und dennoch stark gefährdeten Spezies der schauspielenden Künstler, der Schauspieler also. Und ich befürchte auch anstrengende Zeiten für ein Publikum? „Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen!“, sagte Friedrich Hölderlin Ende des 18. Jahrhunderts. Die deutschen Bühnendarsteller und Regisseure im Jahre 2018 aber bleiben beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen wenig Freies, Echterfreuliches. So wenig Freies. So wenig Echterfreuliches.

Auf meiner Suche nach dem souveränen Schauspieler mit einer Leitung nach oben begegnete mir preußischer Gehorsam, wohl als erschütterndes, durch die Generationen hindurch gewandertes Erbe des preußischen Militarismus, wackeres Soldatentum, man sah Menschen bei anstrengender Arbeit zu. Denn obwohl sich die Regisseure für die Übermittlung ihrer jeweiligen gut gemeinten Moralnachrichten eine teure abendliche Eskortbegleitung in Gestalt von massivem Einsatz von Ton und Gewerken, von Technik, von Kopfhörern, Verstärkern, riesigen Rädern, Visuals, Pauken, Zaubertricks und vokalem Extremsport engagierten, verschwimmt in der Rückschau das Meiste doch zu einer seltsam gleichförmigen Masse, den gleich aussehenden Autos auf unseren Straßen ähnlich. Und wo war der Schauspieler hin? Wo ist er hin? Gibt es ihn noch? Um nur zwei von unzähligen Beispielen zu nennen: Auf dem Theatertreffen vor zwei Jahren wird eine Podiumsdiskussion unter dem Titel abgehalten „Wovon wir sprechen, wenn wir vom Schauspielen sprechen“ und es ist nicht ein einziger Schauspieler auf diesem Podium anzutreffen, sondern ausschließlich irgendwelche anderen Leute. Inconnu! Und niemandem fällt es auf, niemand sagt etwas, niemand stößt sich daran. Man kann natürlich wie bei Markus Lanz eine Diskussion über „Wovon sprechen wir, wenn wir über Klavierspielen sprechen“ machen und dann Boris Becker und Frank-Walter Steinmeier einladen, aber sollte das Theatertreffen wirklich wie Markus Lanz sein? Zweites Beispiel: In diesem Jahr gab es eine Diskussion über Ästhetik im zeitgenössischen Theater und nicht ein einziger … Ich muss den Satz nicht zu Ende schreiben, zu Ende sprechen. Was ist da los? So sollte man nicht mit der ältesten Theaterkunst, der Kunst des Schauspielers, umgehen. Und so sollte man als künstlerischer Schauspieler nicht mit sich umgehen lassen, als wäre man ein Soldat, der in der Kaserne einsatzbereit auf Befehle zu warten hat, während die selbsternannten und so oft überforderten Offiziere im Kasino Pläuschchen halten. Dieses Identifikationsangebot sollte man ablehnen, wenn man Schauspieler ist. Die Tatsache, dass Schauspieler auch große Intendanten waren, und zwar während sie noch spielten (Kortner, Reinhardt, Weigel, Gründgens), wirkt heute wie eine Erinnerung, die nicht stimmen kann. Goethe, Moliére und Shakespeare waren Schauspieler. Aber eben nicht nur. Meine Damen und Herren, verstehen Sie mich nicht falsch, es ist ja klar: Wer nicht mitmacht, wird entlassen. Und dann wohl lieber ein künstlerisches Auftrittsverbot als gar nicht mehr aufzutreten, denn neben dem Ödipuskomplex gibt es ja auch noch den existenzielleren Komplex – den Geldkomplex.

Die Stimmung war also einigermaßen im Keller angelangt. „Und dann“ – zu meinem, zu unserem Glück – „und dann kam Benny“ (vielleicht sogar ein ganz pfiffiger Titel). Benny Claessens. „Mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun“. Benny Claessens kam, er sprach, er sang, er tanzte, er war einfach da (in „Am Königsweg“, Schauspielhaus Hamburg, Text Elfriede Jelinek, Regie Falk Richter). Inmitten all des entfremdeten, austauschbaren und nicht zu Ende sozialisierten, notgedrungen oder sogar freudig mitlaufenden Servicepersonals auf den Bühnen dieses Theatertreffens gab es jemanden mit Präsenz. Präsenz als erfahrbarer Unterschied zur Entfremdung. Der Begriff „Präsenz“ kommt vom lateinischen prae-esse und prae-esse meint „Berührbarkeit“. Benny Claessens ist in einem geradezu bedrohlichen Grade berührbar. Man schaut ihn an und da drängt er sich wieder auf, der zwischendurch verlegte, diskriminierte Gedanke, dass ein Schauspieler ein ganzes Theater sein kann. Trotz allem. Trotz allem! Trotz des Korsetts einer Nummernrevue, trotz der bunten Sachen auf den Körpern und neben den Körpern der Schauspieler, die nur umso deutlicher den eigentlich mausgrauen Stein unter dem bunten Farbanstrich zutage treten lassen. Inmitten dieser als bunte Travestieshow getarnten preußischen Kaserne war da eine eigene Stimme, ein eigener Körper, eigene Gefühle. Ja Leute, Gefühle, Soul. Und, schnallen Sie sich an: Denken, eigenes Denken. Auch wenn es anscheinend verboten ist, verrate ich es Ihnen heute: Ein Schauspieler wie Benny Claessens kann fühlen UND denken. Gleichzeitig! Und sich bewegen und sprechen und er kann sogar wild sein! Benny Claessens kann tatsächlich wild sein, chaotisch, irrational. Er kann wirklich so sein, wie all die Kulturwissenschaftler in ihren Proseminaren, die jetzt den Theaterbetrieb kapern, im Büro nicht sein können: wild, zart, ernst, liebevoll, geistvoll. Er kann Gefühlsgedanken haben, man kann mit ihm träumen. Und er kann richtig gut singen. Er kann so singen, dass ich (fast) weinen muss. Ist das falsch? Im Theater zu weinen? Nein, natürlich nicht, wie krank wäre die Verneinung dieser Frage. Warum wäre es falsch, im Theater zu weinen, wenn Benny Claessens singt? Und – ganz ganz wichtig – er langweilt nicht. Man schaut ihm zu, man ist MIT ihm und ein unbewusster Dialog, den er zulässt, den er anstößt, beginnt und dann – langweilt er einfach nicht. Denn das wissen wir: Denen, die langweilen, kann man nur schwer verzeihen. Wenn Benny Claessens die Bühne verlässt, ist man traurig, es hätte ruhig noch viel länger weitergehen können, ganz ohne Frösche und Mikroport. Und er ist widersprüchlich, Benny Claessens, er ist sozusagen nicht bruchfest. Denn ist es nicht so, dass nur bei den flachen Wahrheiten das Gegenteil falsch ist und bei den tiefen Wahrheiten auch das Gegenteil wahr? Benny Claessens ist nicht so furchtbar selbstgewiss, wie es die Inszenierung (und vermutlich auch der Text) selbst war, in der er auftrat, wie es (fast) alle Inszenierungen waren, die ich sehen durfte, er widersteht den Vereinfachungen durch sein Da-Sein, im Theaterraum.

Was ist denn Theater, was kann denn Theater für uns sein? Theater kann ein kultischer Raum sein, ein Raum, in dem für einen Moment die existenzielle Einsamkeit jedes Einzelnen in diesem darwinistischen Gesamtalptraum kollektiv spürbar wird, in dem Brücken geschlagen werden, in diesem Raum, für diesen Moment, lauter kleine zerbrechliche Brücken zwischen all diesen Individuierten, in ihrer eigenen existenziellen Notsituation Versammelten, und für diesen kurzen Moment kann die Ahnung von Gemeinschaft, von einem gemeinsamen Träumen von Individuen entstehen, die alle in unterschiedlicher Art und Weise Schmerz empfinden, die alle in unterschiedlicher Art und Weise in Reibung zum gesellschaftlichen Kollektiv stehen. Der Schauspieler aber könnte in diesem Sinne dann ein Lebensmedium sein, für alle, die noch nicht erloschen sind und deren Blick nicht Benny Claessens Präsenz verpasst. Diese erloschenen Leute, denen Benny Claessens vielleicht oft in München an den Kammerspielen begegnet oder eben nicht begegnet ist, sind die, die Friedrich Hebbel im Blick hatte, als er sagte: Es gibt Menschen, die stehen vor dem Meer und sehen nur die Schiffe, die darauf fahren und auf den Schiffen nur die Waren, die sie geladen haben. Dieser Blick wirft alles heraus, was keinen Materialcharakter hat und dieser Blick verhindert auch den Dialog. Dabei, so habe ich es EMPFUNDEN, ist doch Benny Claessens dieser Dialog so existenziell wichtig, Benny Claessens kreist nicht um sich selbst, wie das Theater gerade um sich selbst kreist im Moment. Eine große Verwirrung in den Geisteswissenschaften seit ihrer Entstehung im frühen 19. Jahrhundert liegt in der Annahme, dass weil unsere Instrumentarien die Begriffe, also cartesianische Instrumente sind, müssen auch die Objekte ausschließlich cartesianische sein. Alles, was Gegenstand der Geisteswissenschaften sein könnte, und eben also auch Gegenstand der Theaterkritik, wird durch die Konzentration auf Sinnzuschreibungen, auf Interpretierbares ausgeschlossen, alle ästhetische Erfahrungen, die nicht im Lesen bestehen. Der ästhetischen Erfahrung der Stimme, des Körpers, der eigenen Schönheit von Schauspielern kommen wir mit Sinnzuschreibungen nicht nahe. Ich könnte jetzt sagen, da wäre bei Benny Claessens etwas Zerbrechliches, Weiches, Berührbares, Grobes, Wildes, Feines, das mag alles sein, das mag alles stimmen oder auch nicht, das ist nicht wichtig, denn darum geht es nicht. Denn es ist eben etwas spürbar, dass zutiefst künstlerisch ist – künstlerisch in dem Sinne, dass es das Zweckmäßige ohne Zweck ist, etwas, das sich unserer Definition entziehen möchte und auch entzieht.

Wenn man Benny Claessons auf der Bühne erfährt, drängt sich vielleicht am ehesten und am verbindlichsten ein Begriff auf, den die Deutsche Gesellschaft für Theaterpathologie, wenn es sie gäbe, erst noch exhumieren musste, damit er überhaupt in dieser Rede auftauchen könnte: Poesie. Denn nicht die möglichst realistische Abbildung von Krisen ist primär politisch, sondern die Poesie ist es. Nichts scheint momentan politischer zu sein als Poesie. Sie ist da, dann wieder nicht. Sie befreit uns zur Spontaneität, Benny Claessens ist spontan! Und er hat sich den Raum dafür genommen, so wie es eben ging, ob gegen Widerstände, das weiß ich nicht, denn Schauspieler sind strukturell betrachtet nicht die Entscheider. Sollte es sich dann letzten Endes also gar nicht um eine Krise des Theaters, des künstlerischen Schauspielers handeln? Denn was ist eine Krise? Eine Krise ist eine Entscheidung ohne Entscheider. Aber es gibt sie ja, die Entscheider. Sie treffen nur leider anscheinend, im buchstäblichen Sinne an-scheinend, die falschen Entscheidungen, warum auch immer. Poesie aber, hilft uns Max Frisch in seiner eher unbekannten Poetikvorlesung „Schwarzes Quadrat“, ist zweckfrei, sie unterwandert ideologisiertes Bewusstsein, das macht sie subversiv. Sie ist unbrauchbar und arrogant. Eine Theateraufführung, ein Schauspieler muss uns nämlich nicht die Staatsverschuldung oder das Problem eines Endlagers für Atommüll erklären oder die Präsidentschaft Trumps mit Fröschen und Fernsehkommentatoren illustrieren. Denn das sind nur Angebote, sofort damit einverstanden zu sein. Was beschreibt Rilke, wenn er eine Skulptur von Rodin betrachtet: „Keine Stelle, die Dich nicht sieht“? Eine ästhetische Erfahrung, die den Betrachter, die Betrachterin so trifft, hat eine Wahrheit, die ich anders nicht erfahren kann. Und damit wir an der Wahrheit der Welt nicht zugrunde gehen, dafür brauchen wir die Kunst. Als Widerspruch zur Welt, als Beantwortung meiner eigenen Mangelerscheinung. Wir brauchen dafür künstlerische Schauspieler wie Benny Claessens, wir brauchen keine Reenactments (meinetwegen auch Reenactments, zur Abwechslung dann aber, nicht hauptsächlich), wir brauchen keine Förmchen, wir brauchen Denkformen und Fühlformen, die wir selber nicht aufbringen können. Ich brauche nicht die absichtsbetankte Form eines Regisseurs – denn was sagte Anthony Hopkins nochmal darüber, was ein Regisseur ihm überhaupt für einen Hinweis geben dürfe? Das müssen wir uns wieder ins Bewusstsein rücken: Ein Regisseur dürfe ihm nur sagen, ob „schneller oder langsamer“. Und das ist natürlich richtig – und falsch. Denn was wir brauchen ist die Begegnung, das Gemeinsame. Wir brauchen nämlich die eigene Form, zum Beispiel von Benny Claessens, seine Ästhetik, seine ganz eigene Schönheit, denn er ist schön, sein Da-Sein, seine spürbaren Bauprinzipien seines Bewusstseins, die dann auf dann auf die Bauprinzipien von Anderen (Bühnenbildner, Autor, Kostümbildner) treffen, damit etwas Drittes entsteht. Denn was Anderes ist Existenz als Da-Sein im Raum? Und wo anders lässt sich Da-Sein so verdichtet erfahren, erleben, erspüren, als Wahrheit, die wie der Blitz grell alles erleuchtet, um einen herum, in einem und eben dadurch und nur dadurch genauso schnell die absolute Dunkelheit erfahrbar macht? In der Musik natürlich, in der Literatur, im Theater. Wenn das in der Kunst schon nicht mehr stattfindet, als Gegenwelt zur durchrationalisierten, durchfunktionalisierten Schein-Wirklichkeit, ja wo denn dann? Jedenfalls nicht in der robotischen Wirkungsmechanik.

Könnte man sich vorstellen, dass Benny Claessens durch einen Roboter ersetzt werden könnte? Nein, nein, nein.

Lieber Benny, es gibt nur eine sichere Methode, die Zukunft vorauszusagen – gib ein Versprechen ab und halte es. Du bist das Versprechen des souveränen Schauspielers, der das Theater rettet, indem er das Theater wieder zu einem Ort der GEGENWELT macht, einem Ort, den eine Spannung senkrecht nach oben kennzeichnet, der voll von Welt ist, weil er Weltfremdheit zulässt, ein Ort, der nicht wie eine Dokumentation auf ARTE ist und auch keine nachgestellte Tagesschau, kein selbstgewisser Leitartikel, keine ostelbische Kaserne, kein Proseminar, keine schlechtgelaunte kritische Theorie, kein Regie-Gefängnis. Nur Gefängniswärter haben etwas gegen Eskapismus. Die Welt ist voll von Gefängniswärtern, denn die Welt ist voll von Kerkern. Das Theater aber – der Schauspieler, der Bühnenbildner, der Autor – das Theater könnte ein Fenster sein in diesen Kerkern, ein vergitterte Fenster zwar, aber immerhin. Das könnte das Theater sein. Und das Theater, das bist Du, Benny.

Herzlichen Glühstrumpf, Benny Claessens, zum Alfred-Kerr-Darstellerpreis 2018!

Fabian Hinrichs, geboren 1974, nahm zuerst ein Jurastudium auf, bevor er an die Folkwang Universität der Künste wechselte. Später studierte er Politikwissenschaften sowie derzeit Kulturwissenschaften. Sein erstes Theaterengagement führte Hinrichs noch während seines Schauspielstudiums ans Schauspielhaus Bochum. Von 2000 bis 2005 gehörte er dem Ensemble der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin an. Dort arbeitete er mit Regisseuren wie Leander Haußmann, Frank Castorf, Christoph Schlingensief und René Pollesch zusammen. Für seine Darstellung im Solostück „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“ von René Pollesch wurde er 2010 von der Zeitschrift Theater heute zum Schauspieler des Jahres gekürt. Die Inszenierung „Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia“, ebenfalls in der Regie von René Pollesch, wurde zum Theatertreffen 2012 eingeladen und Fabian Hinrichs erhielt für seine Soloperformance den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.
Seit 2005 arbeitet er auch an anderen Bühnen, wie u.a. an den Münchner Kammerspielen, dem Schauspiel Köln, dem Burgtheater Wien, den Wiener Festwochen und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
Seit 2008 schreibt und produziert Fabian Hinrichs eigene Theaterproduktionen: 2010/2011 „Ein Koffer voller Schmerzen“ (Sophiensaele, Berlin), 2012 „Die Zeit schlägt Dich tot” (Berliner Festspiele in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer, Berlin; Ringlokschuppen Mülheim; Stadsschouwburg Amsterdam; Le Maillon-Théâtre de Strasbourg; Kaserne Basel), 2013 „Ich.Welt.Wir – Es zischeln 1000 Fragen“ (Deutsches Schauspielhaus Hamburg), 2015 „Ich habe um Hilfe gerufen. Es kamen Tierschreie zurück“ (HAU Hebbel am Ufer, Berlin in Koproduktion mit Kampnagel, Hamburg; Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt).
Seit 2003 ist er in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, aktuell u.a. als Kommissar Felix Voss im „Franken-Tatort“. 2018 übernimmt er eine Hauptrolle in der Sky-Atlantic-Serie „Acht Tage“. Seine Darstellung des Hans Scholl in der Oscar-nominierten Produktion „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ erregte 2005 internationales Aufsehen. Für seine Kino- und Fernsehfilme wurde er mehrfach ausgezeichnet: 2010 erhielt er den Max-Ophüls-Sonderpreis Schauspiel für seine Leistung in dem Film „Schwerkraft“. 2014 erhielt er den Ulrich-Wildgruber-Preis für sein künstlerisches Schaffen als Schauspieler, Autor und Regisseur. Fabian Hinrichs ist Mitglied der Deutschen und der Europäischen Filmakademie.